Expertin: Rassismuskritisch denken lernen

Ist die Zeit reif für den ersten Schwarzen Bischof in Deutschland?

Veröffentlicht am 07.11.2023 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 
Ist die Zeit reif für den ersten Schwarzen Bischof in Deutschland?
Bild: © Mira Jung

Koblenz ‐ In der Kirche gibt es rassistische Strukturen, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Gläubigen behindern, sagt die Theologin und Rassismusforscherin Marita Wagner im Interview mit katholisch.de. Sie verweist im Nachgang der Weltsynode auf Chancen, vom Süden zu lernen.

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Eine neue EU-Studie zeigt: Schwarze Menschen werden in Deutschland am häufigsten rassistisch diskriminiert. Im katholisch.de-Interview identifiziert die Theologin und Rassismusforscherin Marita Wagner rassistische Strukturen und Denkmuster in der katholischen Kirche in Deutschland und deren Auswirkungen auf weltkirchliches Zusammenleben.

Frage: Frau Wagner, hat die Weltsynode den Weg für einen Schwarzen Papst geebnet?

Wagner: Diese Frage habe ich mir schon 2021 gestellt, als ich neben der katholisch-theologischen Fakultät in Salzburg die Ausstellung "This World Is White No Longer" gesehen habe. Eines der Portraits zeigte den Künstler Samuel Fosso als Schwarzen Papst in weißer Soutane. Damit hinterfragt er weiße Machtstrukturen in der katholischen Kirche und das Papstamt als solches. Das Bild irritierte mich, weil es mir meine eigene westliche und weiß geprägte theologische Ausbildung in Deutschland vor Augen führte. Die gerade beendete erste Etappe der Weltsynode in Rom macht deutlich, wie wichtig es ist, den eigenen theologischen Diskurs in Deutschland zu diversifizieren. Dazu sollten wir weltweite Perspektiven in und auf Theologie und Kirche einbeziehen. Deshalb empfand ich es auch als überraschend, dass – gerade auch mit Blick auf den deutschen Synodalen Weg – das kritische Hinterfragen der Geschlechterordnung und das Verständnis von Gender in der Kirche als neuartiger Denkprozess angesehen wurden. Denn gerade im globalen Süden und den dortigen Kirchen und Theologien werden diese kritischen Anfragen seit vielen Jahrzehnten formuliert.

Frage: So neu sind diese Perspektiven also gar nicht?

Wagner: Genau. Ich frage mich, ob wir in der Vergangenheit in der deutschen Ortskirche offen genug waren, diese polyphonen Stimmen zu hören und zu rezipieren. Die hiesige katholische Kirche versteht sich oftmals als eine lehrende und weniger als eine lernende, was sicher auch systembedingt ist. Theologinnen und Theologen des globalen Südens betonen, dass sie aufgrund kolonialer Erfahrung einen Verlust ihrer eigenen Identität erfahren haben. Damit sei es unter anderem auch zur Schwächung ihres kreativen Selbstverständnisses gekommen. Dies postulierte bereits 1977 die Ökumenische Vereinigung von Theologinnen und Theologen der Dritten Welt. Auch identifizierten sie Sexismus, Rassismus und Kapitalismus als Quellen der Unterdrückung, die eine Inkulturation des Christentums in den eigenen lokalen Kontext herausforderten. Die Weltsynode hat gezeigt, dass es unter den Teilnehmenden des globalen Südens nicht nur konservative theologische Positionen gibt. Die "Weltkirche" als vermeintlich homogenes Konstrukt auf diese einseitige Position festzuschreiben und daher von der Unmöglichkeit von Veränderungsprozessen zu sprechen, wird vielen Menschen und ihrem Selbst- sowie Glaubensverständnis nicht gerecht.

Frage: Können Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?  

Wagner: Bevor die Missionare ins südliche Afrika kamen, war in der Sprache Setswana das Wort für Gott "Modimo". Modimo war weder männlich noch weiblich konnotiert, also geschlechtsneutral. Erst mit der christlichen Mission wurde "Gott" zu "Gott Vater" und folglich als Mann gelesen. Auf diese Weise wurde patriarchales Denken innerhalb der Gesellschaft gestärkt, was heute im südlichen Afrika kritisch artikuliert wird. Vor der Christianisierung waren viele afrikanische Gesellschaften matrilinear organisiert. Es ist also wichtig, diese kolonialen Verschiebungen und historischen Prozesse aufzuarbeiten.

Teilnehmer der Weltsynode
Bild: ©Vatican Media/Romano Siciliani/KNA

Zwei Teilnehmerinnen und zwei Teilnehmer, darunter eine Ordensschwester, umarmen sich während der Weltsynode am 23. Oktober 2023 im Vatikan.

Frage: Wie wird hierzulande auf „die Weltkirche“ geschaut?

Wagner: Ich habe den Eindruck, dass wir im deutschsprachigen theologischen Diskurs unter diesem Terminus meist auf Afrika, Asien und Lateinamerika verweisen. Mit Blick auf Deutschland zeigt sich allerdings, dass 26,7% der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte haben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete Deutschland daher auch als "Migrationsgesellschaft", was wiederum bei vielen Menschen Irritation und Missmut hervorgerufen hat. Warum fällt es so schwer, diese Vielfalt unserer Gesellschaft anzuerkennen? Dieser Anteil wird sich im Übrigen mittelfristig weiter erhöhen, weil schon heute 40 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren eine Migrationsbiografie haben. Das heißt: Unsere Gesellschaft wird zunehmend diverser. Die Vorstellung einer weißen "biodeutschen" Gesellschaft war und ist ein Mythos.

Frage: Gilt das auch für die katholische Kirche in Deutschland?

Wagner: Wenn ich an theologischen Veranstaltungen, insbesondere im akademischen Kontext, oder Gottesdiensten teilnehme, sehe ich oft eine sehr homogene, weiß sozialisierte Gemeinschaft und frage mich, wo die übrigen Menschen sind. Warum wird die Vielfalt unserer Gesellschaft oft nicht in unseren kirchlichen Strukturen und Räumen sichtbar? Wenn ein Viertel der Gesellschaft eine international geprägte Biografie hat, dann ist "Weltkirche" nicht erst in Afrika, Asien oder Lateinamerika, sondern bereits mitten unter uns in der deutschen Ortskirche präsent. Wie gelingt es, Menschen und ihre verschiedenen Lebenswirklichkeiten, ihre Themen und Perspektiven, ihre Talente, Sorgen und Hoffnungen anzusprechen, damit eine vertrauensvolle Gemeinschaft entstehen kann? Hier sehe ich Handlungsbedarf.

Frage: Was kann die Kirche in Deutschland von People of Color lernen?

Wagner: People of Color haben aufgrund ihrer Erfahrung von Marginalisierung und Diskriminierung ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für ausgrenzende Strukturen. Sie sind dabei keine passiven Opfer, im Gegenteil: Sie mussten früh lernen, sich in verschiedenen Milieus zu bewegen, verschiedene Sprachen und Sprachspiele zu beherrschen, um in einer Welt zu überleben, die ihnen oft ein gleichwertiges Menschsein abspricht. Das bedeutet, dass sie über interkulturelles Wissen und einen multiperspektivischen Blick verfügen, der bedeutsame Chancen für das Zusammenleben in einer diversen Gesellschaft und Kirchengemeinschaft birgt.

Das gelochte Metallkreuz des Synodalen Weges
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Das gelochte Metallkreuz des Synodalen Weges während der vierten Synodalversammlung am 8. September 2022 in Frankfurt.

Frage: Wie sähe ein solcher Perspektivwechsel konkret aus?

Wagner: Es wäre möglich, "Weißsein" in Kirche und Theologie nicht mehr mit "Herrschersein" oder "Reinheit" gleichzusetzen, sondern Kirche durch die Augen widerstandsfähiger Menschen zu sehen, die aktiv für Veränderungen und ein Leben für alle Menschen in Würde kämpfen. Es gibt in afrikanischen Kulturen beispielsweise den Ansatz des afrikanischen Palavers, bei dem Entscheidungen einer Gemeinde als Gemeinschaft gefällt werden. Alle Mitglieder haben ein Rede- sowie Stimmrecht. Es wird also so lange miteinander argumentiert und gerungen, bis eine gemeinsame Entscheidung gefällt wird. Es wäre deshalb fatal, – entsprechend der verbreiteten Meinung – afrikanische Bischöfe bzw. Schwarze Priester sowie Schwarze Katholikinnen und Katholiken in Deutschland pauschalisierend auf eine konservative Meinung festzuschreiben und gegen andere Menschen zu polarisieren.

Frage: Bereits im Jahr 2020 erschien die sogenannte Afrozensus-Studie, die Schwarzes Leben in Deutschland statistisch dokumentierte. Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus dieser Studie für die Verantwortung von Kirche?

Wagner: Schwarze Menschen und Menschen afrikanischer Herkunft, die in Deutschland ihren Hauptwohnsitz haben, haben an der Afrozensus-Studie teilgenommen, um ihre Erfahrungen zu teilen – dazu zählen auch rassistische Erfahrungen und Alltagsdiskriminierung. Die Studie zeigt auf, dass die Kirche als vorletzte Organisation benannt wird, der sich Schwarze Menschen und Menschen afrikanischer Herkunft im Falle erlebter rassistischer Diskriminierung anvertrauen. Das sollte zu denken geben. Es fehlt anscheinend an Vertrauen, innerhalb der Kirche Hilfe zu suchen. Hier braucht es rassismuskritische pastorale und seelsorgerische Angebote.

Frage: Was kann konkret getan werden?

Wagner: Die Perspektiven des globalen Südens sollten bewusster in der deutschsprachigen Theologie aufgegriffen werden, beispielsweise im Religionsunterricht in Schulen sowie den theologischen Fakultäten – und das nicht als "schmuckes Beiwerk", sondern als integraler Bestandteil. Weiterhin ist es wichtig, sich als weiß sozialisierte Menschen mit dem eigenen rassistischen Denken auseinanderzusetzen. Damit meine ich nicht den bewusst intendierten Rassismus rechtskonservativer Menschen und Gruppierungen. Ich meine das oft unbewusst rassistisch-stereotype Denken, in das wir von Kindesalter an hineinsozialisiert werden. "Rassistisch sozialisiert sein" und "Rassist/in sein" sind keine deckungsgleichen Begriffe. Ersteres ist unverschuldet, wir tragen diese Stereotypen und Denkbilder in uns, weil wir sie erlernt haben. Das bedeutet aber zugleich, dass wir sie auch aktiv verlernen können, wenn wir dazu bereit sind.

Bild: ©Werkstatt Ökonomie e.V.

Boniface Mabanza, Mitarbeiter der Werkstatt Ökonomie, bei der "Afrika neu denken Konferenz" am 22. September im Haus am Dom.

Frage: Wer leistet denn diese Aufklärungsarbeit?

Wagner: Dies wird beispielsweise im Rahmen unseres bildungspolitischen Vereins der "Werkstatt Ökonomie" (WÖK) getan. Der Trägerkreis besteht unter anderem aus kirchlichen Partnerorganisationen. Wir bringen uns in rassismuskritischen Netzwerkgruppen ein und stellen fest, dass oft People of Color diejenigen sind, die diese Aufklärungsarbeit allein leisten, obwohl sie diejenigen sind, die rassistisch diskriminiert werden. Deshalb ist es uns wichtig, selbstkritisch über die eigene weiße Sozialisierung in der Gesellschaft und Verantwortung in globalen Ausbeutungsverhältnissen zu sprechen.

Frage: Welche offenen Angebote gibt es im kirchlichen Raum, um sich lernend mit Rassismus auseinanderzusetzen?

Wagner: Im Jahr 2015 hat die "Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika", die zum bildungspolitischen Verein "Werkstatt Ökonomie" gehört, das Konferenzformat "Afrika neu denken" initiiert. Diese Plattform dient als Ort des Austauschs und der Begegnung. Ziel ist es, stereotype Afrikabilder und -diskurse aus postkolonialer Perspektive aufzubrechen. Dazu werden afrikanische Expertinnen und Experten sowie Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland als Referentinnen und Referenten eingeladen, die für sich selbst sprechend ihre Perspektiven mit gesellschaftlichen Akteuren teilen. Dort werden Afrikas Potentiale und Zukunftswege thematisiert. Ebenso wird über anhaltende neokoloniale Abhängigkeiten, sowie über Forderungen von Restitution und Reparation, angesichts begangener kolonialer Gewalt, wie beispielsweise dem deutschen Genozid in Namibia, gesprochen.

Frage: Um die Ausgangsfrage auf Deutschland anzuwenden: Können wir in naher Zukunft hierzulande den ersten Schwarzen Diözesan- oder Weihbischof begrüßen?

Wagner: Die Zeit ist überreif, dass Menschen verschiedenster Biografien und sozialer Herkünfte kirchliches Zusammenleben kreativ mitgestalten und Entscheidungsprozesse gleichberechtigt mit verantworten. Das bedeutet unter anderem, Priester, etwa aus Nigeria oder Indien, nicht nur auf eine funktionale Rolle als Sakramentenspender zu reduzieren, und mit ihrer Hilfe die personellen Lücken aufgrund des Priestermangels zu füllen. Wir haben auf der einen Seite diesen internationalen Austausch, weil wir Weltkirche auf globaler Ebene sind, aber wir sind eben auch Weltkirche hier vor Ort. Wie können bereits in Deutschland lebende Menschen mit internationaler Biografie und Perspektive mit ihren Potentialen eingebunden werden? In jedem Fall ist es an der Zeit, Platz zu machen für all jene, die bislang überhört oder bewusst ausgeschlossen werden. Ein abschließender Gedanke: Mit der Menschwerdung hat Gott das Ja zum Menschen in Liebe gesprochen und dessen Gottesebenbildlichkeit bestätigt. Können wir aber Gott und Gottes erlösende Liebe annehmen, wenn wir gleichzeitig die Gottesebenbildlichkeit in unserem Nächsten, unserer Nächsten verkennen? Wichtig scheint mir daher zu sein im Blick zu behalten, in welchem Menschen sich Gott inkarniert hat: in einer jüdischen Person of Color. 

Von Mario Trifunovic

Hinweis

Im Verlauf des Interviews wird der Begriff "Schwarz" großgeschrieben, denn er soll in diesem Kontext hervorheben, dass er nicht auf die Hautfarbe abzielt, sondern eine politische Selbstidentifikation darstellt. Ebenso wird der Begriff "Schwarze Menschen" von Personen mit Wurzeln in afrikanischen, karibischen oder afro-amerikanischen Gemeinschaften als Selbstbezeichnung genutzt.