Zivilcourage auf Gleis 1a
Die S-Bahn nähert sich schon, Severin Wobst hat keine Zeit zum Überlegen: "Ich habe alles von mir geschmissen und bin auf die Gleise gesprungen, um der Frau zu helfen." Das Schienenbett liegt etwa einen Meter tiefer als der Bahnsteig, dennoch hievt Wobst die Frau hoch. Eine junge Frau packt mit an. "Ich dachte zuerst, dass ich das nicht schaffe, doch die Energie dafür kam von ganz allein, als ich die S-Bahn kommen sah und das laute Bremsen hörte", sagt Wobst.
Ein Jahr später erinnert sich der junge Mainzer gut an das Blut auf Händen und dem Gesicht der Frau. Aber auch an die gaffende Menschenmenge. "Ich musste mir zunächst den Weg zum Gleis durch diese Leute bahnen." Wobst leistet nach der brenzligen Rettung auch noch erste Hilfe und versorgt schnell die blutenden Wunden der Frau. Danach kommen die Polizei und der Rettungswagen. Später im Krankenhaus stellt sich heraus, dass die 66-Jährige einen Schwindelanfall erlitten und das Gleichgewicht verloren hatte.
Viel Lob für die Rettung
Severin Wobst bekommt viel Lob für seine Rettung. Viele Zeitungen und das Fernsehen feiern ihn als Helden. Doch der Held selbst findet seinen Einsatz in letzter Sekunde selbstverständlich. "Ich würde heute genauso handeln und hoffentlich genauso schnell reagieren", sagt er mit fester Stimme. Auch wenn er seine Tasche und sein Handy, die er bei seinem Einsatz am Bahnsteig liegen lässt, nicht mehr wiederfindet.
Bis heute beschäftigt ihn die Frage, warum die meisten anderen Wartenden am Gleis nichts unternommen hatten. "Manche standen nur herum und gaben nutzlose Kommentare ab", sagt Wobst. Ein Kommentar eines Passanten schwirrt immer noch in seinem Kopf: "Da sagte einer, dass die Gleise unter Spannung stehen und man gar nichts machen kann." Warum sind manche Menschen so unwissend, fragt sich Wobst. "Die Züge in Deutschland fahren doch mit Strom aus der Oberleitung."
Soziale Aufmerksamkeit für andere Menschen
Zivilcourage und Nächstenliebe hat für Severin Wobst nichts damit zu tun, sich blind in jede Gefahr zu stürzen. Sondern mit sozialer Aufmerksamkeit gegenüber anderen Menschen. Seine Rettungsaktion brachte den Mainzer dazu, eine Internetseite auf Facebook zu gestalten. Das Motto: Zivilcourage für den Alltag, mit einfachen, aber wirksamen Mitteln. Zum Beispiel anderen Menschen die Tür aufhalten und andere vorlassen, wenn man es selbst nicht eilig hat. Oder älteren Leuten den Sitzplatz anbieten.
Die Tipps für mehr Aufmerksamkeit kamen gut an. Vor allem über das Feedback der vielen jungen Menschen hat sich Severin Wobst gefreut. Er hat selbst fünf Geschwister und hat teilweise die Jüngeren mit aufgezogen. "Die Haltung, die man früh anerzogen bekommt, die bleibt einem fürs Leben", sagt Wobst stolz.