Kirchliche Geheimarchive in der Kritik – Die Schweiz schafft Fakten
Im Vatikan heißt das Geheimarchiv seit 2019 Vatikanisches Apostolisches Archiv. Den alten Namen hielt Papst Franziskus für zu missverständlich und aus der Zeit gefallen. Geheimarchive gibt es in der Kirche aber immer noch – und zwar sehr viele: Jeder Diözesanbischof wird durch das Kirchenrecht verpflichtet, ein Geheimarchiv anzulegen. Im Vatikan war Geheimarchiv nur eine aus der Tradition kommende Bezeichnung für das zentrale Archiv der Kurie. Vieles darin ist gar nicht geheim: die dort gesammelten päpstlichen Gesetze etwa. Im Bistum dagegen ist das "Geheime" im Archiv wörtlich und im heutigen Sinn zu verstehen: Nur der Diözesanbischof selbst darf den Schlüssel haben, und ins Archiv kommen Unterlagen mit einem besonders hohen Schutzbedarf: geheime Ehesachen, und vor allem die Akten von kirchlichen Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren, Informationen also über Missbrauchstäter.
Der Sinn des Geheimarchivs ist eine besondere Sicherheit für besonders sensible Informationen. Die Archivierung der Akten über kirchliche Missbrauchsprozesse führt aber dazu, dass die Namen von Tätern im Geheimarchiv unerkannt verschwinden können. Erschwerend kommt hinzu, dass derartige Unterlagen zehn Jahre nach der Verurteilung oder nach dem Tod des Verurteilten vernichtet werden müssen. Nur ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils ist aufzubewahren.
Immer wieder finden sich in Gutachten zur Missbrauchsaufarbeitung Hinweise auf fehlende Aktenbestände, nicht nur mit Blick auf Geheimarchive. Zuletzt hat die Schweizer Pilotstudie die Praxis der Aktenvernichtung kritisiert. Die Praktiken und Traditionen des Archivwesens spiegelten die "traditionelle Kultur der Diskretion, Verschwiegenheit und Geheimhaltung" der Kirche wider, heißt es in der Studie: "Die bis heute gültigen Bestimmungen zur Aktenvernichtung behindern nicht nur die Forschung (weil damit das Verschwinden von Akten legitimiert werden kann), sondern sie können auch dramatische Auswirkungen auf die Betroffenen haben, die ihre Akten nicht mehr oder nur unvollständig einsehen können."
Schweizer Bischöfe verpflichten sich zu Verzicht auf Aktenvernichtung
Zu den Sofortmaßnahmen, die der in der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) für die Missbrauchsaufarbeitung zuständige Churer Bischof Joseph Bonnemain ankündigte, gehört auch ein Ende der Aktenvernichtung. Schon bei der ersten Pressekonferenz nach der Vorstellung des Gutachtens betonte er, dass sich alle Bistümer darauf verpflichtet haben, keine Missbrauchsakten mehr zu vernichten - und zwar auch da, wo das Kirchenrecht eine Aktenvernichtung vorschreibt. Kurz darauf machte die Bischofskonferenz diese Ansage noch offizieller: In den Mitteilungen in der "Schweizer Kirchenzeitung", dem offiziellen Verlautbarungsorgan der Schweizer Kirche, wurde amtlich bekräftigt, worauf sich die Bischöfe geeinigt haben: "Damit die Forscherinnen ihre Studie über sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche Schweiz in den nächsten Jahren weiter vertiefen können, haben alle Mitglieder der SBK eine persönliche Verpflichtung (notabene im Widerspruch zum geltenden Kirchenrecht) unterzeichnet, um sicherzustellen, dass alle Archive unter ihrer Verantwortung, welche Hinweise und Informationen zu Missbrauchsfällen enthalten könnten, weiterhin zugänglich sind und keine Dokumente vernichtet werden".
Dass Bischöfe sich nicht ans Kirchenrecht halten, ist aus Missbrauchsgutachten bekannt. Dass sie es mit öffentlicher Ansage nicht tun wollen (wenn auch mit guten Absichten), ist neu. "Wenn Bischöfe ankündigen, nicht wie vorgeschrieben Akten zu vernichten, dann ist das formal ein Rechtsbruch. In diesem Fall ein Bruch von positivem Recht, also Recht, das die Kirche auch anders setzen könnte", erläutert der Freiburger Kirchenrechtsprofessor Georg Bier gegenüber katholisch.de. Strafbewehrt ist die Löschpflicht im Geheimarchiv nicht, höchstens eine Amtspflichtverletzung steht laut Bier im Raum: "Dabei muss man aber den Ball flach halten. Das zuständige Dikasterium wird hier sicher nicht zu schweren Konsequenzen greifen, wenn überhaupt." Dazu komme, dass die Vernichtung von Akten ein bekannter Teil des Problems der Vertuschung von Missbrauch ist: "Die Absicht der Schweizer Bischöfe, Vertuschung vorzubeugen, ist ja positiv – problematisch ist die Umsetzung."
Der Freiburger Professor sieht ein grundsätzliches Problem darin, wenn Rechtsanwender, hier also die Bischöfe, selbst entscheiden, ob sie eine Norm als verpflichtend anerkennen oder nicht: "Das ist in diesem Fall gut gemeinte Willkür, aber es bleibt Willkür." Bier befürchtet, dass der laxe Umgang mit dem Recht in einer guten Sache dazu führen könnte, dass auch in anderen, weniger eindeutig wünschenswerten Fällen das Recht beiseite geschoben wird, oder dass sich andere das bischöfliche Beispiel zum Vorbild nehmen: "Das schlechte Beispiel verdirbt die guten Sitten."
„Das ist in diesem Fall gut gemeinte Willkür, aber es bleibt Willkür.“
Für den Kirchenrechtler wären andere Maßnahmen besser geeignet: Eine Möglichkeit wäre eine Dispens. Von der Pflicht zur Aktenvernichtung können sich die Bischöfe nicht selbst befreien, sie können aber bei der zuständigen vatikanischen Behörde um eine Befreiung bitten. Für noch besser hielte es Bier, die Frage grundsätzlich anzugehen und die Probleme mit dem bestehenden Recht nach Rom zu tragen, um das Gesetz selbst zu ändern. "Mögliche Forderungen wären etwa eine genauere Bestimmung, was in den aufzubewahrenden Tatbestandsbericht zwingend aufzunehmen ist. Bisher steht dazu gar nichts im Gesetz. Auch über eine deutliche Verlängerung der bisher zehnjährigen Frist für die Vernichtung könnte man vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Missbrauchsaufarbeitung nachdenken", fasst Bier seine Reformvorschläge zusammen.
Wortlaut oder Lebensdienlichkeit des Gesetzes?
Innerhalb der Kanonistik gibt es auch andere Einschätzungen. Im Interview mit dem Schweizer Portal "kath.ch" betonte die Kirchenrechtlerin Astrid Kaptijn von der Universität Fribourg anders als Bier nicht die Geltung des geschriebenen Rechts, sondern seine Zielsetzung und Lebensdienlichkeit. "Wenn eine Vorgabe, wie in diesem Fall, nicht mehr den Bedürfnissen der Glaubensgemeinschaft entspricht, verfällt sie. Es ist logisch und offensichtlich, dass sie irgendwann nicht mehr angewandt wird. In der Kirchengeschichte ist das oft passiert", betont sie. Das Vorgehen der Bischöfe ist für Kaptijn kein Anzeichen dafür, dass diese das Kirchenrecht nicht respektieren wollen: "Vielmehr haben sie beschlossen, dass es bezüglich sexuellen Missbrauchs wichtigere Werte gibt, auf die man Bezug nehmen sollte. Und das ist logisch: Das Recht folgt dem Leben und fördert es."
Die Schweizer Bischofskonferenz begründet ihr Vorgehen auf Anfrage mit der drängenden Notwendigkeit, den die Studie gezeigt habe. "Die Bischöfe haben die gegenwärtige Lage in der Schweiz, im Zusammenhang mit den sexuellen Missbräuchen, tiefgründig reflektiert und sind zum Schluss gekommen, von den Bestimmungen des c. 489 § 2 CIC abzusehen", teilte die Sprecherin von Bischof Bonnemain auf Anfrage mit. Man habe zwar keine Dispens eingeholt, aber es bestehe auch keine Absicht eines Bruchs mit der Universalkirche. "Aus verschiedenen Gründen ist diese Bestimmung obsolet. Deswegen haben die Schweizer Bischöfe vor, den zuständigen Stellen des Apostolischen Stuhls vorzuschlagen, diesen Canon zu streichen", so die Sprecherin weiter. Das werde aber einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Kontaktmann des Papstes in der Schweiz, der Apostolische Nuntius Martin Krebs, zeigt sich nicht alarmiert. Das Thema befinde sich in Bearbeitung und verlange eine Reflexion auf mehreren Ebenen, teilte er auf Anfrage mit.
In der Kanonistik steht das bischöfliche Geheimarchiv seit Jahren in der Kritik. "Nach weiterhin geltendem Recht kann das diözesane Geheimarchiv noch immer einem schwarzen Loch gleichen, wenn einschlägige Dokumente selbst zur Aufklärung sexueller Gewalt absichtlich unter Verschluss gehalten werden", schrieb die Kirchenrechtlerin Jessica Scheiper auf "Feinschwarz.net". Sie plädiert dafür, dass Bischöfe um eine Dispens von der Geheimarchivierungspflicht bitten: "Wohl kein Anliegen dürfte eine umfassende Transparenz mehr rechtfertigen als die Aufklärung und Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe." Ohnehin werde inzwischen häufig auch ohne die erforderliche Dispens des Apostolischen Stuhls Dritten unterschiedlich umfangreicher Zugriff auf Inhalte des Geheimarchivs gewährt – das zeigen diverse Missbrauchsgutachten, in denen teils implizit, teils ausdrücklich erwähnt wird, dass Akten aus dem Geheimarchiv verwendet wurden.
Staatliches Archivrecht zum Vorbild nehmen
Bier wirft die Frage auf, ob es überhaupt ein eigenes Geheimarchiv braucht, auf das nur der Bischof zugreifen kann. "Besonders schutzbedürftige Aktenbestände kann man auch in einem normalen Archiv sichern, man muss sie nur entsprechend klassifizieren, damit nicht jeder darauf zugreifen kann", erläutert er. Zudem sei die Regelung nicht praktikabel, dass nur der Bischof einen Schlüssel haben dürfe: "Das bedeutet auch, dass der Bischof dafür zu sorgen hat, dass das Wissen im Geheimarchiv zum Tragen kommt, etwa in Personalsachen. Das dürfte im Alltagsgeschäft regelmäßig eine Überforderung darstellen."
Gerade bei Akten zu Sexualdelikten bestehe das Dilemma, dass oft Akten noch lange nach der aus gutem Grund bestehenden Löschfrist benötigt werden, etwa für die Aufarbeitung oder um Hinweise auf Verhaltensmuster festzustellen, vor allem aber auch, um gegebenenfalls Versäumnisse oder Vertuschungsversuche der zuständigen Bischöfe nachweisen zu können. Im staatlichen Recht in Deutschland sieht die bundesweit gültige Justizaktenaufbewahrungsverordnung für Strafurteile und -befehle eine 30-jährige Aufbewahrungsfrist vor. Bier schlägt vor, alle Akten im allgemeinen Diözesanarchiv unterzubringen. Besondere Schutzbedarfe sollen dann über die Einstufung in Schutzklassen gelöst werden, wie es auch staatliche Archivordnungen vorsehen.
In eine ähnliche Richtung geht ein Vorschlag des Magdeburger Bistumsarchivars Daniel Lorek. In einem Beitrag für das Blog der Zeitschrift für kanonisches Recht schlägt der studierte Kirchenrechtler vor, die Löschpflicht aus dem Kirchenrecht zu streichen und eine bewährte Methode aus dem Archivrecht anzuwenden, das sogenannte "Löschsurrogat": Anstelle einer tatsächlichen Vernichtung soll eine Überführung in einen gesicherten Teil des Bistumsarchivs treten. "Damit könnte dann wirklich jeder Kritik hinsichtlich eines vormals so benannten bischöflichen Geheimarchivs 'der Wind aus den Segeln' genommen werden", betont Lorek.
Bis diese Kritik den Gesetzgeber – in diesem Fall den Papst – erreicht und von ihm umgesetzt wird, kann es lange dauern. In der Zwischenzeit haben die Schweizer Bischöfe für ihren Bereich Fakten geschaffen. "In ihrer Verantwortung als Hirten", betont die Churer Sprecherin.
Im Wortlaut: Das Kirchenrecht zum bischöflichen Geheimarchiv
c. 489 CIC
§ 1 In der Diözesankurie muss es außerdem ein Geheimarchiv geben, wenigstens aber einen eigenen Schrank oder ein eigenes Fach im allgemeinen Archiv, das fest verschlossen und so gesichert ist, dass man es nicht vom Ort entfernen kann; in ihm müssen die geheimzuhaltenden Dokumente mit größter Sorgfalt aufbewahrt werden.
§ 2 Jährlich sind die Akten der Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren, deren Angeklagte verstorben sind oder die seit einem Jahrzehnt durch Verurteilung abgeschlossen sind, zu vernichten; ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils ist aufzubewahren.
c. 490 CIC
§ 1 Nur der Bischof darf den Schlüssel zum Geheimarchiv haben.
§ 2 Während der Sedisvakanz darf das Geheimarchiv bzw. der Geheimschrank nur im Falle wirklicher Notwendigkeit vom Diözesanadministrator selbst geöffnet werden.
§ 3 Aus dem Geheimarchiv bzw. Geheimschrank dürfen keine Dokumente herausgegeben werden.