Fünf Jahre MHG-Studie: Kirche auf der Suche nach dem Befreiungsschlag
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz beschrieb ihre Bedeutung vor Kurzem so: Die MHG-Studie habe bewiesen, dass sexueller Missbrauch in der Kirche "nur die Spitze eines Machtmissbrauchs" sei, sagte Limburgs Bischof Georg Bätzing in einem Interview mit der "Zeit". Danach habe keiner mehr leugnen können, "dass wir dringend Reformen brauchen“. Fünf Jahre sind seit der Veröffentlichung der Studie inzwischen vergangen. Sie skizziert ein erstes Gesamtbild des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche in Deutschland, das den Vertrauensverlust in die Institution Kirche massiv beschleunigte. Gleichzeitig wurde er für die Kirche in Deutschland endgültig zum Anlass, Struktur und Lehre der Kirche im Blick auf missbrauchs- und vertuschungsbegünstigende Faktoren zu hinterfragen – und somit zum Ausgangspunkt für den Synodalen Weg. Doch selbst wenn seither manches in Bewegung geraten ist: Der Befreiungsschlag lässt auf sich warten.
Die MHG-Studie (die Abkürzung beruht auf den Orten der Universitäten des Forschungskonsortiums Mannheim, Heidelberg und Gießen) überprüfte mehr als 38.000 kirchliche Personalakten von Klerikern aus den Jahren 1946 bis 2014. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte auch deshalb eine Studie in Auftrag gegeben – ein erstes Projekt war wegen Unstimmigkeiten gestoppt worden –, da sie seit der Aufdeckung von Missbrauch in kirchlichen Institutionen im Jahr 2010 zunehmend öffentlich unter Druck stand. Ein erstes Projekt Das Ergebnis der Untersuchung wurde am 25. September 2018 bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischöfe in Fulda vorgestellt. Die Zahlen: 4,4 Prozent der untersuchten Kleriker waren des sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden. Den 1.670 mutmaßlichen Tätern stehen mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche gegenüber, die von sexuellem Missbrauch betroffen waren – 62,8 Prozent von ihnen männlich. Schon bei der Vorstellung wiesen die Autoren der Studie darauf hin, dass diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs seien: Akten seien in den Diözesen vernichtet oder manipuliert worden; viele Vorfälle seien gar nicht dokumentiert oder nicht bekannt geworden Zudem konnten die Forscher nur das aufnehmen, was ihnen Beauftragte der Bistümer mitteilten – eigene Akteneinsicht gab es nicht.
Synodaler Weg als Antwort
Bei einer reinen Aufzählung der Zahlen beließ es die Studie aber nicht. Die Forschenden hatten Risikofaktoren im System der Kirche ausgemacht und nannten diese ausdrücklich: die kirchliche Sexualmoral, die Überhöhung der Priester, der Umgang mit Macht. Das würden die Themenfelder, die die Deutsche Bischofskonferenz zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken später auf dem Synodalen Weg behandelte – mit bekanntem Verlauf: Aus Rom kam immer wieder massive Kritik an einzelnen Beschlüssen, nicht nur aus der Weltkirche wurde eine Abkopplung von Reformthemen von der Missbrauchsaufarbeitung gefordert. Und manche Veränderungen konnte der Synodale Weg schlicht nicht selbst vornehmen, so dass viele Handlungstexte größtenteils Voten an den Papst sind.
Dabei war auch die Studie selbst von Anfang an umstritten. In manchen Kirchenkreisen war man skeptisch, was den Zusammenhang zwischen Missbrauch und den von der Studie ausgemachten Risikofaktoren angeht. Einige bezweifelten die Wissenschaftlichkeit der Studie, einige forderten Vergleichsstudien zu anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Derartige Anfragen an die Machart der Studie weist der Mannheimer Forensiker Harald Dreßing, Sprecher des Autorenteams, auch fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung zurück. "Wir haben die Studie wissenschaftlich in hochrangigen sogenannten Peer Reviewed Journals veröffentlicht, in denen internationale Wissenschaftler die Methodik und die Ergebnisse einer Studie überprüfen. Da kann man keine schlechten Studien publizieren", sagt Dreßing gegenüber katholisch.de. Daher sei es schlichtweg falsch, der Studie ihre Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Zudem seien auch Nachfolgestudien in einzelnen Bistümern zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.
Dreßing: Empfehlungen kaum umgesetzt
Die MHG-Studie blieb aber nicht nur bei einer Problembeschreibung, sie machte auch ganz konkrete Empfehlungen für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen: eine neue Kultur bei der Aktenführung und ganz grundsätzlich Transparenz sowie eine einheitliche Linie bei der Aufarbeitung in allen 27 Bistümern. Die Bischöfe vereinbarten in der Folge mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Standards für die Aufarbeitung, beispielsweise über die Einrichtung von diözesanen Betroffenenbeiräten, um Betroffene von sexuellem Missbrauch an Aufarbeitungsprozessen maßgeblich zu beteiligen. Doch bis heute haben manche Bistümer keine Aufarbeitungskommission – teilweise, weil sie keine Interessierten für die Mitarbeit in diesem Gremium finden. In manchen Beiräten gab es zudem erhebliche Konflikte und Rücktritte. Und viele Betroffene beklagen, dass sie sich nach wie vor nicht gehört fühlen.
Auch sonst gibt es große Ungleichzeitigkeiten in den Bistümern. So haben viele schon eine Studie veröffentlicht, in manchen ist sie in Auftrag gegeben – oder ist gar nicht machbar. Und auch die schon veröffentlichten Studien haben unterschiedliche Ansätze: Mal lag der Schwerpunkt bei einer juristischen Bewertung, mal bei einer historischen Aufarbeitung, mal bei einer soziologischen Analyse, die auch nach dem Umgang von Bischöfen, Diözesanverwaltungen und Gemeinden mit dem Missbrauch fragte. Die einen Studien überzeugten die Öffentlichkeit mehr, die anderen weniger. Diese fehlende gemeinsame Linie – obwohl sie von den MHG-Studienautoren ausdrücklich empfohlen wurde – sieht Harald Dreßing als verpasste Chance: "Von unseren Empfehlungen ist eigentlich nur die neue Kultur der Aktenführung wirklich umgesetzt worden."
Zudem kommt ein weiteres Riesenthema auf die Bischöfe zu: die Entschädigungszahlungen. Vor drei Jahren hatten sich die Bischöfe zwar auf ein einheitliches Verfahren zu "Leistungen in Anerkennung des Leids" geeinigt. Betroffenenvertreter kritisieren die Zahlungen aber von Anfang an als zu niedrig: Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz fordert die Bischöfe daher auf, das Entschädigungssystem zu reformieren. Sie müssten Rahmenbedingungen schaffen, die Zivilklagen von Betroffenen unnötig machten.
Hintergrund ist ein inzwischen rechtskräftiges Urteil des Kölner Landgerichts: Dieses hatte im Juni einem missbrauchten früheren Messdiener die bislang höchste Schmerzensgeldsumme in Höhe von 300.000 Euro zugesprochen. Daraufhin hatte die Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen zumindest angekündigt, das Urteil der Entscheidung über die Höhe der Zahlungen an Betroffene zu berücksichtigen und somit höhere Beträge in Aussicht gestellt. Betroffenenvertreter betonen, durch ein gerechteres und transparenteres System würden die Bischöfe eine tatsächliche Haltungsänderung zeigen.
Was echte Aufarbeitung angeht, stehe die Kirche noch immer ganz am Anfang, sagt Harald Dreßing. Auch weitere Studien in einzelnen Bistümern würden keine durchgreifend neuen Erkenntnisse bringen und seien nicht die Aufarbeitung, die zusammen mit den Betroffenen eigentlich anstehe. Zwar nennen diese Gutachten konkrete Namen von Bischöfen – "aber dass vertuscht und versetzt wurde, steht auch schon in unserer Studie. Und dafür sind im letzten nun mal Bischöfe beziehungsweise die oberste Führungsebene verantwortlich". Richtig Licht ins Dunkel bringen würde erst eine staatliche Wahrheitskommission mit uneingeschränktem Aktenzugang, betont Dreßing. Für eine solche spricht er sich explizit aus. "Die würde sich dann um die entscheidenden Fragen kümmern: Was ist wirklich passiert? Auch im Mittelbau, in den Domkapiteln: Wer hat etwas gewusst, wer hat warum und wann geschwiegen oder doch sogar zugestimmt?" Dazu wären aber nicht nur Gesetzesänderungen nötig: Von staatlicher Seite gibt es, trotz grundsätzlicher Bereitschaft seitens der Bischöfe, bisher keine ernsthaften Signale, an der Einrichtung einer solchen Kommission interessieret zu sein.
Gestiegene Sensibilität
Trotz offener Baustellen hat sich seit der MHG-Studie einiges getan. Festzuhalten bleibt, dass sich bislang keine Institution in der Gesellschaft so intensiv mit dem Thema beschäftigt hat wie die katholische Kirche. Fachleute bescheinigen ihr, dass sie gerade im Bereich der Prävention große Schritte getan hat. Die Sensibilität für die Thematik unter Mitarbeitern und Gläubigen ist stark gewachsen.
Über die strukturellen Veränderungen, die es darüber hinaus braucht oder nicht, um Missbrauch und seine Vertuschung zu verhindern, wird die Kirche in Deutschland vermutlich noch längere Zeit diskutieren. Bischof Bätzing betonte in dem "Zeit"-Interview, die Lehre aus dem Missbrauchsskandal sei vor allem, dass die Kirche ein Problem mit unkontrollierter Macht habe. "Darum wollen wir klare Rechenschaft und transparente Kontrolle aller, die Macht ausüben." Das verlorene Vertrauen der Menschen könne die Kirche nicht zurückholen, sie könne nur neues aufbauen.