Sellmann: In Kirchenkrise den Kern des Glaubens nicht vergessen

Die Christen in Deutschland sollen sich nach Auffassung des Theologen Matthias Sellmann nicht vom Missbrauchsskandal entmutigen lassen. "Ich glaube, dass wir gerade durch eine radikale Krise gehen", sagte er in einem Interview mit den Zeitungen der Verlagsgruppe Bistumspresse (Sonntag). "Aber ich glaube auch, dass es gut wäre, durch diese Krise hindurchzuschauen - und zu sehen, dass danach noch jede Menge übrigbleibt: der Kern unseres Glaubens und die christliche Botschaft."
Die ideale katholische Kirche ist nach Ansicht des Bochumer Pastoraltheologen fromm, geistlich und weise. Zugleich habe sie alle Reformen verwirklicht, die der Synodale Weg vorschlägt. Dazu gehörten verbindliche Beratungen, Entscheidungen und Wahlen durch Priester und Gläubige, ein anderer Umgang mit Finanzen, mehr Ökumene sowie Diakoninnen und Priesterinnen.
Gleichzeitig spielten Mystik, Spiritualität und Orden eine stärkere Rolle als heute, so Sellmann weiter. Zudem engagierten sich Christen noch stärker als Bürger und sprächen frischer und überzeugter über ihren Glauben. Entsprechende Impulse und Anregungen erhofft sich der Theologe von einer dreitägigen Konferenz Mitte September in Hannover. Bei der Veranstaltung mit dem Titel "Dennoch" sollten zudem Gäste aus dem Ausland erzählen, wie kirchliches Leben unter anderen Bedingungen funktioniert.
"Nichts hat mich bisher so fasziniert wie die Geschichten von Jesus"
Die aktuelle kirchliche Stimmung ist laut Sellmann schlecht. "Das dominierende Gefühl ist Erschrecken darüber, dass Missbrauch und seine Vertuschung etwas mit dem System von Kirche zu tun haben, nicht mit einzelnen Personen." Hinzu kämen enorme Ratlosigkeit, sehr viel Trauer sowie das Gefühl der Vergeblichkeit. "Viele Menschen strengen sich sehr an, in ihrer Familie, in ihrer Nachbarschaft, in ihrer Gemeinde für gute religiöse Erlebnisse zu sorgen - und merken doch, dass ihre Energien verpuffen."
Er selbst habe viel gelesen, gehört und gesehen, so der Theologe. "Aber nichts hat mich bisher so fasziniert und herausgefordert wie die Geschichten, Gedanken und Taten von Jesus. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die Jesus so geprägt hat, dass sie sehr frei, sehr großzügig und sehr unabhängig geworden sind. Das beeindruckt mich." (KNA)