Schüller: Staat und Kirche müssen "unheilige Allianz" beenden
Der Staat schätzt die Wohlfahrtsverbände der Kirchen – ohne sie geht mancherorts nichts. Das sorgt nach Ansicht des Münsteraner Kirchenrechtlers Thomas Schüller für staatliche Beißhemmungen gegenüber der Kirche, für Privilegien und grundrechtsfreie Räume. Im Interview mit katholisch.de beklagt er, dass niemand in der Kirche ein Konzept für einen Wandel weg von überkommenen Strukturen der Volkskirche hat: Oft seien Bischöfe bei ihren Reformen nur Getriebene der Gerichte. Dagegen stellt Schüller seine Hoffnung auf eine Kirche, die sich auf den Auftrag Jesu rückbesinnt.
Frage: Professor Schüller, beginnen wir mit einem Quiz: "Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen." Wer hat's geschrieben: Thomas Schüller oder Benedikt XVI.?
Schüller: Das war natürlich Benedikt XVI.
Frage: Es könnte aber auch ein Schüller sein, oder?
Schüller: Das wäre ein Missverständnis. Ich vertrete nicht die Position, dass wir in der Kirche nur noch als fromme Menschen Gott loben und preisen sollen und darüber die eigentliche Botschaft des Evangeliums vergessen: dem Nächsten ungeachtet seiner Religion, seiner Hautfarbe, seiner Geschlechtlichkeit nahe zu stehen. Das ist gerade der Grund für die Erfolgsgeschichte des Christentums, dass Christen die Nächstenliebe aus ihrer Ausrichtung auf Gott hin so intensiv leben. Das hat übrigens auch Benedikt XVI. nach der Kritik an seiner einseitigen Freiburger Konzerthausrede korrigiert und mit seiner Enzyklika über die Liebe deutlich gemacht, dass die tätige Nächstenliebe untrennbar zum Christlichen gehört.
Frage: Dennoch sind Sie sehr skeptisch, was die weltliche Gestalt der Kirche angeht.
Schüller: Ich beschreibe in meinem Buch historisch, warum beide großen ehemaligen Volkskirchen heute noch so eine prominente Stellung haben, sowohl verfassungsrechtlich wie von ihrer faktischen politischen Bedeutung in vielen Segmenten der Gesellschaft, vor allem in Bildung und Pflege. Es ist auch nicht verkehrt, dass freie Träger Staatsaufgaben wahrnehmen: Dahinter steht das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre. Ich stelle aber in Abrede, ob das weiterhin so in diesem Umfang einfach weiter fortgeführt werden kann angesichts der religiösen Landschaft, die sich zunehmend pluralisiert hat, und dem Reputations- und Mitgliederschwund der Kirchen. Immer noch haben kirchliche Sozialträger Monopolstrukturen in vielen Regionen Deutschlands – da ist dann nichts mit der gesetzlich zwingend geforderten Diversität der freien Träger.
Frage: Im Staatskirchenrecht spricht man vom Kooperationsmodell. Sie sprechen von einer "unheiligen Allianz". Warum?
Schüller: Die Bezeichnung "Kooperationsmodell" gibt natürlich die religionsrechtliche Lage in Deutschland zutreffend wieder. Das war auch schlüssig, als das Grundgesetz entstand. Da waren die allergrößten Teile der deutschen Bevölkerung Mitglied in der katholischen oder evangelischen Kirche. Die starke rechtliche Stellung der Kirchen korrelierte mit ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Der Preis dafür ist das, was ich "unheilige Allianz" nenne. Der Staat hat mit der verfassungsrechtlichen Absicherung des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen einen faktisch nicht mehr rechtlich kontrollierten Freiraum gegeben, in dem sie staatliche Aufgaben wahrnehmen. Das führte dann dazu, dass es immer noch ein sehr eigentümliches kirchliches Arbeitsrecht gibt, das viel Unheil über die betroffenen Menschen gebracht hat, vor allem dann, wenn sie nicht die katholische Hochmoral lebten. Das haben staatliche Arbeitsgerichte bis weit nach der Jahrtausendwende sehr kirchenfreundlich gebilligt. Ähnliches gilt für den Bereich der sexualisierten Gewalt. Die staatlichen Behörden, Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte, haben die Kirchen mit Samthandschuhen angefasst. Das eigentlich auf Kooperation angelegte religionsverfassungsrechtliche System in Deutschland hat faktisch zu einer Eigengesetzlichkeit geführt. Ich bin daher der Ansicht, dass Kirchen, wo sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts Staatsaufgaben wahrnehmen, grundrechtsverpflichtet sind und damit nicht elementare Menschenrechte mit Füßen treten können, insbesondere was Frauen angeht.
Frage: Die Ampelkoalition will das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen angleichen und die Ablösung der Staatsleistungen angehen, bei der Kommission zur Reform des Abtreibungsparagraphen sind die Kirchen außen vor. Ist die "unheilige Allianz" am Ende?
Schüller: In Berlin haben wir tatsächlich eine eher kirchenkritische Koalition. Das ist aber viel Schaufensterpolitik: Der Koalitionsvertrag verspricht mehr, als er halten kann. Die eigentlichen Akteure der Religionspolitik sind in unserem Verfassungssystem die Länder und die Kommunen. In der Bundespolitik bekommen die Kirchen kaum noch einen Stich. Beim Michaelsempfang geben sich immer weniger führende Politiker die Klinke in die Hand, auch wenn es dieses Mal etwas besser war als im letzten Jahr, als gar kein Regierungsvertreter zum Empfang des Katholischen Büros gekommen war. Dennoch gibt es noch eine gewisse Zurückhaltung: Der Prüfauftrag zum kirchlichen Arbeitsrecht hat nach der von Gerichten erzwungenen Liberalisierung durch die Bischöfe keine hohe Priorität im Arbeitsministerium. Auch wenn die kirchlich Gebundenen nicht mehr so wahlrelevant wie einst sind, will man sich doch nicht mit der Kirche überwerfen, weil sie noch in den Bereichen Bildung und Pflege einen wesentlichen Beitrag leisten. Da kommen dann die Länder ins Spiel. Anders als der Bund brauchen die Länder und Kommunen die Kirchen noch.
Frage: Braucht man dort wirklich die Kirchen als Kirchen – oder nicht vielmehr nur ihre sozialen Einrichtungen?
Schüller: Die verbliebene Bedeutung kommt klar von ihrer Rolle im Sozialsystem her. Die Kirchen werden als verlässliche freie Träger geschätzt, sie haben eine Infrastruktur, die gut zur staatlichen passt – ganz anders als zum Beispiel Kita-Elterninitiativen, bei denen man sich nicht darauf verlassen kann, dass sie dauerhaft zur Verfügung stehen. Dadurch hinkt die Trägerstruktur der religiösen Landschaft in der Bevölkerung hinterher: In manchen Gegenden gibt es immer noch absolute religiöse Monokulturen in der Trägerlandschaft, obwohl selbst dort die Gesellschaft längst viel pluraler ist. Eigentlich sollen die freien Träger zusammen mit den staatlichen Stellen dafür sorgen, dass die Pluralität der Bevölkerung Niederschlag im sozialen System findet.
Frage: Andere religiöse Träger der jüdischen und der muslimischen Gemeinschaft sind viel kleiner als Caritas und Diakonie, und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände sind viel größer als ihre nichtkirchlichen Pendants. Lässt sich da überhaupt etwas ändern, um eine pluralere Trägerlandschaft zu erreichen?
Schüller: Noch ist das schwierig. Aber realistisch betrachtet hat die jetzige Situation keine Zukunft. Was jetzt passieren muss, ist tatsächlich noch eine offene Frage, darüber denke ich noch nach. Es wäre für unsere Zivilgesellschaft ein Armutszeugnis, gerade für die nicht religiös Gebundenen, wenn sie nur die Übermacht der kirchlichen Träger kritisiert, ohne selbst für eine Pluralisierung zu sorgen. Es ist ein interessantes soziologisches Phänomen, dass trotz der Kritik an den verfassten Kirchen und der abnehmenden Religiosität die Gesamtbevölkerung sich gewissermaßen auf dem Rücken der Kirche und des von ihr gestalteten Sozialsystems ausruht.
Frage: Hat die Kirche denn selbst ein Interesse daran, den von Ihnen geforderten Transformationsprozess einzuleiten? Wenn das verbliebene Ansehen der Kirchen gerade auf den sozialen Strukturen gründet, sind die Anreize doch eher gering, daran etwas zu ändern.
Schüller: Ich sehe in der Kirche in Deutschland zwei Fraktionen unter den Bischöfen: die Sauerteigfraktion und die Fraktion des heiligen Rests. Fünf, sechs Bischöfe fürchten vor allem eine Selbstsäkularisierung der Kirche, wenn nicht jeder Mitarbeiter nach der reinen Lehre lebt. Für sie sind lehramtstreue katholische Leuchttürme wichtiger als soziale Einrichtungen. Dann gibt es den größeren Teil der Sauerteigfraktion, die einsieht, dass es diese goldene Zeit nie gab, in der alle die kirchliche Hochmoral gelebt haben. Diese Bischöfe wollen selbstlos und ohne machtpolitische Absichten das realisieren, was Christus uns als Liebesgebot mit auf den Weg gegeben hat, nämlich ohne Ansehen der Person die unter die Räder Gekommenen, die Schwachen und die Entrechteten aufzurichten und ihnen zur Seite zu stehen. Die einen fremdeln fromm mit dem Status quo der kirchlichen sozialen Hilfsorganisationen, die anderen wollen die Gesellschaft weiter auch über tätige Nächstenliebe prägen. Ein überzeugendes Konzept für die von mir geforderte Transformation sehe ich aber nirgends.
Frage: Die Kirche wirkt eher getrieben, als dass sie aus eigener Kraft zu Reformen fähig ist. Die Reformen im Arbeitsrecht kamen aus Brüssel, Karlsruhe und Luxemburg, nicht aus den Bistümern.
Schüller: Ja, die Kirchen sind Getriebene der staatlichen Rechtsprechung und Gesetzgebung, gerade der europäischen. Das ist ein Armutszeugnis und ein besorgniserregendes Phänomen, dass man selten proaktiv auf Entwicklungen reagiert, sondern nur, wenn der äußere Druck so groß ist. Das hat man beim kirchlichen Arbeitsrecht gut gesehen, wo es nach der Fernsehdokumentation "Wie Gott uns schuf" plötzlich zum kirchlichen "Pinkwashing" kam: Verantwortliche, die noch kurz zuvor Priester abgemahnt haben, die gleichgeschlechtliche Paare segneten, wollten plötzlich schon immer hinter Reformen der Loyalitätspflichten gestanden haben. Authentisch und glaubwürdig sind solche Sinneswandel nicht. Mir wäre eine katholische Kirche lieber, die von sich aus mit überzeugenden theologischen Argumenten erkennt, wie sie bei den Leidenden in der Gesellschaft sein kann, und nicht weil ein Gericht oder eine TV-Dokumentation sie dazu drängt.
Frage: Wie groß ist Ihre Hoffnung darauf?
Schüller: Ich gebe die Hoffnung nie auf, ich bin rheinischer Katholik. Und es gibt ja auch kluge und vorausschauende Überlegungen in der Kirche: Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck etwa hat prognostiziert, dass sich die Kirche von einer Volkskirche zu einer Kirche des Volks weiterentwickeln wird, die selbstlos und ohne politische Absichten Orte schafft, wo Menschen erfahren, zu was uns die Liebe Christi drängt. Das ist jetzt fromm formuliert, aber ich halte das für ein überzeugendes Bild der Kirche von morgen. Wir sollten den Untergang von überkommenen kirchlichen Strukturen und den Verlust von Einfluss nicht beklagen, sondern als schöpferische Minderheit mutig und mit Nächstenliebe Christus in der Gesellschaft bekennen.