Generaloberin: Es erschreckt mich, welche Macht unser Gründer hatte
Der Gründer der Franziskusschwestern von Vierzehnheiligen, der italienische Pater Peter Natili (1842–1914), war nach den Erkenntnissen einer historischen Aufarbeitung ein Missbrauchstäter. Der Priester musste sich in den Jahren 1899 und 1900 wegen sexuellen Missbrauchs in vier Fällen vor dem Münchner Amtsgericht verantworten. Zu seinen Opfern gehörten auch Schwestern der von ihm gegründeten Gemeinschaft. Im katholisch.de-Interview berichtet die Generaloberin der Kongregation der Franziskusschwestern von Vierzehnheiligen, Schwester Regina Pröls, von den konkreten Vorwürfen an den Ordensgründer und erklärt, welche Konsequenzen die Gemeinschaft heute daraus ziehen will.
Frage: Schwester Regina, wie geht es Ihnen jetzt, nachdem Sie öffentlich bekannt gemacht haben, dass der Gründer Ihrer Gemeinschaft ein Missbrauchstäter war?
Schwester Regina Pröls: Ich bin froh, dass es nun raus ist und das Thema damit in der Öffentlichkeit. Wir hatten Angst, so ein dunkles Kapitel unserer Ordensgeschichte anzugehen. Vor vier Jahren haben wir beschlossen, uns dem Thema zu stellen und diesen Weg der Aufarbeitung zu gehen. Eigentlich wäre es schon viel früher dran gewesen. Aber wir haben uns erst jetzt dazu in der Lage gefühlt. Jetzt sind wir gottfroh, das getan zu haben.
Frage: Haben Sie auch Kritik oder Widerstand deshalb erlebt?
Schwester Regina: Ja, die gab und gibt es auch – auch innerhalb unseres Ordens. Damit haben wir gerechnet. Es gibt Stimmen, die fragen, warum wir dieses Kapitel nicht ruhen lassen, nach so vielen Jahren, weil keine der Betroffenen mehr lebt. Es sind sicherlich auch Ängste da, die Widerstände auslösen. Und trotzdem finde ich, haben wir es gut hinbekommen, dass viele unserer Mitschwestern heute dazu Ja sagen, dass wir unsere Missbrauchsgeschichte aufarbeiten. Dabei hat sicherlich auch geholfen, dass wir unsere Mitschwestern immer wieder über den Verlauf und den aktuellen Stand des Forschungsprojekts von Magdalena Hürten zu den Misbrauchsfällen informiert haben. So konnte langsam ein Bewusstsein wachsen, dass es notwendig ist sich der Wahrheit zu stellen. Wir sind ein Orden, der international in mehreren Einrichtungen bis heute in der Kranken- und Altenpflege tätig ist, neben anderen Tätigkeitsfeldern. Es gibt so viele Menschen, die uns vertrauen, die mit uns zusammenarbeiten. Wir sind als Orden auch in Peru und in Indien tätig. In Indien ist es so, dass Ordensgründern noch eine wichtigere Bedeutung zukommt als bei uns in Deutschland. Von daher gibt es bei unseren Schwestern in Indien eine andere Herangehensweise an dieses Thema. Es löst Ängste aus, wenn so etwas jetzt über unseren Ordensgründer veröffentlicht wird. Aber ich bin froh, dass unser Dialog auch dort Früchte getragen hat. Dadurch, dass wir das Leid und Unrecht, das bei uns passiert ist, thematisieren, wollen wir auch unsere Mitschwestern in all unseren Niederlassungen stärken, dieses Thema zu benennen und sich damit auseinanderzusetzen.
Frage: Was haben Sie aus den Akten konkret über Ihren Ordensgründer herausgefunden und was hat Sie daran erschüttert?
Schwester Regina: Wir haben aus den Akten herausgefunden, dass Pater Natili drei Ordensfrauen und eine weitere Frau, die dem Orden sehr nahestand, sexuell missbraucht hat. Diese Informationen sind belegt. Wir gehen aber auch von einer Dunkelziffer aus, also von weiteren Betroffenen. Mich erschüttert es vor allem, dass unser Ordensgründer Frauen missbraucht hat, die ihm zugearbeitet haben. Wir haben aus den Gerichtsakten erfahren, dass eine verheiratete Frau, die bei ihm zur Beichte ging, von ihm schwanger wurde. Er hatte ihr dann laut der Anklage ein Mittel verabreicht, das Monate später zu einem Abort, also zum Tod des Kindes führte. Zumindest wurde ihm dieser Vorwurf gemacht. Diese Frau hat dann später noch ein Kind von ihm bekommen. Was für mich auch erschreckend ist, dass Pater Natili seinen Missbrauch durch seine heilkundlichen Kenntnisse rechtfertigte. Er tarnte seine Taten als medizinische Untersuchungen. Weil er auch der geistliche Beichtvater der Schwesterngemeinschaft war, kann man vermuten, dass es eine Verknüpfung von spirituellem und sexuellem Missbrauch gab.
Frage: Wurde er damals aus diesen Gründen verurteilt?
Schwester Regina: Das Gericht konnte ihm all diese Vorwürfe nicht nachweisen und der Prozess wurde eingestellt. Das lag daran, dass es in den Augen des Gerichts keine ausreichenden Beweise gab, hinzu kamen Verjährungsfristen und die Tatsache, dass das damalige Strafrecht sexuelle Gewalt an Frauen nur unter bestimmten Bedingungen anerkannte. Es waren Vorwürfe, für die man keine Beweise hatte im juristischen Sinn. Es kam nie zu einer Verurteilung des Paters, weder wegen des sexuellen Missbrauchs noch wegen des Verdachts der Abtreibung eines Kindes. Es liegen uns auch keine Schriften oder Korrespondenzen der Schwestern diesbezüglich vor. Was wir wissen, kennen wir bislang nur aus den Gerichtsakten. Was mir besonders wichtig erscheint, ist, dass das Königliche Bezirksamt München damals geschrieben hat, dass diese Frauen glaubwürdig sind und dass ihnen geglaubt wird. Es erschreckt mich, welche Macht Pater Natili gehabt haben muss, sodass die Betroffenen, die das alles durchmachen mussten, sich nicht von ihm lösen konnten, sondern in der Gemeinschaft geblieben sind. Es muss eine extreme Abhängigkeit geherrscht haben, dass es dazu kam. Es muss auch Mitschwestern gegeben haben, die seine Taten gedeckt haben und so das Missbrauchssystem unterstützt haben, weil sie zu ihm hielten. Er war der Beichtvater der Schwestern damals.
Frage: Hatte Pater Natili damals auch eine Ordensregel für die Schwestern verfasst?
Schwester Regina: Eine Ordensregel im eigentlichen Sinne war es nicht. Pater Natili hatte nach seiner Zeit in der Nuntiatur in München einen Krankenpflegeverein gegründet. Er unterstützte die Krankenschwestern, die vom Verein angestellt waren, als religiöse Gemeinschaft zusammenzuleben. Er selbst blieb nur zehn Jahre dort in dieser Gemeinschaft. Aber für diese Schwestern und die weiteren, die dann später dazu kamen, schrieb er eine Art Hausregel auf, die franziskanisch geprägt war. In der Hausregel wird das tägliche Leben der Schwestern fast auf die Stunde genau reglementiert. Die Regeln klingen heute sehr streng. Sie entsprachen aber den damaligen klösterlichen Gebräuchen der Zeit, um den Tag zu strukturieren. Darin geht es vor allem um das Einhalten einer Tagesstruktur, also wann die Schwestern beten oder schweigen sollen, wann sie ins Bett gehen sollen und so weiter. Wir gehen davon aus, dass diese Regeln in den Anfängen des Ordens auch eingehalten wurden. Zumindest so lange er vor Ort war. Etliche Jahre nachdem der Hiernonymitenpater Natili weg war aus Deutschland, half ein Franziskanerpater den Schwestern bei der Anerkennung des Ordens. 1921 wurde die Gemeinschaft dann offiziell kirchlich anerkannt. Das ist unsere Gründungsgeschichte.
Frage: Spielt diese erste Ordensregel des Paters heute noch eine Rolle für Ihre Gemeinschaft?
Schwester Regina: Nein, um Gottes Willen. Diese Regel liegt uns vor, sie wurde uns überliefert, aber das war es auch.
Frage: Was passierte nach dem Gerichtsprozess mit Pater Natili?
Schwester Regina: Strafrechtlich konnte man Natili nichts nachweisen, doch als Italiener wies man ihn schließlich "aus Rücksicht auf die öffentliche Wohlfahrt", wie es in den Akten heißt aus dem Königreich Bayern aus. Ich denke mir, man wollte sich damals nicht die Finger schmutzig machen wegen seines Verhaltens. Man hat ihn nicht verurteilt, ihn stattdessen lieber des Landes verwiesen. Pater Natili ging dann über Österreich nach Italien und gründete dort ein Jungenseminar, wo er 1914 verstarb. In den letzten Lebenswochen kamen sogar noch Schwestern aus München zu ihm, um ihn bis zu seinem Tod zu pflegen.
Frage: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus all diesem Wissen über Ihren Gründer für Ihre Gemeinschaft heute?
Schwester Regina: Wir sehen uns in der Verantwortung, innerhalb unserer Gemeinschaft unser Arbeiten und Zusammenleben so zu organisieren, dass die Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, geschützt sind. Wir sind dabei ein Gewaltschutzkonzept zu erarbeiten. Dabei geht es uns vor allem um Missbrauchsprävention. Wir versuchen, im Orden eine Kultur der Achtsamkeit zu erarbeiten. Wir üben uns darin, unsere Grenzen wahrzunehmen und achten darauf, wann sie überschritten werden. Es gibt manchmal so eine Vorstellung im Kloster, dass wir Schwestern alles ertragen sollten, jeden gernhaben sollten und nichts Negatives äußern dürfen. Nein, das ist nicht so. Ich darf auch spüren, wenn mir etwas zuwider ist, wenn eine Grenze erreicht ist. Auch das Nein sagen gehört dazu. Wir lernen, genauer hinzuschauen, Strukturen zu hinterfragen und wir nehmen an Präventionsschulungen, Studientagen und Kommunikationsschulungen teil. Uns ist es wichtig, dass unsere Kommunikation ehrlich und transparent wird. Es geht darum, ein Klima zu schaffen, in dem man auch schwierige Dinge bespricht. Eine große Unterstützung erfahren wir in der fachlichen Begleitung durch die Theologin Barbara Haslbeck, die wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt "Gewalt gegen Frauen in der katholischen Kirche" ist. Wir haben mit unserem Aufarbeitungsprozess nun einen Anfang gemacht und bleiben da jetzt dran.
Frage: Werden Sie nun alle Bilder des Gründers abhängen?
Schwester Regina: Unser Gründer stand bei uns nie auf einem Sockel, daher müssen wir ihn auch nicht stürzen. Bilder gibt es von ihm sowieso keine bei uns im Haus. Wir hatten vor längerer Zeit in einer unserer Einrichtungen einen Hörsaal nach ihm benannt. Doch der wurde nach der Übergabe an eine Betreibergesellschaft wieder umbenannt. Ansonsten haben wir nichts nach ihm benannt, was man umbenennen müsste. Wir wissen aber, dass der Prozess der Aufarbeitung noch nicht beendet ist. Wir haben auch öffentlich dazu aufgerufen, wenn es Betroffene von Missbrauch durch Schwestern unserer Kongregation gibt, sich zu melden. Auch suchen wir noch nach einer geeigneten Form des Gedenkens für die Betroffenen von damals. Bei allen dunklen Seiten in der Geschichte unserer Gemeinschaft gibt es auch die hellen Seiten. Wir wissen, dass viel Gutes in unserer Ordensgeschichte auch in den Anfängen durch unsere Schwestern geschehen ist. Die Gemeinschaft damals hätte auch daran zerbrechen können. Heute wissen wir: Es waren starke Frauen! Sie haben nicht aufgegeben und haben sich trotzdem in den Dienst für die Kranken gestellt und ihr geistliches Leben gepflegt. Wo Schatten ist, da muss auch Licht sein – und umgekehrt.
Zur Person
Seit 2012 ist Schwester Regina Pröls (61) die Generaloberin der Kongregation der St. Franziskusschwestern in Vierzehnheiligen.