Ehemaliger Präsident des Bundestags zu Rechtspopulismus, Migration und Kirche

Das katholische "Mundwerk der Ossis": Wolfgang Thierse wird 80

Veröffentlicht am 22.10.2023 um 12:00 Uhr – Von Birgit Wilke (KNA) – Lesedauer: 

Berlin ‐ Er ist ein Urgestein der Politik nach dem Fall der Berliner Mauer: der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Der Katholik und SPD-Politiker wird heute 80 Jahre alt. Im Interview verrät er, welche Themen ihn im Ruhestand umtreiben.

  • Teilen:

Oberflächliche Schuldzuweisungen an die Politik bringen ihn immer noch in Rage. Im Interview spricht der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in Berlin über berechtigte Ängste von Menschen – und richtet Erwartungen an die Kirchen. Heute feiert er seinen 80. Geburtstag.

Frage: Die AfD erzielt inzwischen nicht nur in ostdeutschen Bundesländern hohe Wahlergebnisse, sondern auch in westlichen. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Thierse: Es ist nun endgültig klar, dass die AfD kein allein ostdeutsches Phänomen ist. Die Entwicklung ist erschreckend. Was mich aber auch ärgert, sind die oberflächlichen Schuldzuweisungen, etwa nach den Landtagswahlen – vor allem in Richtung der gegenwärtigen Bundesregierung. Wenn wir ringsum blicken, sehen wir doch: In nahezu allen europäischen Demokratien gibt es das gleiche Phänomen, das Erstarken rechtspopulistischer, rechtsextremistischer Kräfte.

Wir müssen nach tieferen Ursachen suchen, und die liegen in der Dramatik der gegenwärtigen Veränderungen. So viel stürmt auf die Menschen ein: Globalisierung, Migrationsströme, Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz. Und vor allem die drohende Klimakatastrophe. Die zu verhindern, verlangt schmerzende Veränderungen von uns. Das erzeugt Ängste, Unsicherheit und Abwehr. Das macht Menschen verführbar für einfache und radikale Botschaften.

Frage: Was kann die Politik, aber auch die Gesellschaft tun?

Thierse: Die Politik muss noch viel ehrlicher kommunizieren. Abstrakt sagt jeder, wir brauchen ökologische Politik, aber wenn es bei dem einzelnen ankommt, dann sind viele Menschen voller Wut und Abwehr. Und dasselbe gilt beim Thema Migration. Im Grundsatz wird jeder sagen, wir müssen menschlich anständig sein.

Aber in dem Moment, wo immer mehr Menschen ankommen in einer kleinen Gemeinde, in der kleinen Stadt, und man weiß nicht, wie man das alles regeln soll, dann wird es zu einer Art Verteilungskonflikt. Politik kann keine Wunder versprechen, aber sie muss erklären, warum sie was macht, mit welcher Hoffnung, mit welcher Zukunftsorientierung. Sie muss den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass die Lasten gerecht und fair verteilt werden, dann sind sie auch erträglicher.

Ich erwarte aber auch, dass die Zivilgesellschaft handelt, dass wir das Gespräch suchen von Nachbar zu Nachbar, von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied, von Kollege zu Kollege. Ich habe eine ganz einfache Erfahrung gemacht: Im Gespräch mit Politikern entsteht immer eine Art Vorwurfsdistanz. Da richtet sich die Wut auf den da oben, den Politiker. Bei einem Gespräch von Nachbar zu Nachbar ist das nicht der Fall.

Frage: Stichwort Migration. Sie haben mal gesagt, dass Flüchtlingen und anderen Migranten verdeutlicht werden müsse, dass das aktive Erinnern an den Holocaust in Deutschland Staatsraison ist. Das scheint mit Blick auf einige Kundgebungen mit Jubel für die radikalislamistische Hamas nicht überall gelungen zu sein.

Thierse: Wir können nur eine faire und gerechte Migrationspolitik betreiben, wenn wir dazu stehen, dass es Begrenzungen und klare Regelungen braucht, dass wir von denen, die zu uns kommen, auch Integrationsanstrengungen erwarten können. Sonst gelingt dieses Zusammenleben nicht, sonst werden die Konflikte schärfer, Ängste und Ablehnung größer bei der einheimischen Bevölkerung.

Schließlich kommen Menschen nicht in ein geschichtlich und kulturell leeres Land, sondern in eines, das durch Geschichte und Kultur stark geprägt ist. Dazu gehört auch die Erinnerung an den Holocaust und die daraus resultierende moralisch-politische Verpflichtung in der Gegenwart. Die Politik muss dafür den Rahmen setzen. Gefordert sind da auch Schulen, Kultureinrichtungen, aber auch die Medien.

Bild: ©KNA

2005 traf Wolfgang Thierse als Bundestagspräsident Papst Benedikt XVI. im Rahmen des XX. Weltjugendtags in Köln.

Frage: Sie sind kirchlich selbst sehr stark engagiert. Wie nehmen Sie die Rolle der Kirchen als Wertevermittler wahr? Immerhin gehören nur noch weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland einer der beiden großen Konfessionen an, Tendenz sinkend.

Thierse: Zunächst mal lasse ich mich durch die Zahlen nicht ganz so sehr beeindrucken. Und man kann es ja auch anders sehen: Knapp die Hälfte gehört einer der beiden christlichen Kirchen an. Zudem gibt es noch die Menschen, die in einer anderen Religion beheimatet sind. Der Satz, dass Deutschland ein säkulares Land ist, ist also zumindest ergänzungsbedürftig. Und auch die Säkularität wird in Deutschland höchst unterschiedlich gelebt.

Zudem komme ich aus der DDR, in der die beiden Kirchen Minderheiten waren, ich bin also einigermaßen gestählt. Trotzdem bedauere ich natürlich, dass die Wahrnehmung der Kirchen eine hochproblematische Schlagseite bekommen hat. Vor allem die katholische Kirche wird mit dem Missbrauchsskandal verbunden. Immer weniger Menschen sind bereit, sich dort zu engagieren. Nach meiner Einschätzung werden auch die Stimmen der Bischöfe zu gesellschaftlichen Problemen viel weniger wahrgenommen. Das bedaure ich sehr. Die Kirchen haben moralische Grundüberzeugungen und verkünden Hoffnung. Sie können auch für aktuelle Debatten wichtige Beiträge liefern. Und wenn sie nicht direkt aus der Politik angefragt werden, können sie sich ja trotzdem äußern.

Frage: Auch der Ampelregierung wird immer wieder eine Religionsferne vorgeworfen...

Thierse: Wenn die öffentliche Überzeugungsfähigkeit der Kirchen abnimmt, nimmt natürlich auch ihre Resonanz in den politischen Parteien ab. Die Ampel ist da ein Abbild der Pluralisierung unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass die Mehrheit der Engagierten in der Sozialdemokratie noch in irgendeiner Weise kirchlich geprägt ist. Natürlich sind die Jüngeren, die in den Bundestag nachrücken, viel weniger kirchlich sozialisiert, für die ist das etwas ferner. Da gilt es dann auch zu erklären, was religiöse Sozialisation ist und was Kirche und Religion beitragen können zum gemeinsamen Wohl.

Frage: Wie blicken Sie als ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken auf anstehende Reformen und die Weltsynode in Rom?

Thierse: Ich halte Reformen für notwendig, um der inneren Glaubwürdigkeit der Kirche willen, nicht, weil wir damit vielleicht Mitglieder zurückgewinnen können. Aber wer katholisch ist, weiß, dass man einen langen, langen Atem braucht. Ich hoffe bei der Weltsynode zumindest auf kleinere Veränderungen, auf mehr Möglichkeiten, Vielfalt in der Kirche zu leben. Pluralität gibt es ja längst. Wie die katholische Kirche in der Welt gelebt wird, unterscheidet sich teilweise sehr stark. Das müsste auch im Vatikan stärker gesehen werden, aber viele scheinen dort offensichtlich noch in ihrer ganz eigenen Welt zu leben.

Zugleich wünsche ich mir aber, dass auch reformeifrige Katholiken erkennen, dass es nicht überall gleich zugehen muss. Die Demokratie verkraftet es, dass es in ihr Räume und Institutionen gibt, die nicht gleichermaßen so strukturiert und geregelt sind wie die Institutionen der politischen Demokratie. In einem Krankenhaus oder der Universität geht es auch anders zu als etwa im Bundestag.

Frage: Sie haben in einem Interview mal gesagt, dass Sie sich – als Ostdeutscher, Sozialdemokrat und Katholik – als eine kurios kostbare Mischung empfinden. Was macht den ostdeutschen Politiker Thierse aus?

Thierse: Es gibt nicht so furchtbar viele Dinge, von denen ich sagen würde, ich bin ein bisschen stolz darauf. Aber darauf, dass ich als erster Ostdeutscher in ein Verfassungsamt gewählt worden bin, lange vor der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem ehemaligen Bundespräsidenten Gauck, darauf bin ich doch ein wenig stolz. In meiner Rede nach der Wahl zum Bundestagspräsidenten habe ich betont, dass meine Wahl wohl nicht nur mich meinte, sondern die Ostdeutschen insgesamt, deren Repräsentant ich war.

Und das Schönste, was je politisch über mich gesagt wurde, war: "Thierse, das Mundwerk der Ossis". So habe ich auch meine Rolle verstanden, für die sprechen zu sollen und zu dürfen, die keine Sprache hatten, oder denen keiner zuhörte. Ich habe es als ein großes Geschenk oder fromm gesagt, es als eine Gnade empfunden, für die Ostdeutschen sprechen zu können. Noch heute bedanken sich Leute dafür bei mir auf der Straße, obwohl ich doch schon seit zehn Jahren "weg vom Fenster" bin.

Von Birgit Wilke (KNA)