Die Stunde des Christentums
Die katholische Kirche besaß damals eine starke Ausstrahlung weit über den Kreis ihrer eigenen Gläubigen hinaus und bot vielen Menschen eine glaubwürdige Alternative zu der in Hass und Zerstörung untergegangenen Welt. In den Augen der meisten Deutschen war die Kirche politisch nicht diskreditiert. Organisatorisch war sie weitgehend intakt geblieben, und sie besaß wichtige internationale Verbindungen.
Die Freude darüber war dennoch verhalten. Die Bischöfe fühlten sich 1945 nicht als Sieger. Die "Stunde des Christentums" war für sie zunächst eine Stunde des Dankes, dass die Kirche "die Jahre der Heimsuchungen und Verfolgungen" überstanden hatte, und dann vor allem die Stunde der Selbstbesinnung und der Aufforderung zu einer geistigen, sittlichen und religiösen Erneuerung.
In ihrem ersten gemeinsamen Hirtenwort nach dem Krieg äußerten die deutschen Bischöfe sich am 23. August 1945 ausführlich zu Schuld und Verantwortung: "Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden."
Aufruf zu "Ehrfurcht vor Gott und Mensch"
Die Frage nach dem Verhältnis von katholischer Kirche und Judentum wurde 1945 zunächst als ethisch-moralische Frage nach dem Verhalten einzelner Katholiken diskutiert. "Erschüttert stehen wir vor der Offenbarung so furchtbarer Greueltaten in den Konzentrationslagern, vor dem Versuch, ganze Volkschaften zu vernichten", schrieben die Bischöfe der Kölner und Paderborner Kirchenprovinzen am 29. Juni 1945 und riefen ihre Diözesanen zur "Ehrfurcht vor Gott und Mensch" auf. Das gemeinsame Hirtenwort aller Bischöfe vom August 1945 übernahm diese eindringliche Mahnung: "Es muss wieder Ehrfurcht herrschen, auch vor der Persönlichkeit des Nächsten! Wir haben es alle noch zu lebendig vor Augen, was aus dem Menschen wird, der entrechtet, misshandelt, seiner Menschenwürde beraubt wird."
Für die Besatzungsmächte waren die katholischen Bischöfe bevorzugte Ratgeber, zum Beispiel bei der Neubesetzung von Verwaltungsposten, bei der Auswahl von Bürgermeistern und Landräten. Die Oberhirten verstanden sich als Mittler zwischen Bevölkerung und Besatzungsmächten, übernahmen selbst aber keine politischen Ämter. Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, lehnte die Übernahme des Oberpräsidiums von Westfalen standhaft ab. In Fortführung ihrer Politik der letzten Jahre traten die Bischöfe nach 1945 nicht nur für die Interessen der Katholiken ein, sondern für die Würde und Rechte aller Menschen. Sie kümmerten sich um Versorgungslage und Entnazifizierung, den Stopp der Demontage, die Entlassung der Kriegsgefangenen, die Beendigung der Vertreibung oder um Grenzfragen und protestierten gegen Plünderungen und Vergewaltigungen.
Vor allem der entschiedene Protest gegen die Kollektivschuld-These führte zu Konflikten zwischen den Bischöfen und den Alliierten. Bischof von Galen wurde nach einer entsprechenden Wallfahrtspredigt in Telgte zu einem Verhör geladen, der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber protestierte am 20. Juli 1945 mit dem evangelischen Landesbischof in einem Schreiben an die amerikanische Militärregierung, am 23. Juli erhielt Feldmarschall Bernhard Montgomery ein vom Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger im Namen aller westdeutschen Bischöfe verfasstes Schreiben, Erzbischof Joseph Frings verfasste Anfang August eine Denkschrift "Über die Schuld des deutschen Volkes".
Ein Deutscher als Symbolfigur des Widerstands
Bereits einen Tag nach der bedingungslosen Kapitulation hatte der Heilige Stuhl dem britischen Vatikan-Gesandten zunächst vergeblich die Bitte vorgetragen, Bischof von Galen eine Reise nach Rom zu ermöglichen. Dem Außenministerium war zu diesem Zeitpunkt nicht daran gelegen, ausgerechnet einem Deutschen, der als Symbolfigur des Widerstands gegen den Nationalsozialismus galt, die Gelegenheit zu geben, sich vor der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Die Besatzungsmächte verhinderten bis zum Frühjahr 1946 auch die angebotenen materiellen Hilfeleistungen des Vatikan nach Deutschland.
Papst Pius XII. (1939-1958) war den Deutschen seit seiner Zeit als Nuntius in München und Berlin eng verbunden und stützte sich auch als Papst auf eine Reihe deutscher Berater. Trotz des Widerstands der Besatzungsmächte betraute der Papst im September 1945 den Jesuitenpater Ivo Zeiger mit dem schwierigen Auftrag, sich auf einer Informationsreise zu den deutschen und österreichischen Bischöfen ein Bild von der Situation der Kirche vor Ort zu verschaffen. Als spektakuläre Unterstützung der deutschen Katholiken empfunden wurde die an Weihnachten 1945 angekündigte Ernennung der drei deutschen Bischöfe Joseph Frings (Köln), Clemens August Graf von Galen (Münster) sowie Konrad von Preysing (Berlin) zu Kardinälen.
1945 war auch die Stunde der Caritas. Nach dem Verlust seiner Ostgebiete war Deutschland zunächst zu höchstens 50 Prozent Eigenversorgung in der Lage. Außerdem mussten neun Millionen Zwangsarbeiter, sieben bis neun Millionen Flüchtlinge und Vertriebene sowie die Besatzungstruppen ernährt werden. Zu Hunger und Krankheit kam die Wohnungsnot. 50 Prozent der öffentlichen und 40 Prozent der Wohngebäude in Deutschland waren zerstört, für den Winter waren weder ausreichend Kleidung noch Heizmaterial vorhanden. Als Urheber des Krieges war Deutschland anfangs von der ausländischen Hilfe ausgenommen. Die beiden konfessionellen Wohlfahrtsverbände - Innere Mission und Caritas - erhielten dann aber ab Sommer 1946 die Möglichkeit, Spenden zu verteilen. Vorsichtig geschätzt haben beide Werke etwa die Hälfte der 600.000 Tonnen Sachgüter verteilt, die aus dem Ausland gespendet wurden.
Besondere seelsorgliche Aufmerksamkeit
Die besondere seelsorgliche Aufmerksamkeit der deutschen Bischöfe galt 1945 der Jugend und der Familie. Zentraler Ort des religiösen Lebens sollte die Pfarrgemeinde sein. Orientiert an den Leitsätzen von 1936 verzichteten die Bischöfe im November 1945 zunächst auf überdiözesane Zusammenschlüsse in diesem Bereich, ernannten aber Prälat Ludwig Wolker zum provisorischen Leiter einer "Hauptstelle für katholische Jugendseelsorge und Jugendorganisationen in den deutschen Diözesen" mit Sitz in Altenberg. Zur Gründung des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) kam es erst 1947.
Trotz einer weitgehenden personellen Kontinuität war den meisten Bischöfen klar, dass man nach den bitteren Erfahrungen des Dritten Reiches neue Wege gehen musste und politisch nicht einfach an die Zeit vor 1933 anknüpfen konnte. In zahlreichen katholischen Publikationen wurde eine Diskussion um die Neuordnung von Staat und Gesellschaft geführt. Die Antwort auf die Frage nach Schuld und Verantwortung bestand nicht in deklamatorischen Bekenntnissen, sondern in dem Entschluss zu aktiver Mitarbeit der deutschen Katholiken an der Gestaltung des öffentlichen Lebens.
Mittelfristig wirkten sich dabei die demographischen Umschichtungen nach 1945 unterstützend aus. Insgesamt war die Konfessionszugehörigkeit bei den Heimatvertriebenen und in der Gesamtbevölkerung zwar gleich verteilt. Regional kam es jedoch zu großen Veränderungen. Die Flüchtlingsbewegung führte zur Auflösung traditionell konfessions-einheitlicher Gebiete in Deutschland. In den drei Westzonen blieb im Vergleich von 1939 und 1946 der Anteil der Katholiken mit jeweils rund 45 Prozent nahezu konstant, in der sowjetischen Besatzungszone verdoppelte er sich dagegen von 6,1 auf 12,2 Prozent. Ein bedeutender Unterschied zeigt sich aber, wenn man das Deutsche Reich und die Bundesrepublik als Ganzes betrachtet. 1933 stellten die Katholiken im Deutschen Reich nur eine Minderheit von 32,9 Prozent, 1950 erreichten sie bezogen auf die Bundesrepublik 45,2 Prozent. Der Katholizismus trat erstmals in Deutschland aus der Defensive heraus und prägte nach Ansicht des Münsteraner Philosophen Josef Pieper die Suche nach neuen "Grundformen sozialer Spielregeln".
Von Karl-Joseph Hummel (KNA)