Heilige und Häretiker: Der schmale Grat der Mystik
Abgeschiedenheit und eine allzu gute Kenntnis der Naturheilkunde: Diese Kombination konnte einer Frau früher schnell zum Verhängnis werden. Hildegard von Bingen (1098-1179) aber durfte ihre prophetischen Visionen sogar mit päpstlicher Erlaubnis aufschreiben. Die Geschichte zeigt die Gratwanderung zwischen Heiligkeit und Häresie – und wie unterschiedlich die Urteile ausfallen können.
Kirchenlehrerin und Kräuterkundige – Hildegard von Bingen
In Briefen betont Hildegard immer wieder ihren geringen Bildungsstand und ihre unzureichende Bibelkenntnis. Tatsächlich aber hatte sie im Kloster lesen und schreiben gelernt und beherrschte sogar ein wenig Latein. Die Kirchenhistorikerin Elisabeth Gössmann erklärt gegenüber deutschlandfunk ihre vermeintliche Bescheidenheit so:
"Da es für Frauen nicht möglich war, als Autorinnen in der theologisch-philosophischen Gelehrsamkeit aufzutreten, suchten sie nach einer anderen Gelegenheit, ihre Meinung zu den heiß diskutierten Fragen ihrer Zeit beizusteuern, und fanden diese nur im Rahmen visionärer mystischer Schriften." Die Frauen hätten dabei selbst ausdrücklich betont, dass ihre Werke eigentlich von Gott stammten.
Immer wieder betonte Hildegard den göttlichen Ursprung ihrer Visionen. Auch deswegen bezeichnete sie sich selbst als "Posaune Gottes". Sie sah sich als Klangkörper für Gottes Wort – als echte Prophetin eben.
Außerdem rechtfertigte sie sich so gegenüber kritischen Anfragen nach dem Ursprung ihrer Visionen. Während zu ihrer Zeit eher die Sorge bestand, der Teufel könne hinter ihren Visionen stehen, fand die Medizin Jahrhunderte später eine ganz andere Erklärung. Der britische Neurologe Oliver Sacks hat dazu heute eine ganz eigene Theorie: Die Beschreibungen in ihren Büchern und Briefen interpretiert er als eine starke Migräne mit halluzinatorischen Lichtphänomenen.
Zu ihrer Zeit übernahm die Antwort eine päpstliche Kommission. Nach einer Überprüfung durch eine päpstliche Kommission erteilte Papst Eugen III. höchstpersönlich die Erlaubnis zur Veröffentlichung ihres Buches. So konnte Hildegard zu einer Autoritätsperson der Kirche werden. 2012 erhob Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen dann sogar als eine von nur wenigen Frauen zur Kirchenlehrerin. Vor der Verleihung dieses Titels wird genau überprüft, ob die grundlegende Lehre der Person rechtgläubig ist. Damit ist klar: Hildegard steht auf den Grundpfeilern der katholischen Lehre.
Meister und Mystiker – Eckhart von Hochheim
Weniger Erfolg hatte der Dominikanermönch Eckhart von Hochheim (um 1260-1328). Er ist wegen seiner umfassenden und einflussreichen Theologie heute vielen als "Meister Eckhart" bekannt. Wie Hildegard vor ihm gilt er als bedeutender Mystiker und war studierter Magister der Theologie.
Wie alle Mystiker war der Dominikaner auf der Suche nach einem spirituellen Weg, der das Göttliche unmittelbar erfahrbar machen sollte. Immer wieder betonte er den Gegensatz zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen. Er wollte deutlich machen, dass die Welt und alles in ihr allein der Schöpfermacht Gottes zu verdanken sind. In einigen seiner Predigten formulierte er das aber so, dass es zu Missverständnissen kam.
Obwohl er bereits damals als bedeutender Theologe galt, wurde er mit über 60 Jahren von zwei Mitbrüdern der Ketzerei bezichtigt und die Inquisition eröffnete ein Verfahren gegen den Ordensmann. Anklagepunkt waren Sätze Eckharts wie "Alle Kreaturen sind ein reines Nichts", weil sie aus Sicht seiner Kritiker die Schöpfermacht Gottes leugneten. Also das genaue Gegenteil seiner eigentlichen Intention.
Wie Hildegard ging Eckhart die Sache geschickt an und verkündete bereits während des Prozesses: Sollte die Inquisition einen Irrtum in seinen Aussagen finden, dann widerrufe er diese bereits jetzt. So konnte er nicht mehr der Ketzerei, also dem Beharren auf häretischen Aussagen, angeklagt werden. Eine Verurteilung hätte sonst die Todesstrafe bedeutet.
Im hohen Alter machte er sich auf die weite und beschwerliche Reise ins französische Avignon, dem damaligen Papstsitz. Obwohl er widerrufen hatte, verteidigte er hier ausführlich seine Aussagen. Das Verfahren endete mit einer Verurteilung aller 28 angeklagten Sätze.
Die Argumentationen beider Seiten sind dabei noch heute gut erhalten und zeigen: Trotz jahrelangen Verhandelns, war die Inquisition in keinem Punkt bereit, auch nur ein klein wenig von ihrem bereits getroffenen Urteil über seine Aussagen abzuweichen. Meister Eckhart versuchte vor allem zu erklären, dass seine Ansichten auf der katholischen Lehre basierten und nur missverstanden worden seien. Aber auch das war ein Grund für eine Verurteilung.
Ein Häretiker ist der auch heute noch als großer Theologe geltende Meister Eckhart dennoch nicht. Mit seinem "prophylaktischen Widerruf" gab sich Papst Johannes XXII. schließlich zufrieden – vielleicht auch, weil Eckhart bereits ein Jahr zuvor verstorben war.
Hysterische Passion? – Therese Neumann
Aber nicht nur kirchliche Behörden stellen Mystiker auf den Prüfstand: 1927 reiste der damalige Protestant und Journalist Fritz Gerlich ins bayerische Konnersreuth, um einen vermeintlichen Schwindel aufzudecken. Die junge "Resl" schaute dort seit einem Unfall jeden Freitag die Passion Christi und blutete dabei aus mehreren Wunden den Stigmata ähnlich.
Anders als bei Hildegard von Bingens möglicher Migräne lebte Therese Neumann in einer Zeit, die sich bereits mit zu ihrem Verhalten passenden Krankheitsbildern beschäftigte. Nach Sigmund Freud wurden viele psychische Erkrankungen jedoch noch unter dem Oberbegriff "Hysterie" zusammengefasst. "Resls" Verhalten außerhalb ihrer Visionen schien dazu aber nicht zu passen. An diesen Tagen wirkt sie auf Gerlich und zahlreiche andere Beobachter des Phänomens "völlig unauffällig". So überzeugte die junge Mystikerin viele Kritiker. Gerlich selbst konvertierte 1931 sogar zum römisch-katholischen Glauben.
Wenig überzeugt von ihren Wundertaten und Visionen blieb allerdings lange die Kirche selbst, obwohl ab 1926 der Pilgerstrom an Therese Neumanns Bett nicht abzureißen schien. Mehrfach verweigerte sich Therese allerdings länger anhaltenden medizinischen Untersuchungen zu ihren Hungerwundern. Auch bei ihren vielen vermeintlichen Wunden ließ sie nur an den Händen Untersuchungen zu.
„Ihr zwei müsst kämpfen. Helfen wird es ja nichts, aber ihr müsst es doch tun.“
Anders als Hildegard schrieb "Resl" keine theologischen Werke, nutzte ihre Visionen aber trotzdem als Gelegenheit, sich zu den Fragen ihrer Zeit zu äußern. So forderte sie den mittlerweile konvertierten Gerlich und einen befreundeten Priester zum Widerstand gegen das Nazi-Regime auf: "Ihr zwei müsst kämpfen. Helfen wird es ja nichts, aber ihr müsst es doch tun!" Der Herausgeber der Widerstandszeitung "Der gerade Weg" wurde 1934 im KZ ermordet.
Sowohl für Fritz Gerlich, als auch für Therese Neumann laufen aktuell Seligsprechungsverfahren. 2016 konnte der bekannte Kriminalbiologe Mark Benecke nachweisen, dass die vermeintlich wundersamen Blutungen eine "absichtlich täuschende Spurenlegung" sind. Trotzdem gibt es noch heute zahlreiche Menschen, die an die Wunder der "Resl von Konnersreuth" glauben.
Menschen wie Hildegard von Bingen, Meister Eckhart und Therese Neumann zeigen, wie verschieden der Weg zu Gott für einen Mystiker sein und wie unterschiedlich die Auseinandersetzung mit den kirchlichen Behörden ablaufen kann. Während Hildegards Visionen durch päpstliche Autorität bestätigt wurden, setzte sich Meister Eckhart durch seine bedeutende Theologie trotz der Häresieanklage als wichtige Autorität der Kirche durch. Und "Resl" konnte vielleicht nie die kirchlichen Behörden überzeugen, erfreut sich aber noch heute großer Beliebtheit bei vielen Frommen.