Wie Psychotherapie und Spiritualität einander ergänzen können
"Ist ja interessant", "Das mag ich nicht", "Der redet Blödsinn" – Impulse wie diese verspürt jeder Mensch täglich hundertfach. Entscheidend ist, welchem Impuls man vertraut und folgt. Matthias Ennenbach ist Psychotherapeut und Arzt und hat einen eigenen Ansatz der buddhistischen Psychotherapie entwickelt. Eines der Ziele sei, Impulse einzuordnen, indem man etwa kurz prüft: "Spricht da die Stimme der Vernunft? Oder eher der innere Angsthase oder die innere Ignorantin?" Viele Menschen kommen nach seiner Erfahrung mit Fragen in eine Therapie. "Darf ich das?" oder "Was soll ich machen?" seien typische Beispiele dafür. Ennenbach: "Wer der Stimme der Vernunft folgt, kommt der Antwort näher."
Buddhistische Konzepte – allen voran die Achtsamkeit – boomen auch hierzulande. Und: "In Texten, die 2.500 Jahre älter sind als Sigmund Freud, findet sich bereits die Erkenntnis, dass viele unserer Probleme auf das Unbewusste zurückgehen", erklärt Ennenbach. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch die Psychologie verändert. Ging es früher vor allem darum, Schwierigkeiten zu behandeln, zielt man heute stärker auf die Stärkung von Ressourcen. "Man hat erkannt: Wenn man Störungen beseitigt, sind die Menschen trotzdem noch längst nicht glücklich."
Glaube, Liebe, Hoffnung als "Kompetenz"
Der Glaube – das bestätigen Studien – kann eine Ressource sein, um Widerstandskräfte zu stärken, um mit schwierigen Situationen umzugehen und um Dankbarkeit einzuüben. Andreas Walker, Berater und Begründer des Schweizer "Hoffnungsbarometers", findet viele Ideen der Positiven Psychologie bereits in der Bibel, wie er sagt. Die heilige Schrift des Christentums berichte "von einer brutalen Zeit", erklärt er. "Die Vorstellung, früher hätten die Menschen die Werte noch gelebt, kann sich eigentlich nicht auf die Bibel gründen. Umso erstaunlicher ist es, dass die spirituelle Botschaft eben nicht ist: 'Versteckt euch und flüchtet', sondern ein Gegenprogramm."
Die Kirche habe für viele Botschaften noch keine Sprache gefunden, fügt der Protestant hinzu. Dabei ließen sich die grundlegenden christlichen Werte – Glaube, Liebe, Hoffnung – durchaus als "Kompetenz" oder "Skill" betrachten, als praktische Fähigkeiten also, die sich aktiv trainieren ließen. "Im Volksmund bezeichnen wir vieles als Gefühle", erklärt Walker, beispielsweise: "Ich bin verliebt, glücklich oder hoffnungsvoll." Laut der modernen Psychologie handelt es sich aber nicht um Emotionen, sondern um Lebenshaltungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen. Konkret: "In wen ich mich verliebe, da ist ein gewisser Zufall dabei", räumt der Autor ein. "Aber wenn ich eine Ehe und eine Familie aufbauen will, dann muss ich diese Liebe praktizieren. Heute trennen sich viele Menschen, wenn das Gefühl der Verliebtheit nachlässt." Dabei könne man gezielt einüben, sich etwa gemeinsam zu freuen, friedfertig zu handeln, einander rasch zu vergeben oder sich gegenseitig zu ermutigen.
Die Psychologie habe den Menschen lange als "biologische Maschine" betrachtet, kritisiert Walker. Dabei sei Spiritualität keineswegs ein Luxus, betont Ennenbach – sondern ein Grundbedürfnis. "Wenn man andere Grundbedürfnisse nicht befriedigt – essen, trinken oder schlafen –, dann merkt man das nach ein paar Tagen. Wird die Spiritualität vernachlässigt, zeigt sich das eher schleichend und indirekt: in Lieblosigkeit, letztlich auch in Machtmissbrauch und Gewalt."
Ennenbach hält ein Zusammenspiel von Spiritualität und psychologischem Wissen daher für unabdingbar. Freilich gehe es für einen Therapeut oder eine Seelsorgerin nicht darum, zu belehren – sondern darum, von sich selbst auszugehen und dann in einen Austausch zu kommen, wenn es sinnvoll und stimmig sei. "Wer ängstlich oder sorgenvoll ist, braucht zunächst medizinische Unterstützung. Eine Öffnung zum Spirituellen kann vor allem für stabile Menschen befreiend sein." Zudem sei der Glaube nur dann eine hilfreiche Ressource, "wenn eine positive, von der Barmherzigkeit eines liebenden Gottes geprägte Religiosität besteht": Darauf weist die Psychologin und Theologin Christiane Blank hin. Eine von Angst und Schuldgefühlen geprägte Religiosität wirke dagegen kontraproduktiv.
"Mehr Verbundenheit und weniger Ego"
Auch bei kirchenfernen Menschen hätten sich mitunter "unbewusst negative Gottesbilder eingenistet", fügt Blank hinzu. Vielfach werde in solchen Fällen nicht erkannt, dass sich "keine drohende Stimme eines strafenden Gottes" melde, sondern vielmehr das "Über-Ich": Diese Instanz entwickelt sich laut Nervenarzt Sigmund Freud (1856-1939) durch die Identifizierung mit den Eltern, fungiert also als eine Art Gewissen und weist das Ich auf Fehltritte hin.
Darüber hinaus suchen viele Menschen heute Zuflucht in esoterischen Angeboten. Das kann laut Ennenbach problematisch werden, vor allem dann, wenn Betroffene sich abschotten und von einer Überprüfbarkeit bestimmter Methoden nichts mehr wissen wollen. Wichtig sei, "mehr Verbundenheit und weniger Ego" zu ermöglichen. "Viele möchten nicht mehr blind glauben, sondern eigene Erfahrungen machen. Die körperlich-sinnliche Erfahrung könnte ein Grund dafür sein, warum Yoga so beliebt ist – und genau dieser Aspekt fehlt bei Religion und Kirche bisweilen."