Neuer Leiter über den Umgang mit Flüchtlingen und die Rolle der Kirche

Jesuiten-Flüchtlingsdienst: Politik verfolgt Agenda der Abschreckung

Veröffentlicht am 10.09.2023 um 11:40 Uhr – Von Lilli Feit – Lesedauer: 
Bruder Michael Schöpf
Bild: © Jesuiten

Bonn/Rom ‐ Der Deutsche Michael Schöpf ist der neue Leiter des Jesuiten Flüchtlingsdienstes in Rom. Im Interview erzählt er, wie die Begegnung mit Menschen zur Quelle der Hoffnung werden kann und warnt vor einer schleichenden Erosion des Rechtsstaats.

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Der Jesuitenflüchtlingsdienst hilft nach eigenen Angaben jährlich rund 680.000 Schutzsuchenden in knapp 60 Ländern. Deren neuer Leiter, Michael Schöpf erklärt im Interview, warum sich Deutschland keine Abschaffung des Asylrechts leisten kann und wie er die Reform des EU-Asylsystems sieht.

Frage: Herr Schöpf, Sie treten Ihr Amt in schwierigen Zeiten an. Immer mehr Menschen fliehen durch Krieg, Hunger und die Auswirkungen des Klimawandels. Was motiviert Sie angesichts dieser Herausforderungen?

Schöpf: Für mich ist die Begegnung mit Geflüchteten meine Quelle der Motivation. Ich habe die Hoffnung, dass eine andere Welt entstehen kann, wenn wir uns auf menschliche Beziehungen einlassen. Dafür braucht es einen Dialog. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst wurde gegründet, um Flüchtlinge in ihrer Notsituation zu begleiten und mit ihnen zusammen zu fragen: Was könnten die nächsten Schritte im Hinblick auf die Zukunft sein, für sie und für uns?

Frage: In Deutschland weht ja derzeit ein eher konservativer Wind mit Blick auf das Asylrecht. Der CDU Vorsitzende Merz hat eine Obergrenze für Zuwanderung gefordert und sich hinter Forderungen zur Abschaffung des Asylrechts gestellt. Die Bundesregierung stimmte diesen Sommer den EU-Asylrechtsreformen zu, die von Kritikern als Verschärfung des Rechts auf Asyl bewertet werden. Sehen wir hier einen Trend hin zur Abschottung in der EU?

Schöpf: In jedem Fall wird eine Szenerie der Abschreckung für die Geflüchteten aufgebaut. Aber eine Abschaffung des Asylrechts ist etwas, was wir uns gerade als Deutsche auch in der historischen Perspektive nicht leisten können. Denn das internationale Flüchtlingsregime entstand vor der Erfahrung des Holocaust. Die Forderung nach der Abschaffung von Grundrechten gefährdet außerdem auch unseren Rechtsstaat und verändert uns ganz wesentlich als Gesellschaft. Solche Veränderungen beginnen vielleicht mit Geflüchteten, aber die Ausgrenzung kann sich auch schnell gegen andere Gruppen wie die LGBT-Community richten und ganz leicht weitere Kreise ziehen.

Frage: Also im Grunde der Appell "Wehret den Anfängen"?

Schöpf: Ja, wir dürfen uns nicht abschotten, sondern müssen einander begegnen.

Die Flaggen der Europäischen Union.
Bild: ©artjazz/Fotolia.com

Kritiker sehen die EU-Asylrechtsreformen als als Verschärfung des Rechts auf Asyl.

Frage: Die Reform des EU-Asylsystems ist das Ergebnis harter Verhandlungen. Einerseits forciert man die Verschärfung der Bedingungen für Asylsuchende, andererseits müssen Länder, die die Aufnahme von Geflüchteten verweigern, in Zukunft mit für ihre Versorgung aufkommen. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in diesem neuen System?

Schöpf: Das derzeitige System ist klar unzureichend und eine europäische Einigung schon lange notwendig. Aber der aktuelle Reformvorschlag dient einer Agenda der Abschreckung und Ausgrenzung. Meiner Meinung nach wird die Unterbringung der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen auf haftähnliche Bedingungen hinauslaufen. Ein Freiheitsentzug ist aber eigentlich nicht zu rechtfertigen. Außerdem ist mit den neuen Schnellverfahren eine erhebliche Beschränkung des Rechtsschutzes verbunden. Man kann zum Beispiel gegen einen negativen Asylbescheid nicht mit aufschiebender Wirkung in Berufung gehen.

Durch die Aushebelung des Asylrechts werden Menschen für uns Deutsche und Europäer außerdem in die Unsichtbarkeit verbannt. Wenn Menschen in Zukunft in Tunesien oder in einem Lager an der Außengrenze der EU ihr Asylverfahren durchlaufen müssen, gibt es dafür kaum eine Öffentlichkeit. Angesicht der steigenden Gewalt weltweit müssen wir unsere Schutzinstrumente wie das Asylrecht deshalb hochhalten. Das gilt vor allem in der Krise und nicht nur in Zeiten, wo sie wenig gebraucht werden.

„Frauen und andere bisher benachteiligte Gruppen müssen unbedingt gleichberechtigt an der Gestaltung ihrer und unsrer aller Zukunft teilhaben.“

Frage: Ein anderes wichtiges Thema ist die Partnerschaft auf Augenhöhe. Wie beteiligen Sie Betroffene an der Konzeption und der Implementierung Ihrer Projekte?

Schöpf: Von unseren Mitarbeitenden ist etwa ein Drittel selbst geflüchtet. So zeigen wir gemeinsam, dass Geflüchtete nicht nur Hilfsempfänger sind, sondern Menschen, die mit Fähigkeiten und einem Reichtum an Erfahrung kommen. Denn viele Flüchtlinge bringen ja wertvolle berufliche Qualifikationen mit. Für uns sind dabei vor allem die Wegstationen der Flüchtenden wichtige Lernorte, weil bedarfsgerechte Angebote nicht allein auf dem Papier entschieden werden können. Zuletzt haben wir mit vielen Flüchtlingen an der ukrainisch-rumänischen Grenze gesprochen. Daraus hat sich in kürzester Zeit eine Reihe von Projekten entwickelt. Einige der Geflüchteten, vor allem Frauen, arbeiten jetzt als Übersetzerinnen, Lehrerinnen oder in der Wohnraumvermittlung mit uns zusammen.

Frage: In Deutschland haben wir ja derzeit zwei Ministerinnen, die sich den Feminismus auf die Fahnen geschrieben haben. Kann ein feministischer Ansatz in der Außen- und Entwicklungspolitik zu einer besseren Stabilisierung in Krisengebieten beitragen?

Schöpf: Frauen und andere bisher benachteiligte Gruppen müssen unbedingt gleichberechtigt an der Gestaltung ihrer und unsrer aller Zukunft teilhaben. Ich glaube, das geht sogar über einen klassisch feministischen Ansatz hinaus. Mir ist darüber hinaus wichtig, den ganzen Menschen zu sehen und nicht nur eine partielle Hilfestellung zu leisten, etwa in der medizinischen Versorgung oder der Bildung. Menschen sollen merken, dass sie gesehen werden und als ganze Person ernst- und wahrgenommen werden und sich als solche beteiligen können. Das verändert sehr die Perspektive, unsere eigene und die der Geflüchteten, die so neue Hoffnung und Kraft schöpfen können.

Frage: Kann man Ihre Arbeit also auch als eine Form der Seelsorge verstehen?

Schöpf: Auf alle Fälle. Zumindest wenn man die Seelsorge nicht in den Rahmen der Pfarreien pressen will. Für uns ist es sogar wichtig, dass unsere Arbeit immer auch ein spirituelles Element hat. Als junger Jesuit habe ich mal in einem Flüchtlingslager im Norden Ugandas gearbeitet, in dem sonntags die Messe gefeiert wurde. Das war für die Menschen von großer Bedeutung. Einige hatten schon ein ganzes Jahr keine Möglichkeit mehr gehabt, einen Gottesdienst zu feiern. Natürlich geht es hier nicht darum, irgendjemand katholisch zu machen, der es nicht ist und nicht sein möchte. Aber es zeigt, dass die Bedürfnisse der Menschen nicht in der Schule, im Krankenhaus oder im politischen Dialog enden. Es braucht auch jemanden, der mit der ganzen Person, ihren Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen in Verbindung treten kann.

Symbole für Islam, Judentum und Christentum
Bild: ©picture alliance/Photononstop/Fred de Noyelle/Godong

Der interreligiöse Dialog spielt eine wichtige Rolle in der Flüchtlingshilfe.

Frage: In der Entwicklungszusammenarbeit werden zunehmend auch religiöse Akteure als Multiplikatoren entdeckt. Welche Rolle spielt der interreligiöse Dialog bei Ihrer Arbeit?

Schöpf: In der Tat, nachdem sie lange ignoriert wurden, werden religiöse Akteure in den letzten zehn Jahren wieder stärker in Prozesse eingebunden. Weltliche Träger haben verstanden, dass sie bestimmte Menschen ohne Kirchen, Moscheegemeinden und andere nicht erreichen. Religiöse Gemeinschaften verfügen oft über sehr feine und weitreichende Netzwerke. Außerdem haben religiöse Akteure vor Ort oft eine besonders hohe moralische Autorität.

Der interreligiöse Dialog spielt bei uns aber schon in der alltäglichen Arbeit eine tragende Rolle. Wenn sie Geflüchtete begleiten, heißt das, dass sie mit der Person in eine Beziehung treten. Die Sorge etwa um Menschen, die mit ihren Säuglingen auf der Straße leben, beschäftigt sie besonders, wenn sie sie persönlich kennen. Häufig kommen einem dann Fragen nach dem Sinn des Leids. Warum muss eine Familie mit Kind auf der Straße wohnen, wo doch Gott eine ganz andere Zukunft für sie gedacht hat? Und wie kann ich als von Gott geschaffener Mensch darauf reagieren? Das sind keine theoretischen, sondern spirituelle Fragen und sie stellen sich quer durch die Konfessionen. Jede Religion kann dabei durch ihre Tradition andere Erfahrungen und Ressourcen beitragen, um damit umzugehen. Durch diese Gemeinsamkeiten erkennen wir uns über die Konfessionen hinweg als Menschen. Hier kann dann auch ein interreligiöser Dialog anknüpfen und geteilte Hoffnung entstehen.

Frage: Welche Rolle spielt dabei das Thema Versöhnung?

Schöpf: Die Versöhnung ist der Horizont unserer Arbeit. Wir suchen sie durch die Frage nach gerechten Beziehungen. Viele Politiker, die das neue europäische Asylsystem beschließen möchten, stellen diese Frage nicht. Sie beschäftigen sich mit technischen Details oder verfolgen politische Ziele, die ich als Agenda der Abschreckung beschrieben habe. Als Kirche ist es aber unsere Aufgabe, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Politik versucht Verfahren zu schaffen, um ihren politischen Willen umzusetzen. Dadurch schränkt sie ihren Handlungsspielraum ein. Als Christen müssen wir hingegen fragen, was möglich ist, um gerechte Beziehungen zu fördern.

Von Lilli Feit