Der letzte Fürstbischof der Welt – Andorra vor der Wende?
Unter den Zwergen ist Andorra ein Riese: Mit fast 500 Quadratkilometern Fläche ist das kleine Fürstentum in den östlichen Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien der größte der europäischen Zwergstaaten. In der vergangenen Woche feierte Andorra den 150. Jahrestag der Proklamation seiner Nationalheiligen, der Jungfrau von Meritxell. Dazu hatte sich hoher Besuch angekündigt – und zwar aus dem kleinsten der Zwergstaaten, dem Vatikan: Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin feierte die Festmesse.
Auf der politischen Agenda des Staatsbesuchs stand in erster Linie die Debatte um eine mögliche Entkriminalisierung von Abtreibung im Fürstentum. Andorra ist einer der letzten Staaten Europas, in denen Abtreibung fast völlig verboten ist. Eine andere Frage sollte ausdrücklich nicht besprochen werden: Die der Staatsform. Denn mit dem Vatikanstaat hat Andorra nicht nur die Mitgliedschaft im Club der kleinsten Staaten gemeinsam: Neben dem Vatikan ist das Fürstentum das einzige Land der Erde, dem ein katholischer Bischof vorsteht. Anders als der Papst in Rom muss dieser Bischof aber sein Amt teilen: Andorra hat gleich zwei Staatsoberhäupter – und keiner von ihnen lebt selbst dort. Kofürsten der parlamentarischen Monarchie sind der französische Staatspräsident als "copríncep laic" und der Bischof von Urgell, derzeit Joan Enric Vives i Sicília, als "copríncep episcopal".
Drohte Franziskus schon einmal mit dem Abzug des Kofürsten?
Dass die Frage nach der Abtreibung zugleich mit dem Amt des Kofürsten diskutiert wird, hat eine Vorgeschichte. 2018 berichteten französische Medien, dass der Papst dem damaligen Ministerpräsidenten gedroht habe, dass der Bischof von Urgell als Kofürst zurücktreten werde, wenn die Abtreibung legalisiert werde. In dieser Woche berichtete die römische Tageszeitung "Il Messaggero", dass auch der Kofürst selbst jüngst mit Rücktritt gedroht habe, wenn das Parlament ein Abtreibungsgesetz beschließt. Am Freitag zuvor versicherte Parolin, dass er zuversichtlich sei, dass in der Abtreibungsfrage eine "für alle zufriedenstellende Lösung" gefunden werden könne – demonstrative Einmütigkeit also.
Dazu gehörte wohl auch, dass die Institution des bischöflichen Kofürsten offiziell gar nicht auf der Agenda stand. Dieses Amt ist eigentlich aus der Zeit gefallen: Er ist der einzige und letzte Fürstbischof der Welt. Im nächsten Jahr wird er 75. In diesem Alter ist er laut Kirchenrecht gehalten, dem Papst seinen Rücktritt anzubieten – und das sorgt für Spekulationen im Fürstentum ebenso wie in seiner spanischen Diözese, die weitaus größer ist als Andorra. In den lokalen Medien wurde im Vorfeld des Besuchs von Parolin vermutet, dass das besondere Arrangement des Fürstentums dem Papst auch abseits der Abtreibungsfrage ein Dorn im Auge sein könnte, dass sich die Bescheidenheit von Franziskus nicht recht verträgt mit einem Fürstbischof. Kurz: Dass mit dem Ende der Amtszeit des derzeit letzten Fürstbischofs auch der letzte Fürstbischof überhaupt abtreten könnte.
Einen geistlichen Fürsten hat Andorra schon sehr lange: 1133 verkaufte der damalige Herrscher, Graf Ermengol VI. von Urgell, den Landstrich an dem Bischof von Urgell, der die Verwaltung der Adelsfamilie Caboet als Vasallen anvertraute. Als die letzte Erbin dieser Familie im Jahr 1185 einen Katharer heiratete, kam es zum Konflikt: Die Katharer, eine radikale christliche Splittergruppe, wollten von der katholischen Kirche, ihrer Theologie und ihrem Klerus nichts wissen – und der neue Herr von Andorra, Vizegraf Arnau von Castelbon, wollte kein Vasall eines Bischofs mehr sein. Der Konflikt wurde erst 1278 mit dem "Pareatges-Vertrag" beigelegt: Bischof Pere d'Urtx und der Graf von Foix, Roger Bernard III., der amtierende Nachfolger des Vizegrafen von Castelbon, einigten sich im Frieden von Lleida darauf, die Herrschaft zu teilen.
Lange Geschichte und späte Souveränität
Dass heute der französische Staatspräsident einer der beiden Kofürsten ist, liegt an der Erbfolge des Grafen und der Rechtsnachfolge in Frankreich: 1589 wurde der damalige Graf von Foix als Heinrich von Bourbon König von Frankreich – damit war die Herrschaft über Andorra bei der französischen Krone, was erst durch die Französische Revolution unterbrochen wurde. Frankreich widerrief alle Privilegien Andorras und behandelte das Fürstentum faktisch als Teil des eigenen Staatsgebiets. Napoleon Bonaparte stellte schließlich 1806 den alten Status wieder her und verband das Kofürstentum mit dem jeweiligen französischen Staatsoberhaupt.
Viel zu tun haben die jeweiligen Kofürsten miteinander nicht: Als 1973 Bischof Joan Martí Alanís den französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou traf, war dies das erste Treffen von Kofürsten seit 1278. Heute beauftragten die Kofürsten jeweils einen persönlichen Vertreter, der alle Amtsgeschäfte übernimmt, die ein Kofürst nicht zwingend selbst machen muss. Der französische Präsident residiert in Paris, der Bischof in La Seu d’Urgell in Katalonien.
Trotz der langen Geschichte wurde Andorra erst 1993 wirklich ein souveräner Staat: Die erste eigene Verfassung machte das Fürstentum zu einem "parlamentarischen Kofürstentum". Zuvor war die Gegend nur ein Kondominium, ein Gebiet unter der gemeinsamen Herrschaft mehrerer Herren, aber ohne eigene Staatlichkeit, so wie heute noch die Isle of Man britischer Kronbesitz ist. Die Kofürsten bilden seit 1993 "gemeinsam und untrennbar das Staatsoberhaupt und sind für seine Repräsentation auf höchster Ebene verantwortlich", heißt es in der Verfassung. Ihre Funktion ist größtenteils repräsentativ, während die eigentlichen Regierungsgeschäfte von einem Ministerpräsidenten geführt werden. In auswärtigen Angelegenheiten haben die Kofürsten ein Vetorecht, dazu kommen zeremonielle Aufgaben und die Gegenzeichnung von offiziellen Akten wie der Einberufung von Wahlen oder der Ernennung des Ministerpräsidenten, das Begnadigungsrecht und die Ernennung bestimmter Positionen in der Justiz. Besondere Vorrechte hat die katholische Kirche nicht. Sie wird zwar eigens in der Verfassung erwähnt, es herrscht aber Religionsfreiheit, eine Staatskirche existiert nicht.
Symbol und Garantie für die Einheit und das Fortbestehen Andorras
Die wichtigste Aufgabe der Kofürsten ist eine symbolische. Die Verfassung bezeichnet sie als "das Symbol und die Garantie für das Bestehen und die Fortdauer Andorras sowie seiner Unabhängigkeit und der Erhaltung des paritätischen Geistes in den traditionsgemäß ausgeglichenen Beziehungen zu den Nachbarstaaten".
Diese ideelle Bedeutung der Kofürsten erklärt auch die Befürchtungen, die mit dem Besuch des Kardinalstaatssekretärs in Andorra verbunden waren: Sollten sich die Gerüchte bestätigen, dass der Papst dem bischöflichen Kofürsten ein Ende bereiten will, würde eine tragende Säule des Selbstverständnisses des Staats wegbrechen. Diskutiert wurde in der Presse die Möglichkeit, das andorranische Staatsgebiet vom Bistum Urgell abzutrennen und ein eigenes Bistum Andorra zu schaffen nach dem Vorbild der Zwergstaaten Liechtenstein und Monaco, die im 19. und 20. Jahrhundert aus ihren heutigen Nachbarbistümern ausgegliedert wurden.
Parolin konnte Entwarnung geben: Von dieser Möglichkeit sei in Rom nie die Rede gewesen, sagte er in Andorra. Der Vatikan wolle, "dass alles so bleibt, wie es jetzt ist". Im Namen des Heiligen Stuhls könne er erklären, dass er voll und ganz hinter dem Bischof von Urgell als Kofürst steht. Überlegungen, dem auf die Altersgrenze zugehenden Bischof Vives einen Koadjutorbischof mit dem Recht auf unmittelbare Nachfolge zur Seite zu stellen – so war auch Vives ins Amt gekommen –, zeigte sich Parolin nicht abgeneigt.
Unterstützt wurde Parolin von Ministerpräsident Xavier Espot, der auch die Idee eines neuen Koadjutorbischofs ins Spiel brachte: Die Mutmaßungen über ein eigenes andorranisches Bistum entsprächen nicht der Realität, seine Regierung hätte nie derartige Ziele verfolgt. Darin stimmte auch Kofürst Vives ein. Der Bischof betonte in seiner Ansprache, dass die Kirche "der Schlüssel zum Überleben des institutionellen Systems war, das es Andorra sieben Jahrhunderte lang ermöglicht hat, als unabhängiges und neutrales Land zu leben". Aus dem Vatikan scheint es dafür auch weiterhin grünes Licht zu geben. Dem letzten Fürstbischof dürfte ein nächster letzter Fürstbischof im Amt folgen – wenn nicht die Abtreibungsfrage der demonstrativen Einmütigkeit ein Ende bereitet.