150 Jahre nationale Lourdes-Wallfahrten

Für Frankreich und die eigene Seele beten

Veröffentlicht am 20.08.2023 um 00:01 Uhr – Von Alexander Brüggemann (KNA) – Lesedauer: 4 MINUTEN
Die beleuchtete Kathedrale hebt sich von dem tiefblauen Abendhimmel ab.
Bild: © KNA

Paris ‐ Für ungezählte Menschen war und ist der Pilgerort Lourdes eine Anlaufstation in Krisenzeiten. Zugleich, das zeigt die 150. Auflage von Frankreichs Nationalwallfahrt, ist Lourdes auch ein Spiegel der aktuellen Kirchenkrise.

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Um zum Kern einer Veranstaltung vorzudringen, hilft es oft zu ergründen, wie und vor allem warum sie entstanden ist. Selbst wenn sie sich seitdem verändert und womöglich in andere Richtungen entwickelt hat. So auch Frankreichs nationale Wallfahrt nach Lourdes, die jetzt ihren 150. Jahrestag erlebte. Für ungezählte Menschen war und ist der Marienpilgerort am Fuß der Pyrenäen eine Anlaufstation in Krisenzeiten; sei es in persönlichen, gesundheitlichen oder kollektiven gesellschaftlichen oder politischen Krisen.

Für Letzteres steht das Anfangsjahr 1873: Frankreich gedemütigt durch die Kriegsniederlage 1871 gegen das preußisch-protestantisch dominierte Deutschland und dem Verlust Elsass-Lothringens. In der Hauptstadt Paris wurde kurz nach Kriegsende Erzbischof Georges Darboy von der radikallinken Kommune erschossen. Der Kirchenstaat: hinweggefegt von der italienischen Einigungsbewegung unter Giuseppe Garibaldi; der Papst: ein "Gefangener im Vatikan".

Erste Nationalwallfahrt mit 500 Pilgern

Es war die hohe Zeit der "Sühnekirchen"; jener prächtigen Kirchbauten, mit denen die Nationen (oder ihre Katholiken) Buße für ihre Sünden tun wollten. Allen voran: Sacre Coeur auf dem Pariser Montmartre, mit der die neue konservative Regierung auch baulich die sozialistischen Widerstandsnester auf dem Stadthügel beseitigen wollte.

In diese allgemeine Depression des französischen Katholizismus hinein spricht der marienfromme Orden der Augustiner-Assumptionisten die Idee einer "nationalen" Pilgerfahrt nach Lourdes, um dort für Frankreich und seine Seele zu beten. Rund 500 Pilger folgen dem Aufruf; und in den folgenden Jahren erhält die Nationalwallfahrt rasch an Zulauf. Die bis heute frankreichweit verbreitete katholische Zeitschrift "Le Pelerin" (Der Pilger) entsteht aus dieser Bewegung.

150 Jahre später: Die Nationalwallfahrt 2023 nach Lourdes (11. bis 16. August) zählt rund 5.700 Anmeldungen - immerhin zwar das Elffache der allerersten Auflage. Allerdings sind es auch nicht mehr jene rund 30.000 Anmeldungen aus Spitzenzeiten, als die Kirchgänger im französischen Milieu sogar noch über den Sonntag hinaus zu mobilisieren waren. Zur Messe an Mariä Himmelfahrt am Dienstag (15. August) kamen laut Medienberichten mehr als 20.000 Gottesdienstteilnehmer; verglichen mit rund 16.000 im Jahr 2022.

Bild: ©KNA/Guillaume Poli/CIRIC

Die Marienstatue in der Grotte von Lourdes.

Immerhin: Auch wenn das Format der Nationalwallfahrt über 150 Jahre im Wesentlichen gleich geblieben ist, lässt es Raum für eine Vielfalt an Pilgern. Die Pilgerfahrt zum Fest Mariä Himmelfahrt gehört bis heute zu den seltenen Ereignissen, die eine Vermischung der verschiedenen Generationen ermöglicht. Nicht wenige zogen fast buchstäblich vom Weltjugendtag in Lissabon nach Lourdes weiter.

Und: Frankreichs Bevölkerung verändert sich rapide. Die keineswegs nur noch katholische Prägung spiegelt sich auch im allerkatholischsten Wallfahrtsort wider. Hierher kommen nicht mehr nur katholische Pilger, ob krank oder gesund; es kommen auch Orthodoxe und Christen aus dem Nahen Osten; auch wenig Religiöse auf der Suche nach Trost oder Sinn. Die Nationalwallfahrt, so sagen geistliche Begleiter, habe die Fähigkeit, eine große Zahl und Spannbreite von Menschen zu integrieren.

Lourdes heute Friedenssymbol

Nur zweimal in 150 Jahren fiel die Wallfahrt ganz aus. 1914 wurden im Zuge der allgemeinen Mobilmachung die Züge beschlagnahmt. Und 2020 verordnete die Covid-19-Krise dem gesamten gesellschaftlichen Leben einen kompletten Stillstand, auch dem kirchlichen.

Apropos Lourdes: Natürlich gibt es hier nicht nur die jährliche Nationalwallfahrt, sondern das ganze Jahr über internationale Pilgerfahrten wie die alljährliche Soldatenwallfahrt Ende Mai. Auch viele Gruppen aus Deutschland, dem früheren Erzfeind, reisen seit Jahrzehnten gern und viel zur Mariengrotte am Fuß der Pyrenäen.

Allerdings: Dass Lourdes - wohin die Franzosen 1873 mit einer nationalen Schmach im Gepäck pilgerten - heute im Angesicht eines neuen Krieges in Europa zu einem übernationalen Friedenssymbol würde, das über die Soldatenwallfahrt hinaus sichtbar ist, davon ist derzeit auch kirchlich nicht sehr viel zu hören. Zu sehr scheint die Kirche in Frankreich wie in Deutschland im eigenen Krisenmodus und im eigenen Saft zu schmoren.

Von Alexander Brüggemann (KNA)