Erzbischof Burger: Studie stellt Kirche "schonungsloses Zeugnis" aus
Die am Dienstag veröffentlichte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) stellt der Kirche und ihrer Wirkmächtigkeit im Hier und Jetzt nach Ansicht des Freiburger Erzbischofs Stephan Burger ein "schonungsloses Zeugnis" aus. "Wir sind Zeuge selbstverschuldeter und gesellschaftlich bedingter Umwälzungen, die jeden treffen, dem Kirche am Herzen liegt. Für immer weniger Menschen spielt Religion allgemein noch eine Rolle, die Bindung an Kirche und ihre Werte schwindet", erklärte Burger am Dienstag in Freiburg.
Ihn persönlich träfen die Ergebnisse allerdings nicht unerwartet: "Seit Jahren beobachten wir die in der Studie aufgeschlüsselten Entwicklungen auch im Erzbistum Freiburg. Wut und Ärger auch vieler treuer Katholikinnen und Katholiken erreichen mich, und das geht an mir auch nicht spurlos vorüber." Die Frage sei, wie man auf Veränderungen und Erwartungen reagieren solle. "Was in meinen Möglichkeiten steht, versuche ich zu tun, etwa in vielen Gesprächsformaten mit Menschen der katholischen Basis", so Burger. Auch über den Zukunftsprozess "Kirchenentwicklung 2030" stoße man Neues an: "Hier wird es mehr Raum für Kreativität und weitere Entwicklung geben, für neue Berührungsflächen mit der Gesellschaft."
Es könne der Kirche nicht einzig und allein darum gehen, das Überkommene zu bewahren. Auch rede er nicht der kleinen Herde das Wort, so Burger weiter. "Als Erzbischof ist es mir ein besonderes Anliegen, dass wir als Kirche, als Katholikinnen und Katholiken Menschen in existenziellen Nöten beistehen – materiell wie seelisch. Denn viele Menschen haben heute Sorgen, in denen ihnen sonst kaum jemand beisteht." Zudem sei wesentlich von Bedeutung, dass Gemeinden und das Engagement der Menschen gestärkt und gewürdigt würden, denn Kirche vor Ort sei der Ankerpunkt für viele. "Nur eine offene, geerdete und vielfältige Kirche, die weiter treu sich der Frohen Botschaft Jesu verpflichtet weiß, wird ihrer Sendung auch in Zukunft nachkommen können, um der Menschen willen, an die die Botschaft gerichtet ist", betonte Burger.
Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, bezeichnete die Ergebnisse der KMU als "deutliches Signal, Veränderungen entschlossen vorantreiben zu müssen. Wir sehen klar, dass der Wandel der Kirche in der postmodernen Gesellschaft nicht schnell und nicht nachhaltig genug gelingt." Gerade die katholische Kirche erlebe zudem einen massiven Vertrauensverlust in der Gesellschaft. "Gleichzeitig erfahren wir: Kirchenmitglieder, Mitglieder anderer Religionen so wie Konfessionslose erwarten von den Kirchen soziales und politisches Engagement. Das ZdK nimmt sich genau dieser Forderung an", betonte die Präsidentin.
"Dass die Kirche als Kämpferin für Klimaschutz, für Menschenwürde und für sozialen Ausgleich in der Gesellschaft gesehen und immer wieder angefragt wird, bestätigt das ZdK und seine Arbeit im gesellschaftspolitischen Raum", so Stetter-Karp weiter. Dieses Engagement müsse weiter mit Reforminitiativen in der Kirche verbunden werden. Die KMU bescheinige dem Synodalen Weg die richtige Richtung. "Ein hoher Prozentsatz der Befragten verlangt Dinge, die wir auf der Agenda haben. Beispiele dafür: 78 Prozent aller befragten Katholik*innen möchte, das Priester heiraten dürfen. 58 Prozent fänden es richtig, homosexuelle Partnerschaften zu segnen. Und 87 Prozent aller befragten Katholik*innen wollen, dass Führungspersonen in der Kirche demokratisch gewählt werden." Es sei entscheidend, diese Forderungen als Auftrag zu verstehen, auf dem Synodalen Weg voranzukommen.
Stetter-Karp: Geringes Vertrauen in Kirche erschreckend
Erschreckend sei, so Stetter-Karp, dass nur neun Prozent aller Befragten erklärt hätten, aktuell Vertrauen in die katholische Kirche zu haben. "82 Prozent der befragten Katholik*innen sagen, sie würden bleiben, wenn die Kirche deutlicher bekennen würde, dass sie Schuld auf sich geladen hat und 71 Prozent sagen, sie würden bleiben, wenn die Kirche sich radikal reformiert. Beide Schritte würden das Vertrauen in die Kirche wieder stärken. Das muss die Institution als Auftrag begreifen, gerade im Blick auf den Missbrauchsskandal."
Nach Ansicht des Religionssoziologen Detlef Pollack sollte die katholische Kirche für ihre Profilschärfung weniger auf ihre Kritiker schauen. Die Ergebnisse der KMU legten nahe, "dass es nicht ausreicht, katholische Theologie über eine Abgrenzung von der Kirchenhierarchie zu betreiben", schreibt Pollack in einem am Mittwoch veröffentlichten Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Die Studie widerlege die von liberalen Theologen vertretende "Individualisierungsthese", nach der es eine nennenswerte individuelle Religiosität abseits der institutionalisierten Kirchen gebe. Nur knapp 20 Prozent der Befragten bekannten sich demnach zum Glauben an Gott, wohingegen sich immer noch 13 Prozent als kirchlich religiös bezeichneten. Auch die katholische Kirche müsse sich in ihren Reformbewegungen deswegen fragen, "ob es sinnvoll ist, die Hoffnung auf das religiöse Individuum zu setzen", so der Theologe. "Ökumenisch denken könnte hier heißen, es anders zu machen als die evangelische Theologie."
„Für die Zukunft könnte daher folgende Frage wichtig werden: Welchen Mehrwert trägt die Kirche in unser gesellschaftliches Zusammenleben – gerade, wenn wir weniger werden?“
Der im niederländischen Utrecht lehrende Theologieprofessor Jan Loffeld erklärte, dass die KMU zeige, wie die seit Jahrzehnten stattfindenden Säkularisierungsschübe nicht mehr übersehbar seien. "Hier liegt meines Erachtens der Kipppunkt, der katholischerseits durch die multiple Kirchenkrise verstärkt wird", sagte Loffeld kirche-und-leben.de. Interessant sei, dass das Institutionenvertrauen in die katholische Kirche zwar beinahe am Nullpunkt sei, Menschen aber dennoch kirchliche Angebote schätzten und nutzten.
"Welchen Mehrwert trägt Kirche in unser gesellschaftliches Zusammenleben?"
Der Theologe und wissenschaftliche Beirat der Studie betonte weiter, dass die Kirche vor allem mit dem punkte, was die Religionssoziologie "sekundäre Religionsvorteile" nenne: Gemeinschaftserfahrungen, Caritas, Wertevermittlung, Bildung. "Das ist sehr erfreulich, zugleich sollte man sich ehrlich machen. Denn Religion und Kirche sind in fast all diesen Bereichen ersetzbar, wie ein Blick nach Skandinavien oder in die Niederlande zeigt." In diesen weitgehend entkirchlichten Ländern fühlten sich die Menschen sogar als die glücklichsten. "Für die Zukunft könnte daher folgende Frage wichtig werden: Welchen Mehrwert trägt die Kirche in unser gesellschaftliches Zusammenleben – gerade, wenn wir weniger werden? Von der Beantwortung dieser Frage, bei der eine Diskussion unterschiedlicher Kirchenbilder unausweichlich ist, wird etwa eine verantwortete Verteilung der Ressourcen abhängen."
Die evangelische Kirche legt seit 1972 alle zehn Jahre eine KMU vor. An der repräsentativen und umfangreichen Studie hatte sich erstmals auch die katholische Kirche beteiligt. Die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie: Die Deutschen sind immer weniger religiös und setzen wenig Vertrauen in die Kirchen. Viele Kirchenmitglieder denken über einen Austritt nach, so dass sich der Mitgliederschwund noch beschleunigen könnte. Auf der anderen Seite engagieren sich kirchennahe Gläubige besonders stark für die Gesellschaft. (stz)