Der schmale Grat der Redlichkeit
Zwei Reflexe erschwerten von Beginn an eine angemessene Aufarbeitung. Auf der einen Seite der apologetische: Er lässt sich vom Leid der Opfer nicht wirklich tief berühren und stellt diese nicht ins Zentrum aller Überlegungen. Der typische Apologet fällt nach dem pflichtschuldigen Abscheu-Lippenbekenntnis rasch in den Modus der Schadensbegrenzung für das Ansehen der Kirche. In der guten Absicht, ihre moralische Autorität als Hort der Wahrheit und der Liebe nicht zu sehr beschädigen zu lassen, schreiben manche das "Ja" zur Schande klein und das "Aber" groß. Besonders ausgeprägt ist diese Versuchung unter Konservativen, die eine gewisse Tendenz haben, das Interesse von Institutionen höher zu stellen als das von Individuen. Denn diese seien ja vergänglich, jene aber von Dauer. Gerade die Kirche habe einen unverzichtbaren Glaubensschatz und moralische Grundnormen zu tradieren für Generationen. "Drum gilt’s, das Ordnung-Schaffende zu schützen", bringt Kreon gegen Antigone diese Prioritätensetzung auf den Punkt.
Besonders entlarvend wurde uns der apologetische Reflex im Limburger Bischofsskandal vorgeführt, als selbst langjährige, bewährte Kämpfer gegen den Relativismus schlagartig selbst zu Relativisten mutierten, um einen meineidigen, verschwenderischen Oberhirten im Amt zu halten, weil er ihnen zum Idol der Orthodoxie und Kirchendisziplin geworden war. Von der "totalen Redlichkeit", die Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger "Entweltlichungs"-Rede forderte, sind die Dauerapologeten weiter entfernt als sie ahnen.
"Nichts von der Wahrheit ausklammern"
Ihr Lieblingspapst wies auf die "Skandale" und "Unbotmäßigkeit der Verkünder des Glaubens" hin und distanzierte sich von Versuchen, bloß "eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht (…), ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheiten sind".
Provoziert und verstärkt wird der apologetische Reflex von den Umtrieben der Gegenseite: den Trittbrettfahrern des Skandals. Auch sie scheinen nicht in erster Linie – vielleicht sogar noch weniger – durch Mitgefühl für die Opfer und durch moralische Motive inspiriert. Sie instrumentalisieren die öffentliche Empörung für ihre alte Agenda: die Kirche generell in Misskredit zu bringen, um sie leichter aus dem öffentlichen Leben verdrängen zu können (laizistische Variante) – in Berlin forderten sie nach Bekanntwerden der Missbräuche am Canisius-Kolleg die Schließung katholischer Schulen – oder den Druck auf die Kirche zu nutzen, um sie ihren Präferenzen entsprechend umzugestalten ("reformkatholische" Variante). Eine Talkshow-Redakteurin nahm bei einer Politiker-Geburtstagsfeier am 2. März 2010 in Berlin zu fortgeschrittener Stunde kein Blatt vor den Mund: "Jedenfalls hilft das, die katholische Kirche nach und nach kaputt zu machen."
„Wichtigste Gemeinsamkeit der beiden Trittbrettfahrer-Varianten ist der "Anti-Zölibats-Reflex"“
Was als mediale Aufklärung antrat, brachte denn auch bald Verwirrung hervor: Während Wissenschaftler wie der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber den Täteranteil unter Priestern und Kirchenmitarbeitern "verblüffend gering" nannten, ließ sich die Bevölkerung vom Medientenor einreden, dass Missbrauch "vermehrt in der katholischen Kirche geschieht" (Maybritt Illner). So vertraten im Juni 2010 laut Allensbach 47 Prozent der Befragten die irrige Meinung: "Kindesmissbrauch ist unter Priestern in der katholischen Kirche weit verbreitet"; nur 36 Prozent sahen richtigerweise "nur eine kleine Minderheit" der Priester betroffen.
Suggestive Medienberichte
Durch die Schieflage der Medienaufmerksamkeit avancierten die von katholischen Geistlichen Missbrauchten faktisch gleichsam zu einer "Opferklasse Eins" und alle anderen zu Opfern zweiter Klasse, die offenbar – vielleicht mit Ausnahme der Odenwaldschule –weniger Aufmerksamkeit und Rechercheaufwand verdienten. Kröber kritisierte zudem, in den Medien habe man "sexuellen Missbrauch und Prügelpädagogik, die es damals unstreitig an allen Schulen gab, so oft vermischt, dass man das Gefühl hatte, man will die Zahlen strecken". Jedenfalls wird bis heute nicht klar genug zwischen Opfer- und Täterzahlen unterschieden, so dass sich bei nur oberflächlich interessierten Medienkonsumenten der Eindruck falscher Massenhaftigkeit festsetzen kann: die katholische Kirche als globaler Kinderschänderring.
Wichtigste Gemeinsamkeit der beiden Trittbrettfahrer-Varianten ist der "Anti-Zölibats-Reflex": Den Kirchenallergikern gilt die priesterliche Ehelosigkeit als ultimativer Ausdruck katholischer Sexual-, wenn nicht gleich Menschenfeindlichkeit, Kirchenträumern als Grundübel aller Gemeindeversorgungsnotstände in der männerdominierten Klerikerkirche. So wundert es nicht, dass genau dies der "Dreh" war, den Sebastian Bellwinkel und Birgit Wärnke ihrer NDR-Fünfjahresbilanz "Das Schweigen der Männer. Die katholische Kirche und der Kindesmissbrauch" gaben: "Namhafte Wissenschaftler" – präsentiert wurde nur der Sexualpsychologe Christoph Ahlers – wiesen darauf hin, "dass der Zölibat Männer mit gestörter Sexualität anziehe und selbst bei psychisch gesunden Priestern zu einer ‚seelischen Unterernährung’ führen könne" (daserste.de).
Zu Kröbers statistisch begründeter Feststellung, man werde "eher vom Küssen schwanger als vom Zölibat pädophil", passt die These nicht. Dass Ahlers eher "Präferenztäter" als "Ersatzhandlungstäter" am Werk sieht, widerspricht darüber hinaus einer Auswertung von 78 Gutachten über auffällig gewordene Priester durch den Essener Gerichtspsychiater Norbert Leygraf. Also was nun? Dass die Opfermehrheit von heranwachsenden Jungen auf einen erhöhten Anteil von "gestörten" Priestern im Sinne homosexueller Präferenz schließen lasse, würden die Filmautoren und der Experte, den sie zum Beleg ihres Vorurteils fanden, gewiss weit von sich weisen. Vollmundig angetreten, "hinter die Mauern der katholischen Kirche" blicken zu lassen, verheddern sie sich bei der Ursachenforschung selbst im Irrgarten der Tabus, Klischees und Spekulationen und lassen den Zuschauer ratlos zurück.
Schlimmer noch: Der ebenfalls für die Sendung interviewte Pater Klaus Mertes , vom Apologetenblock als Nestbeschmutzer verachtet und als typischer Zölibatsgegner verdächtigt, wurde mit dem Satz: "Dem kann ich hundertprozentig zustimmen" so an Ahlers heran geschnitten, als ob er mit dessen Theorie übereinstimme. Der Jesuit, dem seine Kirche wohl erst in Jahrzehnten dafür danken wird, dass nicht "kirchenfeindliche Journalisten", sondern ein Gottesmann aus ihrer Mitte die himmelschreienden "Verfehlungen" auf die Tagesordnung setzte und als glaubwürdiger Ansprechpartner der "Täterseite" für die Opfer zur Verfügung stand, stellt klar: "Dieser Satz von mir bezog sich aber nicht auf die Äußerung des Experten, sondern erschließt sich aus dem Zusammenhang des Interviews mit mir. Meine Kernaussage war und ist: Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch; es gibt nur das – in der Priesterausbildung und -auswahl zu minimierende – Risiko, dass der Zölibat attraktiv sein kann für Männer, die sich dem Leben in liebevollen Beziehungen zu Menschen entziehen wollen. Die nicht gelebte Beziehungsdimension im Zölibat ist ein Problem. Der Sinn des Zölibates besteht jedoch gerade nicht darin, weniger in Beziehungen zu leben."
Hermeneutik der Verdächtigung
Der Vorstellung, sexuelle Enthaltsamkeit sei eine nicht lebbare Zumutung, hatte schon in der aufgeregten Stimmung des Frühjahrs 2010 die gänzlich "unverdächtige" Alice Schwarzer widersprochen: "Ich glaube, es gibt Menschen, Männer oder Frauen, die sich in der Tat nicht für Sexualität interessieren. In unserer völlig hochgeheizten Gesellschaft kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Ich respektiere das durchaus. Ich glaube ganz ehrlich gesagt auch nicht an den Zusammenhang von Zölibat und Missbrauch, überhaupt nicht." Doch ins Konzept der Filmautoren passte so eine Gegenposition nicht. Sie unterstützten lieber eine Hermeneutik der Verdächtigung:
Durch semantisch doppeldeutige Begriffe wie den der "Täterorganisation" (Institution von Tätern oder nur im Sinne des Gegenübers zur Opferseite?).
Durch die Abqualifikation der
von der Bischofskonferenz
zuletzt 2013 überarbeiteten "Leitlinien" zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch als "Lüge", nur weil diese nicht in allen Diözesen gleichermaßen umgesetzt worden seien.
Durch die Suggestion, die beauftragten Wissenschaftler könnten nicht wirklich frei arbeiten, weil Kirchenangestellte die Akten heraussuchten – der Film selbst aber lässt den Leiter des interdisziplinären Forschungskonsortiums, Professor Harald Dressing, gar nicht zu Wort kommen.
Durch die weitgehende Ausblendung realisierter Maßnahmen wie der Telefonhotline, der Entschädigungszahlungen, der Leygraf-Studie und der flächendeckenden Prävention. Vom Interview mit der Vorsitzenden der Präventionsbeauftragten der Bistümer wurde nichts ausgestrahlt.
So lässt sich leicht das Misstrauen schüren, "die groß angekündigte wissenschaftliche Aufarbeitung sei nicht viel mehr als eine PR-Aktion der Bischöfe", was laut ARD-Geraune "manche befürchten" (daserste.de), in Wirklichkeit aber wohl die sich selbst bestätigende Arbeitshypothese der Autoren umschreibt.
Strukturelle Sünde "Image-Denken"
Solch ein Strickmuster medialer "Aufklärung" ist natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die am liebsten den ganzen Skandal zur "Kampagne" oder zum "Hoax" erklären und die Kirche zu weiterer Selbstviktimisierung verleiten wollen. Soweit sie überhaupt Papst Franziskus’ Vision einer Kirche als "Lazarett" anzunehmen bereit sind, sollen darin vor allem die eigenen Wunden verbunden und bejammert werden. Über strukturelle Sünden einer jahrzehntelang vertuschenden Kirche und deren Ursachen, etwa "die Verstrickung ins Image-Denken" und einen "institutionellen Narzissmus" (Mertes), würden sie am liebsten gar nicht reden, weil die Kirche für sie nur heilig ist.
Eingekeilt zwischen zwei voreingenommenen Parteien, die sich gegenseitig provozieren und bestätigen, aber beide der Devise folgen: "Wenn meine Ideen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen – Pech für die Wirklichkeit", gilt es also wachsam auf dem schmalen Grat der Redlichkeit zu wandeln und die zugleich empathische wie nüchtern analysierende Mitte stark zu machen. Es ist dabei durchaus erlaubt, auf die Heuchelei einer Gesellschaft zu verweisen, die offenbar erst die Verstrickung der aus ganz anderen Gründen unbequemen katholischen Kirche brauchte, um sich dem Massenphänomen Kindesmissbrauch zu stellen. Die Kirche hat sich im Unterschied zu organisierten Humanisten und linkslibertären Grünen allerdings nicht vorzuwerfen, die eigensüchtige "Pädophilie" ideologisch überhöht, offen toleriert oder gar propagiert zu haben. Das kann über ihr praktisches Versagen allerdings ebenso wenig hinwegtrösten wie der Hinweis auf die defizitärere Aufklärung des Missbrauchs in anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Ein Stück "Stellvertretung" der Kirche
Bei jenen, die gern die kirchlichen Fassaden polieren, könnte die heilsame Verunsicherung zu der Einsicht beitragen, dass die Unterscheidung von Gut und Böse weder am geistlichen Gewand noch an Kirchlichkeit und Rechtgläubigkeit ablesbar ist und dass Moralvorschriften und Bußverfahren alleine nicht ausreichen, um sach- und menschengerecht mit sexuellen Dispositionen umzugehen.
So könnte die Kirche aus ihrer öffentlichen Demütigung am Ende gesünder und klüger hervorgehen. Vor allem dürften die manchmal maßlosen Angriffe gegen sie dazu beigetragen haben, zukünftiges Leid potentieller Missbrauchsopfer abzuwenden und die moralische Sensibilisierung der Gesellschaft insgesamt bei diesem Thema zu verbessern. Man darf in der verdächtigen Einseitigkeit der Skandalisierung theologisch durchaus ein Stück "Stellvertretung" der Kirche sehen – und einen Hinweis auf das Wirken "jener Kraft, die stets das Böse will" und dabei unfreiwillig "Gutes schafft".
Von Andreas Püttmann