Das Schweizer Missbrauchsgutachten ist leider kein großer Wurf
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Jetzt gibt es für den Missbrauch in der Kirche auch in der Schweiz Zahlen: 1.002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene seit Mitte des 20. Jahrhunderts – gegenüber 3.677 Betroffenen und 1.670 Beschuldigten in der MHG-Studie in Deutschland, wobei die Schweiz nur etwas mehr als zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung aufzuweisen hat. Es geht also um hohe Zahlen, die das Pilotprojekt der Universität Zürich im Auftrag der Schweizer Bischöfe, Laien und Orden wie Gemeinschaften aufzuweisen hat.
Das Gutachten unterstreicht einmal mehr das gesellschaftliche Umfeld, systemische Begünstigungen und Vertuschung des Missbrauchs in der Kirche. Damit bestätigt es die Erkenntnisse von Forschenden aus anderen Ländern wie etwa Deutschland und Frankreich. Damit ist es ein Bollwerk der Fakten gegen jene, die sich in ihrer Abwehrhaltung gegen kirchliche Reformen als letztem Ausweg an eine wissenschaftsfeindliche Faktenverweigerung klammern.
Darüber hinaus ist der Text allerdings leider kein großer Wurf. Er benennt ein Hellfeld mit Verweis auf ein wohl viel größeres Dunkelfeld, nennt ein gesellschaftliches und kirchliches Klima und Machtstrukturen, Sexualmoral, Frauenbild wie Homosexualitätsverständnis als Faktoren, die den Boden für Missbrauch bereitet haben. Das gab es auch schon in Deutschland mit anschließendem Synodalen Weg. Das schweizerische Projekt benennt keine Vertuscher, hält sich oft im Ungefähren auf der Metaebene.
Das wäre vor Jahren alles spannend gewesen, im Jahr 2023 sollte ein solches Gutachten jedoch ambitionierter sein. Was lässt sich über ein soziales Zeitklima und die toxischen kirchlichen Grundkonstellationen von Macht und Nähe hinaus über Betroffene und Täter sagen? Welche Zusammenhänge lassen sich belegen, welche nur vermuten? Welche hochgelobten Persönlichkeiten sollten mal hinterfragt werden? Das fehlt. Zwar werden in einem Folgeprojekt noch etwa das katholische Milieu, die Verantwortung des Staates, Missbrauch in Orden und Gemeinschaften und katholische Missbrauchsspezifika untersucht. Doch bei einem Projektrahmen von drei Jahren ist absehbar, dass es schwierig wird, über Bekanntes allzu weit hinauszukommen. Dazu kommt die Gefahr, dass Folgeerkenntnisse bei weitem nicht mehr in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden.
Einen Hinweis hat die Historikerin und Co-Leiterin des Projekts Monika Dommann jedoch gegeben, der ein wirklicher Ansporn für die weitere Missbrauchsaufarbeitung ist: Der Missbrauch als internationales Phänomen. Eine länderübergreifende Arbeit wäre sinnvoll. Und dafür laufen die Fäden in Rom zusammen. Seit 2001 müssen alle Fälle an das Dikasterium für die Glaubenslehre gemeldet werden. Ein Blick in dessen Akten wurde den Forschenden jedoch verwehrt. Der Fisch stinkt also mal wieder vom Kopfe der. So lange der Vatikan derart wenig Interesse an Aufklärung hat, wird eine umfassende Missbrauchsaufarbeitung immer nur Stückwerk bleiben.
Der Autor
Christoph Paul Hartmann ist Redakteur bei katholisch.de.Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.