Wegen Kritik an der russisch-orthodoxen Kirche vom Priesteramt suspendiert

Ukrainischer Theologe: Schweigen zum Krieg ist unmoralisch

Veröffentlicht am 08.10.2023 um 12:15 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 
Cyril Hovorun
Bild: © Privat

Bonn ‐ Als der Krieg in der Ukraine eskalierte, wurde seine Kritik schärfer. Dann kam es zum Bruch mit der russisch-orthodoxen Kirche. Im Interview mit katholisch.de erklärt der orthodoxe Priester und Ekklesiologie-Professor Cyril Hovorun, warum er nicht zum Krieg schweigen konnte.

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Der orthodoxe Priester und Ekklesiologie-Professor Cyril Hovorun ist bekannt für seine Kritik am Kreml und der russisch-orthodoxen Kirche. Ende September wurde er von seinem Priesteramt suspendiert. Im katholisch.de-Interview spricht er über seine Erfahrungen und warum die russisch-orthodoxe Kirche den Krieg in der Ukraine hätte verhindern können.

Frage: Herr Hovorun, Sie haben lange eng mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. zusammengearbeitet, nun wurden sie suspendiert. Ist Ihre Kritik am System der Grund dafür?

Hovorun: Ich gehe davon aus. Seit 2012 habe ich immer wieder die Ideologie der "russischen Welt", also der unbedingten Vorrangstellung des Russischen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, in verschiedenen Publikationen und Vorträgen kritisiert. Ich habe versucht, den Patriarchen vor den Gefahren dieser Ideologie zu warnen, aber er wollte nicht hören. Um ihm eine letzte Warnung zu geben, beschloss ich, von allen meinen Ämtern in der Kirchenverwaltung zurückzutreten und mich der akademischen Arbeit in verschiedenen Ländern zu widmen. Das war im Februar 2012. Als der Krieg im Februar 2022 eskalierte, wurde auch meine Kritik schärfer. Ich habe mit eigenen Augen die Zerstörung, den Tod und das Leid gesehen, das diese Ideologie über die Ukrainer gebracht hat. Ich konnte nicht schweigen. Ich halte Schweigen unter solchen Umständen für absolut unmoralisch und bin überzeugt, dass der wahre Grund für meine Bestrafung ist, dass ich zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht geschwiegen habe.

Frage: Kürzlich interessierten sich die Medien weltweit für Ihre Suspendierung. Der Blog "Il Sismografo", der auch im Vatikan gelesen wird, schrieb, dass Sie "Schismatiker" unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten. Glauben Sie, dass Moskau Einfluss auf bestimmte Narrative im Vatikan hat?

Hovorun: Der Krieg in der Ukraine bietet meiner Meinung nach keinen Raum für Zweifel darüber, wer das Opfer und wer der Täter ist. Aus diesem Grund hat sich Papst Franziskus in diesem Krieg eindeutig auf die Seite der Opfer gestellt. Bei einigen Personen im und um den Vatikan herum scheint es allerdings noch immer Zweifel daran zu geben, wer der Aggressor in diesem Krieg ist. Diese lassen sich möglicherweise von Verschwörungstheorien leiten, wonach einige "böse Mächte" im Westen diesen Krieg provoziert haben und ihn bis zum "letzten Ukrainer" fortsetzen wollen. Solche Verschwörungstheorien lassen den Willen und die Handlungsfähigkeit des ukrainischen Volkes außer Acht, als ob sie nur Figuren auf einem Schachbrett wären und nicht selbst entscheiden könnten. Diese Theorien werden von der russischen Propaganda verbreitet und finden weite Verbreitung in verschiedenen religiösen Kreisen, auch in katholischen – bis zum Heiligen Stuhl.

Zerstörung in der Kathedrale von Odessa nach Raketenangriff
Bild: ©picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jae C. Hong

Mitarbeiter der Kirche inspizieren Schäden in der Verklärungskathedrale von Odessa in Odessa, Ukraine, Sonntag, 23. Juli 2023, nach russischen Raketenangriffen.

Frage: Sie haben immer wieder auf die Unterstützung der orthodoxen Kirche für den Krieg hingewiesen. Würde es einen Krieg geben, wenn die russisch-orthodoxe Kirche eine andere Rolle spielen würde?

Hovorun: Es ist gut möglich, dass der Krieg ohne den ideologischen Beitrag der russischen Kirche nicht stattgefunden hätte. Normalerweise erkläre ich, dass die Formel für den Krieg in der Ukraine lautet: Ideen plus Waffen - in genau dieser Reihenfolge. Zuerst waren die Ideen da. Sie gehen auf die Jahrhunderte zurück, als die Russen glaubten, sie hätten einen besonderen Auftrag von Gott, die Menschheit zu retten. Als Putin im Jahr 2000 russischer Präsident wurde, hatte er keine solchen Vorstellungen. Erst durch den Einfluss von Kyrill kam er 2012 auf solche Gedanken. Mit anderen Worten: Die russisch-orthodoxe Kirche lieferte Ideen, und der Kreml die Waffen. In Kombination haben sie den Krieg in der Ukraine ermöglicht.

Frage: Sie haben oft vermutet, dass die große Mehrheit der Russen diesen Krieg unterstützt, fast 90 Prozent. Trifft das auch auf die Kirchenmitglieder zu?

Hovorun: Es gibt keine zuverlässigen soziologischen Daten, die Aufschluss darüber geben, wie viele Russen und wie viele Orthodoxe unter ihnen den Krieg unterstützen. Meiner Einschätzung nach unterstützt die überwältigende Mehrheit der russisch-orthodoxen Kirche den Krieg. Doch es gibt auch Spaltungen: Für viele von ihnen ist die Art und Weise, wie Putin den Krieg führt, nicht aggressiv genug. Sie wollen mehr Zerstörung. Ihr Held war der Kopf der Wagner-Miliz Jewgeni Prigoschin, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Diese Gruppe hat sogar Anhänger unter den Kirchenführern. Die zweite Gruppe demonstriert absolute Loyalität gegenüber Putin, zu der auch der Moskauer Patriarch gehört. Dann gibt es eine Minderheit, die gegen den Krieg ist. Ich weiß nicht, wie groß sie ist, aber der größte Teil ist passiv in ihrer negativen Haltung zum Krieg. Sie schweigen, auch wenn sie eine andere Auffassung vertreten. Doch das ist eine sehr kleine Gruppe.

Frage: Wie wird es nach dem Krieg weiter gehen?

Hovorun: Für die meisten Befürworter unter den Russisch-Orthodoxen ist der Krieg heilig. Deshalb werden sie auch nach einer Niederlage Putins weiter daran glauben. Das ist ein Problem für die Zeit nach dem Krieg - er wird in den Köpfen vieler Russisch-Orthodoxer weitergehen. Das wiederrum ist ein Problem für Russlands Nachbarn, die anfällig bleiben für neue Ausbrüche russischer Aggression. Die russische Gesellschaft und die Kirche müssen ihre Perspektive auf das Geschehene ändern, sonst werden sie immer Teil des Problems bleiben.

Von Mario Trifunovic