Interview mit scharfer Franziskus-Kritik offline genommen

Müller unterstellt Papst Franziskus Häresien – das ging wohl zu weit

Veröffentlicht am 09.11.2023 um 10:30 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Front Royal/Vatikanstadt ‐ Seit er von Franziskus geschasst wurde, irrlichtet Kardinal Gerhard Ludwig Müller als Papstkritiker und Gegenlehramt durch die Öffentlichkeit. Immer schärfer ist seine Kritik – nun scheint er den Bogen überspannt zu haben. Ein besonders deutliches Interview ist verschwunden.

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Gute Nachrichten für Papst Franziskus: Er darf erst einmal Papst bleiben – findet zumindest Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Zwar habe Franziskus der Sache nach immer wieder eine Vielzahl von Häresien verbreitet, für einen Amtsverlust fehle es aber an einem Akt der formalen Häresie, stellte der ehemalige vatikanische Chefdogmatiker in einem am Dienstag veröffentlichten Interview mit der reaktionären papstfeindlichen US-Plattform "LifeSiteNews" fest. Wenn er es denn gesagt hat. Denn auch wenn die scharfe Papstkritik in gönnerhaftem Ton zum Auftreten Müllers passt: Das Interview, das katholisch.de in der ursprünglich veröffentlichten Fassung vorliegt, ist seit Mittwoch nicht mehr online zu finden. Kommentarlos wurde es von der Seite genommen, die Adresse führt nur noch zu einer Fehlermeldung. 

Für die Echtheit des Interviews spricht, dass er dem Portal regelmäßig exklusive Inhalte zur Verfügung stellt sowie die Erlaubnis für Zweitveröffentlichungen erteilt. Möglicherweise enthielt das jüngste Interview aber selbst für Müllers Verhältnisse zu viel Sprengstoff. Der Papst fördere eine "Häresie der Tat" durch seine indirekte Unterstützung und Tolerierung der Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Warum zeigt sich der Papst etwa mit LGBT-Aktivisten und nicht mit einem Vater, einer Mutter und ihren fünf Kindern, fragt der Kardinal. Das sei typisch: Offene Häresien würden selten gelehrt. Stattdessen würden sie über den Weg der Pastoral eingeführt. Außerdem schicke der Papst seinen neuen Glaubenspräfekten vor: Was Kardinal Víctor Fernández zur Kommunion von wiederverheirateten Geschiedenen gesagt hat, sei hart an der Grenze zu einer formalen Häresie.

Kardinäle in der sixtinischen Kapelle vor dem Konklave im Jahr 2013
Bild: ©picture alliance/AP Photo (Archivbild)

2013 wählte das Kardinalskollegium den argentinischen Erzbischof Jorge Mario Bergoglio zum Papst. Kardinal Müller scheint sich nicht darauf festlegen zu wollen, dass dabei alles mit rechten Dingen zuging.

Die seit der Wahl von Papst Franziskus kursierenden Verschwörungsmythen einer ungültigen Papstwahl weist er nicht zurück. Seine Gesprächspartner bringen die Variante von unzulässigen angeblichen Absprachen unter progressiven Papstwählern ins Spiel. Müller gibt zu Protokoll, dass es schwierig sei zu beurteilen, ob die Wahl gültig war oder nicht, "aber am Ende wurde er eindeutig von der Mehrheit gewählt, und es gab ja auch keine qualifizierten Einwände gegen das Verfahren", so Müller, der erst von Franziskus zum Kardinal erhoben wurde und daher selbst nicht an dem Konklave 2013 beteiligt war. Selbst wenn es bei der Wahl Unregelmäßigkeiten gegeben habe, seien die nun de facto ohnehin geheilt dadurch, dass Franziskus sein Amt als Papst ausübt. Das größte Problem an Zweifeln an der Legitimität von Papst Franziskus ist für Müller das Chaos, das dadurch entstehen würde. Einwände würden mehr Schaden als Nutzen bringen, und da müsse man das Wohl der Kirche im Blick behalten.

Kühles Verhältnis zum Papst schon als Glaubenspräfekt

Seit seiner überraschenden Abberufung als Glaubenspräfekt im Jahr 2017, nach Ablauf seiner ersten fünfjährigen Amtszeit, positioniert sich Müller immer deutlicher als Gegner von Papst Franziskus. Kühl war das Verhältnis zwischen dem konservativen Deutschen und dem sich progressiv gebenden Argentinier indes schon während seiner Zeit in der Glaubenskongregation. 2015 gab Müller in einem Interview zu Protokoll, dass er sich selbst als eine Art Ausputzer eines theologisch chaotischen Pontifikats sieht: "Papst Franziskus ist sehr pastoral, und die Glaubenskongregation hat die Aufgabe, ein Pontifikat theologisch zu strukturieren." Sympathien dürfte er sich damit beim Papst kaum eingespielt haben.

Ekklesiologisch bewegt sich Müller auf einem schmalen Grat: Als Hüter der Orthodoxie kann er nicht an den Papst-Dogmen des Ersten Vatikanums vorbei. Das Jurisdiktions- und das Lehrprimat setzen bischöflicher Kritik am Papst und dessen souveränem Handeln enge Grenzen. Aussagen wie die, ein Papst könne "nicht alles tun und lassen, wie es gerade seinem persönlichen Gusto entspricht", stehen in Spannung zu den umfassenden dogmatisierten Vollmachten des Bischofs von Rom, wie der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke in einem Gastbeitrag für katholisch.de ausführte. Als Dogmatiker kann Müller wie jeder Theologe wissenschaftliche Positionen verteidigen, als Katholik wie jeder Gläubige Kritik üben, als Bischof und Kardinal dem Papst kollegial Ratschläge geben. Aber schon als Glaubenspräfekt hatte er nur eine Dienstfunktion für den Papst und keine Kontrollfunktion – umso weniger jetzt.

Die Opposition zum Papst verschärfte sich in den vergangenen Jahren immer mehr. Das einzige Kirchenamt, das Müller derzeit ausübt, scheint ihn nicht auszufüllen: 2021 berief Papst Franziskus den Dogmatiker ohne kirchenrechtliche Qualifikation als Richter an die Apostolische Signatur, das oberste Gericht der Kirche. Mit Beiträgen zur Kanonistik ist der Dogmatiker seither nicht aufgefallen, wohl aber mit großem Sendungsbewusstsein: Ohne den überragenden theologischen Sachverstand von Kardinal Müller kann die Kirche nicht auskommen. Glaubt Kardinal Müller. 2019 veröffentlichte er ein Glaubensmanifest "angesichts sich ausbreitender Verwirrung in der Lehre des Glaubens" – laut Müller als Antwort auf das Flehen vieler Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien um ein "öffentliches Zeugnis für die Wahrheit der Offenbarung".

Erzbischof Carlo Maria Viganò
Bild: ©picture alliance/AP Photo/Patrick Semansky (Archivbild)

Erzbischof Carlo Maria Viganò war von 2011 bis 2016 Nuntius in den USA. Heute gilt er als einer der größten Gegner von Papst Franziskus.

Im Jahr darauf unterzeichnete er ein Manifest des ehemaligen US-Nuntius und Erzbischofs Carlo Maria Viganò, das alle klassischen Topoi rechtsradikaler Verschwörungsmythen enthielt: Ominöse "fremde Mächte" und "supranationale Einheiten", eine "Politik der drastischen Bevölkerungsreduzierung", einen "Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung" witterte Viganò, Müller unterzeichnete. Später distanzierte er sich halbherzig und bezeichnete das Papier als "Appell zum Nachdenken", das er unterzeichnet habe, weil er Viganò, dem "übel mitgespielt wurde", nicht schroff absagen wollte. 2021 aber legte Müller noch einmal nach und sagte in einem Interview, die Corona-Pandemie werde genutzt, um "die Menschen jetzt gleichzuschalten" und einer "totalen Kontrolle" zu unterziehen. Die Aussagen Müllers fassten unter anderem der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, und der Zentralrat der Juden als antisemitische Chiffren auf. Auch die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) distanzierte sich deutlich. Müller indes zeigte sich beleidigt und wies die Kritik zurück. Sie komme von Leuten, "die nicht mal wissen, wie man eine hebräische Bibel überhaupt aufschlägt, geschweige denn, dass sie einen Satz lesen können, die werfen dann einem altgedienten Theologieprofessor Antisemitismus vor und wissen eigentlich vom Alten Testament gar nichts".

Der Papst ignoriert und umarmt

Papst Franziskus scheint weiter auf seine Politik des Ignorierens und Umarmens zu setzen: Nach der Berufung an die Apostolische Signatur folgte in diesem Jahr die Berufung Müllers als Mitglied der Weltsynode. Die Einbindung seines Kritikers wurde Franziskus aber nicht gedankt. Als erster Bischof unter den Synodalen ging Müller nach Beginn der Weltsynode an die Öffentlichkeit und zeigte sich sogar verhalten optimistisch. Die Erfahrungen in seiner Tischgruppe seien sehr gut gewesen. Zugleich setzte er aber auch den Anker für spätere Kritik: Zum Weltbild Müllers gehört, dass alle, die nicht der Lehre der Kirche und damit seiner Position folgen, von dunklen Kreisen und päpstlichen Ränken fremdgesteuert werden. Man müsse abwarten, in welche Richtung die Synode am Ende gehen werde und "welche Entscheidungen hinter den Kulissen getroffen werden".

Auch später hielt es Müller mit der päpstlich auferlegten Zurückhaltung der Synodalen in der Öffentlichkeit nicht so genau. Seine Einlassung in der Synodenaula wurde entgegen der Geschäftsordnung mit seiner Erlaubnis öffentlich. Seinen Bruch der Vertraulichkeit rechtfertigte er damit, dass es "für Häretiker und Globalisten" auch kein päpstliches Geheimnis gebe. Regelmäßig äußerte sich Müller während der ganzen Synode, vor allem um vor einer "feindlichen Übernahme" der Kirche durch "LGBT-Irrsinn" zu warnen, aber auch, um sich zum Soutane-Tragen in der Synodenaula zu bekennen.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller verlässt in Soutane die Synodenaula
Bild: ©KNA/Paolo Galosi/Romano Siciliani

Auch wenn fast alle anderen Bischöfe in der Synodenaula schwarzen Anzug tragen: Er nicht. Kardinal Müller ist auch modisch ein Bekenner.

Im Vatikan scheint Müller der Resonanzraum zu fehlen. Der Papst ignoriert seine Auftritte bislang. Müllers Nachfolger, der Glaubenspräfekt Fernández, hält an seiner Linie fest, unbeeindruckt von Häresie-Vorwürfen: Sein Dikasterium veröffentlicht Antworten auf kritische Anfragen aus dem Müller-Umfeld. Erst am Dienstag erschien ein Brief, in dem das Glaubensdikasterium klar betonte, dass auch queere Gläubige grundsätzlich als Taufpaten und Trauzeugen in Frage kommen, und dass Transgeschlechtlichkeit kein Hindernis für den Empfang der Taufe ist. Widerhall findet Müller nur noch in der reaktionären Blase von Papstgegnern mit großer Nähe zur US-amerikanischen extremen Rechten und im Kreis weiterer irrlichtender Bischöfe wie Viganò und dem Texaner Joseph Strickland.

Warum das jüngste Interview nun gelöscht wurde, bleibt vorerst unbekannt. Eine katholisch.de-Anfrage an die Journalistin, die das Interview führte, blieb ebenso unbeantwortet wie eine an Kardinal Müller selbst. Vielleicht ist das gelöschte Interview nun doch ein Zeichen dafür, dass selbst ein Kardinal Müller Grenzen kennt – oder Grenzen aufgezeigt bekommt.

Von Felix Neumann