Sant'Egidio-Generalsekretär: Vor Weltlage nicht resignieren
Vom 10. bis 12. September findet in Berlin das 37. Friedenstreffen der katholischen Laiengemeinschaft Sant'Egidio statt. In einer Zeit multipler Krisen sei die Versuchung groß zu resignieren, sagte Generalsekretär Cesare Zucconi. Daher trage das diesjährige Treffen auch das Motto: "Den Frieden wagen".
Frage: Vom 10. bis 12. September wird das von Sant'Egidio organisierte Friedenstreffen stattfinden. Dieses Jahr wurde Berlin als Veranstaltungsort gewählt. Bei den vielen Krisen, die derzeit auf der Welt herrschen – wo wird der Fokus des Friedenstreffens liegen?
Zucconi: Wir kommen in Berlin zusammen, in einer Stadt, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten so viele Dramen erlebt hat. Um nur ein paar zu nennen: Da waren die Weltkriege, der Totalitarismus, die Schoah, die Trennung. Aber Berlin ist auch die Stadt, in der eine Mauer gefallen ist. Und das auf friedliche Weise, ohne Blutvergießen.
Das Treffen in Berlin bedeutet also auch, dass wir sagen: Wir müssen mehr wagen. Das ist auch der diesjährige Titel des Treffens: "Den Frieden wagen." Wir müssen wagen, dass Mauern fallen.
Frage: Welche Mauern meinen Sie?
Zucconi: Ich denke dabei an manche unsichtbare Mauer, die Mauer des Krieges in Europa, aber auch weltweit. Wir erleben nicht nur die russische Aggression gegen die Ukraine, die in der ukrainischen Bevölkerung großen Kummer, unfassbares Leid und Sorgen schafft. In Syrien herrscht auch nach zwölf Jahren noch immer Krieg. Und es gibt die vielen Kriege in Afrika, die nicht zu Ende gehen, und neue, die beginnen. Ich denke aber auch an die physischen Mauern, die gegenüber Migranten und Flüchtlingen aufgebaut werden und die unseren Kontinent immer mehr zu einer Festung machen. Und nicht nur unseren, sie sind beispielsweise auch in Amerika zu finden.
Frage: Sie haben bereits das Motto des Treffens angesprochen: "Den Frieden wagen". Es klingt fast, als wäre es ein Risiko, sich auf den Frieden einzulassen. Warum muss man Frieden "wagen"?
Zucconi: Wir leben in einer Zeit, die so stark vom Krieg geprägt ist, dass die Versuchung groß ist, einfach zu resignieren, den Krieg als etwas zu sehen, das uns immer begleiten und das Leben der Menschen bestimmen wird. Wir leben im Nebel des Krieges, wir sehen den Frieden nicht mehr als ein mögliches Szenario für unsere Zukunft.
Aber wir müssen uns auch fragen: Können wir wirklich nicht mehr tun für den Frieden? Wurde wirklich alles versucht?
Frage: Sie meinen die Politik?
Zucconi: Ich meine dabei nicht nur von der Politik. Ich meine auch von den Gläubigen aller Religionen und religiösen Überzeugungen. Bei dem Friedenstreffen in Berlin kommen Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen, Menschen unterschiedlicher Kulturen treten in den Dialog, sie hören einander zu in einer Umgebung, die von einer freundschaftlichen Stimmung geprägt ist. Es ist ein großer Moment der Begegnung. Und es geht nicht darum, über den interreligiösen Dialog zu sprechen. Sondern wir wollen uns gemeinsam, Männer und Frauen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Kulturen, den Herausforderungen unserer Zeit stellen, aufeinander hören, nach Wegen und Antworten suchen. Wir wollen nach dem Frieden suchen.
Frage: Wer wird alles teilnehmen an dem Friedenstreffen?
Zucconi: Ich glaube, alle müssen in diese Suche involviert sein. Hochrangige Politiker werden teilnehmen, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz. Auch der Präsident von Guinea-Bissau, Umaro Sissoco Embaló wird kommen, sowie zahlreiche Vertreter der Zivilgesellschaft: Männer und Frauen, die sich dort, wo sie leben, einsetzen für die Ärmeren, für diejenigen, die in einer Notsituation sind. Eine junge Frau aus Afghanistan wird bei der Eröffnung sprechen und uns das Leiden ihres Landes nahebringen, eines Landes, das wir in Europa vergessen haben.
Frage: Wer wird noch sprechen?
Zucconi: Auf einem Podium, das besonders jungen Leuten gewidmet ist, werden sowohl eine junge Ukrainerin sprechen als auch ein Priester aus Mexiko, der sich sehr um die Aufnahme südamerikanischer Flüchtlinge bemüht, die versuchen, nach Nordamerika zu gelangen. Er sieht sich deshalb täglichen Bedrohungen ausgesetzt. Diese Stimmen bringen uns das Leiden der Welt nahe. Wir sind oft etwas abgestumpft – es gibt so viele Krisen, dass wir nicht wissen, was wir überhaupt dagegen tun können. Aber da sind Menschen, die sich einsetzen, obwohl ihr Leben bedroht wird. Selbst in der schwierigsten Situation kann man etwas tun.
„Wir sind keine Pazifisten, keine Ideologen. Wir glauben, der Frieden und der Dialog sind der einzige Weg und das einzige Ziel, das der Menschheit überhaupt eine Zukunft ermöglichen kann.“
Frage: Dann ist das Treffen auch eine Art Ermutigung?
Zucconi: Ja, es ist eine Ermutigung an diese Menschen, aber auch eine Ermutigung an uns. Man muss immer an den Frieden glauben und daran, dass der Frieden möglich ist. Wir dürfen nicht resignieren.
Das ist kein Mantra. Natürlich kommt diese Überzeugung aus unserem Glauben als Christen, denn wir sind Jünger des Friedensfürsten. Aber sie kommt auch aus einer realistischen Haltung. Wir sind keine Pazifisten, keine Ideologen. Wir glauben, der Frieden und der Dialog sind der einzige Weg und das einzige Ziel, das der Menschheit überhaupt eine Zukunft ermöglichen kann.
Frage: Die Gemeinschaft Sant'Egidio ist unter anderem für ihr Handeln in der Flüchtlingskrise bekannt. Wie viele Menschen wurden bereits über die humanitären Korridore auf sicherem Weg nach Europa gebracht?
Zucconi: Bis heute sind es etwa 7.000 Menschen, die auf diesem Weg nach Europa gekommen sind. Ich möchte betonen, dass die humanitären Korridore ein ökumenisches Projekt sind, das wir zusammen mit den Protestanten machen – sie sind ein wichtiges Zeugnis für eine ökumenische Zusammenarbeit. Das ist ein gelungenes Modell, eine Best Practice, die zeigt, dass es eine Alternative zu diesem tragischen Geschehen im Mittelmeer gibt, eine sichere Alternative, die auch den Schleppern ihre Beute wegnimmt. Und diese humanitären Korridore sind ein Beispiel der Synergie, der Zusammenarbeit zwischen Politik und Zivilgesellschaft. So ein komplexes Phänomen, wie das der Migration, kann eine Regierung nicht alleine schaffen.
Frage: Nicht nur Kriege führen heute zu großem Leid, auch die Klimakrise bedroht viele Menschen. Papst Franziskus hat bereits angekündigt, Anfang Oktober einen zweiten Teil seiner Enzyklika "Laudato si'" zu veröffentlichen. Wie präsent wird das Thema Klima auf dem Friedenstreffen sein?
Zucconi: Es wird extra ein Panel über die Klima- und Umweltkrise geben. Wir werden das sehr konkret thematisieren, um damit auch die religiösen Welten mehr in Bewegung zu setzen und ein Bewusstsein für die Herausforderungen zu schaffen und zu verbreiten. Ich glaube, dass sich auch in den religiösen Welten besonders mit der Corona-Pandemie einiges getan hat. Es gibt die Wahrnehmung, dass wir in einem Boot sitzen und dass wir stärker gemeinsam rudern müssen. Auch wenn es noch immer Menschen gibt, die die Klimakrise leugnen.
Frage: Ist dieser zweite Teil von "Laudato si'" von Papst Franziskus ein Zeichen, dass sich die katholische Kirche der aktuellen Krisen bewusst ist?
Zucconi: Es sind große Fragen, die man schnell angehen muss. Ich denke, hier ist Papst Franziskus sehr bemüht und ich glaube, er hat auch sehr viel getan, was auch in der katholischen Kirche zu einer starken Wahrnehmung für diese Herausforderung geführt hat. Auch in der Perspektive, dass der Mensch und die Schöpfung zusammengehören: Bewahrung des Menschen gleich Bewahrung der Schöpfung.
Frage: Das Treffen in Berlin ist das 37. Friedenstreffen, das die Gemeinschaft Sant'Edigio organisiert. Gab es schon einmal ein Jahr, in dem so viele Krisen zeitgleich herrschten wie 2023?
Zucconi: Ich denke, eine große Krise war in der Zeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Als wir damals weitergemacht haben, haben wir viel Gegenwind bekommen. Einer der freundlichsten Ausdrücke war: Ihr seid naive Idioten. Weil wir weiter an einen Dialog mit den Muslimen geglaubt haben, an eine gemeinsame Zukunft.
Wir haben hartnäckig weitergemacht und ich glaube, heute sieht man die Früchte davon. Zum Beispiel wird auch der Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb nach Berlin kommen, der in Abu Dhabi 2019 zusammen mit Papst Franziskus das "Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt" unterzeichnet hat.
Frage: Für Sie ist das Friedenstreffen also ein Beispiel für gelungene Ökumene?
Zucconi: Ja, vor allem der Abschluss der Veranstaltung am Dienstag, wenn die unterschiedlichen Religionen für den Frieden beten werden. Zwar an getrennten Orten, je nach der religiösen Tradition, aber das ist auch der Geist von Assisi: Es geht nicht um einen Obstsalat der Religionen, sondern darum, dass jeder sich mit seiner Identität einbringt.