Zwischen Leid und Versöhnung: Mit Überlebenden in Auschwitz
Es ist eigentlich viel zu schön an diesem Spätsommermorgen im polnischen Oswiecim. Kleine Schleierwolken zieren den tiefblauen Himmel über dem Konzentrationslager Auschwitz. Die weiche Morgensonne lässt viele bereits gelb gefärbte Blätter an den Pappeln zwischen den Baracken wie Goldmünzen glänzen. Tiefrot leuchten die Rosen am Kranz, den Kolbe-Werk-Geschäftsführer Christoph Kulessa zur Todeswand trägt.
Ihm folgen rund 30 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer aus Polen und Deutschland. Viele von ihnen haben selbst den Holocaust überlebt, alle haben sich für diesen Moment schick gemacht. Hier wird noch ein Kragen gerichtet, da noch eine Falte aus dem Kleid gestrichen, bevor es gemessenen Schrittes zu der Erschießungsstelle im Auschwitz-Stammlager geht. Einige tragen dabei das Tuch für politische Häftlinge. An diesem Morgen wollen sie den vielen unter dem NS-Regime Ermordeten ihren Respekt erweisen.
Es waren schon einmal mehr dabei. "Viele sind wir nicht mehr", weiß Maria Urbas, Jahrgang 1929. Nach dem Tod ihres Mannes, der auch als Zeitzeuge in Schulen gesprochen hat, fühlt sich die zierliche Dame verpflichtet, seine Arbeit fortzusetzen: "Wir müssen den jungen Generationen weiter von unseren Erfahrungen erzählen, damit so etwas nie wieder passiert." Sonst bliebe nicht nur sein Leben für Frieden und Versöhnung unvollendet. "Die jetzige Generation hat keine Schuld", findet Jadwiga Galazka, geboren 1941 und Überlebende des Ghettos Pinczow. Ihre Eltern und ihr Geburtsdatum kennt sie nicht, "aber ich kann nicht in Hass leben", beschreibt sie lächelnd ihre Motivation.
Hilfe für Überlebende
"Den Menschen helfen, die diese Hölle überlebt haben", möchte Jadwiga Wakulska. Sie ist 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau geboren und arbeitet seit 1990 ehrenamtlich für das Maximilian-Kolbe-Werk. "Vertrauenspersonen" werden sie genannt: Vordergründig geht es bei der ehrenamtlichen Arbeit darum, mit Holocaust-Überlebenden in Kontakt zu sein: Hilfen, die aus Deutschland geleistet werden können, sinnvoll an diese Menschen weiterzugeben. Wer braucht Medikamente, wem kann man eine Kur ermöglichen, wer ist noch fit genug, um jungen Menschen in Deutschland von dem so schwer fassbaren Grauen zu erzählen?
Dabei sind die Kontaktpersonen zwischen Freiburg und den östlichen Regionen Europas immens wichtig – als persönliche Vermittler und Ansprechpartner im direkten Wortsinn. Oft sind sie über die Jahre zu Freundinnen und Freunden der Überlebenden geworden: Die Letzten rücken enger zusammen. "Das System der Vertrauenspersonen ist das besondere an der Arbeit des Kolbe-Werks", bestätigt Dominika Jedrzejczak, 1941 geboren im Ghetto Brzesc (heute Ukraine), weil ihre Eltern als Unterstützer von Partisanen inhaftiert wurden. "Wir pflegen viel persönlichen Kontakt zu den Überlebenden."
Pfarrer Manfred Deselaers feiert mit der Gruppe der Ehrenamtlichen hier in Oswiecim einen Gottesdienst im Tagungshaus, dem Zentrum für Dialog und Gebet. Der Priester aus dem Bistum Aachen ist seit knapp 30 Jahren als Seelsorger in dem Zentrum tätig, direkt am ehemaligen Stammlager. Er hält das Kolbe-Werk für wichtig, "weil es beim Heilen an den tiefsten Wunden wie hier in Auschwitz ansetzt, an den dunkelsten Orten der Geschichte". Ein Schlüssel zu dem entstandenen Vertrauensverhältnis sei sicher, dass die Ehrenamtlichen alles persönlich bei den Menschen vorbeibringen. "Jedes Paket wurde so zur deutsch-polnischen Begegnung."
Kontakt zu Deutschen eigentlich vermeiden
Hilfen anzunehmen, dass sei am Anfang für manchen ehemaligen Häftling ein Problem gewesen, glaubt Deselaers: Diese Menschen benötigten natürlich Medikamente, aber Kontakt zu Deutschen wollten sie eigentlich vermeiden. Dass über die Arbeit des Kolbe-Werks neue Beziehungen entstanden sind, sei der eigentliche Verdienst der Initiative. Und solange es noch Überlebende gibt, ist für den Seelsorger die Arbeit des Werks auch noch nicht abgeschlossen.
"Wir haben zuhause nie über unsere Kriegserlebnisse gesprochen", erklärt Janina Ziemnik, wohl geboren 1939. Ihr genaues Geburtsdatum kennt sie nicht, weil ihre Mutter direkt nach der Einlieferung in das sogenannte Polenlager Siemianovice verstarb. Eine deutsche Frau, die in der Küche des Lagers arbeitete, hat ihr schließlich das Leben gerettet.
Als Lehrerin ist sie später in der Schule immer den in Polen üblichen Zeitzeugen-Berichten aus dem Weg gegangen, gesteht Ziemnik. "Ich habe immer eine Ausrede gefunden, an diesen Tagen nicht da zu sein." Zu groß war die Furcht, erneut mit dem Grauen der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Erst als Rentnerin habe sie begonnen, von ihrer Zeit im KZ zu sprechen und auch eine Kur des Maximilian-Kolbe-Werks angenommen. "Die Erholung, diese Menschlichkeit: Das hat mir wirklich geholfen."
Brücken bauen
Eine der Helferinnen bei solchen Kuraufenthalten war Ursula Fox, geboren 1938. Nach dem Krieg hat sie als deutsches Kind in der polnischen Schule Filme über die Foltermethoden der Nazis gesehen: "Ich bin im Boden versunken vor Scham. Das hat mich mein Leben lang begleitet." Mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit beim Maximilian-Kolbe-Werk versucht sie nun seit 30 Jahren, Brücken zu bauen – nicht nur ganz konkret durch ihre Übersetzungen, sondern auch durch den persönlichen Kontakt.
Sie übersetzt bei Zeitzeugengesprächen und organisiert unter anderem Ausflüge während Kuraufenthalten von KZ-Überlebenden: "Viele sagten, das sei der erste Urlaub ihres Lebens! Und wenn Du erlebst, dass Du einen Teil dazu beitragen kannst, dass diese Menschen, die ja unter uns Deutschen so leiden mussten, Freude erleben, dann wärmt das einem einfach das Herz." Das habe auch ihr geholfen, mit ihren einstigen Schamgefühlen umzugehen. Wieder ist es der persönliche Kontakt, der ein Stück Versöhnung schafft: "Diejenigen, die man erreicht: Deren Welt verändert sich schon."
Geschäftsführer Christoph Kulessa ist auch nach 28 Jahren noch von der Herzlichkeit der Ehrenamtlichen berührt: "Ich habe bei meiner Arbeit mit wunderbaren Menschen zu tun, sei es am Telefon, per Video-Schalte – oder eben auch vor Ort, wie heute". Zugleich sehe er die Zukunft realistisch. "Noch haben wir Arbeit. Wir haben immer gesagt: Solange noch Menschen da sind und unsere Hilfe brauchen, solange Geld da ist, so lange setzen wir uns ein."
Wie die Überlebenden werden auch die Spender immer älter, weiß Kulessa. "Geschätzt gibt es noch rund 12.000 Menschen in Mittel- und Osteuropa, die den Holocaust überlebt haben; knapp die Hälfte erreichen wir." Der Bedarf nehme ab, keine Frage: "Menschen sterben. Aber noch sind sie da – und noch sind wir da."