Hat die "Marke" Kirche in Deutschland überhaupt noch eine Chance?

Markensoziologe: Kommunikativ macht die Kirche leider sehr viel falsch

Veröffentlicht am 11.12.2023 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 
Markensoziologe: Kommunikativ macht die Kirche leider sehr viel falsch
Bild: © privat

Hamburg ‐ Die Kirche in Deutschland steckt seit Jahren in einer tiefen Krise. Was kann sie selbst dafür tun, wieder attraktiver und relevanter zu werden? Wie müsste sie kommunizieren? Und auf welche Angebote sollte sie sich fokussieren? Der Marketingexperte Oliver Errichiello gibt im Interview Antworten.

  • Teilen:

Spätestens seit Beginn des Missbrauchsskandals im Jahr 2010 steckt die katholische Kirche in Deutschland in einer tiefen Krise, die sich in den vergangenen Jahren vor allem auch an hohen Austrittszahlen und einem enormen Vertrauensverlust gezeigt hat. Wie kann Kirche besser als bisher auf diese Situation reagieren? Wie muss Kirche kommunizieren und handeln, damit sie Glaubwürdigkeit zurückerlangt und wieder attraktiver wird? Oder ist der Niedergang überhaupt nicht mehr aufzuhalten? Zu diesen und anderen Fragen äußert sich im Interview mit katholisch.de der Markensoziologe und Marketingexperte Oliver Errichiello.

Frage: Herr Errichiello, Missbrauchsskandal, ausbleibende Reformen, massenhafte Kirchenaustritte: Die katholische Kirche in Deutschland befindet sich seit Jahren in einer tiefen Krise. Wie beurteilen Sie als Katholik, vor allem aber auch als Kommunikations- und Markenexperte die Lage der Kirche?

Errichiello: Mein Blick auf die Kirche ist ambivalent. Wenn ich die Amtskirche und ihre Vertreter betrachte, sehe ich eine Kirche, die mit Blick auf die von Ihnen genannten Probleme insbesondere kommunikativ aus lauter Furcht und aufgrund einer vielschichtigen Organisationsstruktur leider sehr viel falsch macht. Wenn ich mir aber die Gemeinden vor Ort anschaue, zeigt sich ein anderes Bild. Dann sehe ich eine Kirche voller hochengagierter Männer und Frauen, die herausragende Arbeit leisten und den "Laden" trotz aller Widrigkeiten am Laufen halten – ganz unabhängig davon, ob es sich um Geweihte oder Laien handelt.

Frage: Eine Amtskirche, die kommunikativ "sehr viel falsch macht" – ein starker Vorwurf. Können Sie den konkretisieren?

Errichiello: Ein riesengroßes Problem der Amtskirche ist die Vielstimmigkeit der Kommunikation. Gerade die Bischöfe sprechen in der Öffentlichkeit häufig nicht mit einer Stimme, und das führt dazu, dass man am Ende nicht weiß, was die Position der Kirche ist. Etwas überspitzt gesagt: Mit ihren 27 Bistümern hat die Kirche in Deutschland 27 gleichrangige Chefs, die fast alle den Anspruch haben, ihre je eigene Sichtweise zu wichtigen Themen öffentlich kundzutun. Diese 27-fache Subsidiarität ist einerseits eine Stärke, schließlich berücksichtigt sie Lokalkultur und gewachsene Strukturen, aber ohne eine gemeinsame Pastoral-Reflexion und eine grundsätzliche Kommunikationsstrategie geht man im heutigen Kommunikationsgewitter unter. Vor allem wenn Botschaften unabgestimmt passieren, sorgt das für Irritationen und Verwirrung. Gerade für eine Kirche, die für sich in Anspruch nimmt, ewige Wahrheiten zu verkünden, ist dieses Organisationsprinzip kommunikativ ein Segen und gleichzeitig ein riesiges Problem.

„Wenn es darum geht, die Kirche in unserem Land zu bewahren, dann gilt es, einige Grundregeln der Kommunikation zu beachten.“

—  Zitat: Oliver Errichiello

Frage: Ist auch die häufige Ungleichzeitigkeit der Kommunikation ein Problem? Man hat oft den Eindruck, dass insbesondere kirchliche Krisen durch eine fehlende Abstimmung und stark zeitversetztes Handeln und Kommunizieren der Bistümer in der öffentlichen Wahrnehmung unnötig in die Länge gezogen werden.

Errichiello: Da haben Sie recht. Nehmen Sie nur – als sicher extremes Beispiel – die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Dadurch, dass die Bischöfe sich für eine dezentrale Aufarbeitung mit je eigenen diözesanen Gutachten entschieden haben, wird die Kirche dieses für sie so belastende Thema kommunikativ nicht los. Bei jedem neuen Gutachten entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck "Schon wieder Missbrauch!" – auch wenn es in den Gutachten in der Regel ja um Fälle geht, die viele Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückliegen. Gerade Menschen, die mit der Kirche nichts am Hut haben, differenzieren da aber nicht, auch weil sie die diözesane Struktur der Kirche meist gar nicht kennen. Die hören in den Nachrichten nur "Kirche" und "Missbrauch" – und schon sind alle negativen Nachrichten wieder bestätigt. Viele Bischöfe arbeiten das Leid der Betroffenen aufrichtig auf – auch das ist zu erwähnen. Die Beurteilung des Umgangs der Kirche sollte aber bei den Betroffenen liegen. Heute scheinen mir viele Bereiche der Kirche so nah und bemüht um den Menschen, wie kaum jemals zuvor. Das sehe ich als Chance. Die Weltkirche wird in vielen Bereichen noch davon lernen können, denn die Aufarbeitung hat in vielen Teilen der Kirche noch nicht einmal begonnen. Über alle Fakultäten hinweg sollten Bischöfe, Generalvikare, Finanzverantwortliche und Kommunikationsleitende der Bistümer versuchen, möglichst an einem Strang zu ziehen. Was ihnen dabei hoffentlich helfen kann, ist der Blick auf die Menschen. Es braucht in der Kirche Einheit, Einheit und Einheit, um für die Menschen da zu sein ... und nicht die Kirche als Selbstzweck.

Frage: Aber nochmal zur Kommunikation: Sie würden also sagen, dass die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals diesbezüglich von Anfang an falsch aufgestellt worden ist?

Errichiello: Damit kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich muss der kirchliche Missbrauchsskandal umfassend und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar aufgearbeitet werden und das unfassbare Leid der Betroffenen dabei im Mittelpunkt sein. Sie brauchen Hilfe, Verständnis, Transparenz, Öffentlichkeit und tief empfundene Reue, wahrscheinlich unmögliche Wiedergutmachung und einen echten Veränderungswillen von Seiten der Kirche. Aber ja, kommunikativ wurde und wird dieses absolute und unverzeihliche Fehlverhalten so kommuniziert, dass alle Teile der Kirche Schaden nehmen. Es geht also nicht um Vertuschung, sondern um eine Form der öffentlichen Präsenz, die die Täter und das Fehlverhalten hemmungslos aufarbeitet und benennt, aber gleichzeitig das Gute in der Kirche bewahrt, und – darf man das eigentlich noch sagen? – stärkt.

Frage: Wie hätte es besser laufen können?

Errichiello: Wenn es darum geht, die Kirche in unserem Land zu bewahren, dann gilt es, einige Grundregeln der Kommunikation zu beachten. Ich will nicht falsch verstanden werden und möchte nicht den Missbrauch in seiner menschlichen Dimension mit einem Wirtschaftsskandal vergleichen, dennoch möchte ich als Beispiel für gelungene Krisenkommunikation den Abgasskandal von Volkswagen nennen. Der Betrug hat das Unternehmen und das Vertrauen in die Marke 2015 massiv erschüttert – doch heute, nur wenige Jahre später, wird VW in Marktforschungen als Deutschlands vertrauenswürdigste Automarke zurückgespielt. Wie hat das Unternehmen das geschafft? Indem es eine klare, von oben gesteuerte und kontrollierte Kommunikationsstrategie für den Umgang mit dem Skandal entwickelt hat, an die sich das ganze Unternehmen dann auch sehr strikt gehalten hat. Zuerst hat VW sehr schnell nach Beginn des Skandals eigene Fehler zugegeben, um Entschuldigung gebeten und die Affäre insgesamt recht transparent aufgearbeitet. Viel wichtiger aber war die kommunikative Fokussierung auf die positiven Aspekte, die trotz Betrug weiterhin der Marke VW zugebilligt werden: Solidität, Qualitätsanspruch, gutes Preis-Leitungs-Verhältnis. Hier hat die Marke das kollektive Vertrauen nie verloren. Die Kirche hätte die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bedingungslos vorantreiben und gleichzeitig darauf hinweisen müssen, dass sie in vielen Bereichen weiterhin gute Arbeit leistet und für die Menschen präsent ist. Nicht mit Hochglanzanzeigen, sondern durch gute Arbeit vor Ort. Gerade das war der Kirche nach dem Missbrauchsskandal in einem ganz entscheidenden Punkt aber leider nicht möglich.

Bild: ©katholisch.de/ Madeleine Spendier

"Durch den tausendfachen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester, Ordensleute und andere Diensthabende kann die Kirche ihre seelsorglichen Angebote für Kinder und Jugendliche heute nicht mehr als positiven Mehrwert in den Vordergrund stellen", so Errichiello.

Frage: Was meinen Sie?

Errichiello: Wenn man Menschen nach den Stärken der Marke Kirche fragt, nennen die meisten neben der seelsorglichen Begleitung bei Krankheit, Tod und Trauer und der gelebten Nächstenliebe im Alltag auch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Und ja, als Katholik würde ich sagen, dass das tatsächlich ein gutes Beispiel für das positive Wirken der Kirche ist, das man unter Marketingaspekten eigentlich prominent ins Schaufenster stellen müsste. Aber: Nach dem Missbrauchsskandal geht das nicht mehr. Durch den tausendfachen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester, Ordensleute und andere Diensthabende kann die Kirche ihre seelsorglichen Angebote für Kinder und Jugendliche heute nicht mehr als positiven Mehrwert in den Vordergrund stellen. Der Missbrauchsskandal liegt wohl noch für Jahre – vielleicht sogar Jahrzehnte – wie eine dunkle Wolke auf der Kirche, die das viele Gute verdeckt.

Frage: Wenn Kirchenvertreter etwa bei Pressekonferenzen zu kirchlichen Krisen Stellung nehmen, hört man meist viel Bedauern. Zugleich aber hört man oft auch Sätze wie "Kirche tut doch auch so viel Gutes" oder – mit Blick auf den Missbrauchsskandal – "Wir haben doch schon sehr viel aufgearbeitet". Was lösen solche Sätze bei Ihnen aus?

Errichiello: Marken, die erklären müssen, dass sie doch eigentlich gar nicht so schlecht sind, haben ein massives Problem. Marken funktionieren ja deshalb immer stärker, weil sie das Leben im Kommunikationsgewitter der Moderne vereinfachen – sie orientieren uns. Gerade eine ethisch aufgeladene Marke wie die Kirche wird neben der Qualität ihrer "Produkte" vor allem am konkreten Handeln ihrer Akteure gemessen. Das ist auch der Grund, warum der Missbrauchsskandal, aber auch kleinere Skandale wie etwa die Affäre um Bischof Tebartz-van Elst der Kirche so stark schaden. Menschen konstruieren aus konkreten Sachverhalten abstrakte Urteile. Die öffentliche Popularität von Papst Franziskus beruht profanerweise auf Kleinigkeiten: Er weigert sich mit großen Limousinen vorzufahren und trägt eine preiswerte Armbanduhr. Kleinigkeiten, aber Menschen denken stets in Kleinigkeiten. Die meisten Menschen können nicht beurteilen, wie ein Mensch oder eine Organisation wirklich ist, die wenigsten außerhalb der Kirche lesen Positionspapiere, deshalb helfen uns Scheinbeweise zur Orientierung. Wenn das positive Bild, das Kirche gerne von sich selbst verbreitet und das früher in vielen Köpfen auch tief verankert war, so wenig mit der Realität übereinstimmt, hat eine Marke ein Problem. Dann nutzen auch große Kommunikationskampagnen nichts mehr. Im Gegenteil: Werbewelt und Realität zerreißen sogar die Wahrnehmung.

„Kirche gewinnt nicht durch Kommunikation, sondern allein durch gute und hilfreiche Leistungen. Resonanzstarke Werbung nimmt nur das auf, was ist und verstärkt das positive Vorurteil hinsichtlich einer Marke.“

—  Zitat: Oliver Errichiello

Frage: Wie könnte Kirche also besser kommunizieren?

Errichiello: Indem sie so konkret wie möglich aufzeigt, wo Kirche für das Leben der Menschen auch heute noch Relevanz besitzt und einen Mehrwert bietet. Im Kern geht es darum zu erkennen, was im Jahr 2023 noch Bereiche oder Handlungen sind, die – trotz allem – die Öffentlichkeit positiv mit der Kirche verbindet und diese konzeptionell, organisatorisch und kommunikativ zu bestätigen und zu stärken. Vielleicht ist "Zusageverlässlichkeit" das richtige Wort dafür. Kirche gewinnt nicht durch Kommunikation, sondern allein durch gute und hilfreiche Leistungen. Resonanzstarke Werbung nimmt nur das auf, was ist und verstärkt das positive Vorurteil hinsichtlich einer Marke. Die Kirche sollte nicht an ihren strukturellen Debatten hängenbleiben, sondern ganz simple Fragen beantworten: Helfen wir, wenn Menschen in Not sind? Sind wir da, wenn ein geliebter Mensch stirbt? Sind wir präsent in Lebenskrisen? Erreichbar? Feiern wir die Geburt eines Kindes? Stehen wir den Menschen in der Prüfung bei? Diese Fragen sind allerdings nicht nur durch Geweihte oder Hauptamtliche zu beantworten, sondern sie sind der "Job" aller Christen.

Frage: Klingt eigentlich recht einfach ...

Errichiello: Na ja, so einfach ist das nicht. Eine Marke lebt unmittelbar von einer möglichst engen und konkreten Beziehung zum Menschen, oder nennen wir es Kunden – über Leistungserfahrung. Und genau das ist ein weiteres Problem für die Kirche. Indem sie sich immer weiter aus der Fläche zurückzieht – Stichwort: Großpfarreien – setzt sie diese enge Kundenbeziehung zunehmend aufs Spiel. Ihre eigentliche Stärke, nah bei den Menschen und ihren seelsorglichen Bedürfnissen zu sein, kann sie so immer weniger ausspielen. Die Situation ist aber so wie sie ist. Hier müssen jetzt kreative Lösungen gefunden werden, die dennoch persönliche Nähe sicherstellen. Wie wäre es beispielsweise, wenn eine Gemeinde inhaltliche Schwerpunkte setzen würde? Klassische Gottesdienste, Wort-Gottes-Feiern oder spezielle Gottesdienste für Kinder? Die Gemeinde hätte dann klar definierte Erlebnisräume und müsste nicht versuchen, alles nur "halbgut" sicherzustellen. Klar ist aber auch: Wir kämpfen gegen Erwartungshaltungen an, die seit Generationen in den Köpfen der Menschen verankert sind. Ihre Veränderung ist keine Frage von Jahren ... dabei verwechselt man oft "Aufmerksamkeit" mit "Markenstärke". Aufmerksamkeit allein ist kein Markenwert und hat nichts mit Vertrauen zu tun!

Werbung für ein Mc Donald's-Restaurant auf der Via della Conciliazione in der Nähe des Vatikan in Rom.
Bild: ©KNA

Er sehe eine große Gefahr darin, wenn die Kirche sich zu stark dem Zeitgeist anpassen oder versuchen würde, vermehrt Menschen außerhalb der Kirche zu gefallen, so Errichiello. "Auch McDonald's kann noch so viele vegetarische Produkte anbieten und sein Logo von rot zu grün verändern – die große Mehrheit der Vegetarier wird es trotzdem nicht als Kunden gewinnen."

Frage: Wenn ich Ihnen so zuhöre, stellt sich mir eine Frage: Haben Sie überhaupt noch Hoffnung für die Kirche?

Errichiello: Ja, auf jeden Fall. Die Themen, für die Kirche steht und bei denen ihr von vielen Menschen immer noch eine Kompetenz eingeräumt wird, haben auch in unserer zunehmend säkularen Gesellschaft weiter hohe Relevanz. Ich bin fest davon überzeugt, dass Kirche weiter gebraucht wird! Aber sie muss eben viel stärker lernen, in einer säkularen Welt überzeugend zu kommunizieren und für die eigene Sache zu werben. Die vielen Großbaustellen und die großen kontrovers diskutierten Reformen der Kirche sind wichtig. Sie nehmen heute einen wichtigen Raum ein und werden unterschiedlich diskutiert. Bei all den Diskussionen dürfen aber die unmittelbaren Anliegen der Menschen in den Gemeinden auf keinen Fall vergessen werden. Die Kirche darf nicht in ihren strukturellen Debatten hängen bleiben. Es geht im Kern immer noch um die Botschaft Christi. Kommunikativ sollte sich die Kirche auf höchstens drei Leistungsbereiche fokussieren und so die noch vorhandenen "Stärken stärken". Das heißt nicht, dass alles andere unwichtig wird, aber es steht nicht mehr kommunikativ im Zentrum. Und von einer Strategie würde ich besonders abraten: Die Modernisierung allein auf die Kommunikation abzuwälzen.

Frage: Wenn es um Kommunikation geht, stellt sich immer auch die Frage nach der Zielgruppe. Nur wenn ich weiß, an wen ich meine Botschaft adressieren möchte, kann ich meine Kommunikation zielgenau ausrichten. Was bedeutet das für die Kirche? Sollte sie kommunikativ vor allem die Menschen in den Blick nehmen, die noch in der Kirche sind? Oder sollte sie sich eher auf Menschen außerhalb der Kirche konzentrieren?

Errichiello: Ich plädiere dafür, sich vor allem auf diejenigen Menschen zu konzentrieren, die sich weiterhin zur Kirche bekennen und ihre Angebote nachfragen. Das ist die Kernzielgruppe, die gepflegt werden muss. Denn heutzutage glauben die wenigsten Menschen noch werblich-kommunikativen Botschaften. Wir vertrauen der persönlichen Empfehlung: Menschen, die gute Erfahrungen machen und davon berichten, sind der entscheidende "Werbeblock". Ich würde für die Kirche eine große Gefahr darin sehen, wenn sie sich – Achtung, böses Wort – zu stark dem Zeitgeist anpassen oder versuchen würde, vermehrt Menschen außerhalb der Kirche zu gefallen. Auch McDonald's kann noch so viele vegetarische Produkte anbieten und sein Logo von rot zu grün verändern – die große Mehrheit der Vegetarier wird es trotzdem nicht als Kunden gewinnen. Stattdessen läuft McDonald's Gefahr, seine Stammkunden – also diejenigen, die gerne Fleisch essen – durch mehr vegetarische Produkte zu verprellen. Und genauso könnte es auch der Kirche ergehen: Wenn sie versuchen würde, stärker in der säkularen Gesellschaft zu punkten, würde sie ihren treuen Stammkunden – also denjenigen, die in der Kirche noch beheimatet sind und die kirchlichen Angebote nutzen – unterschwellig signalisieren, dass sie ihr nicht mehr so wichtig sind. Letztlich verliert man alle. Das heiß aber nicht, dass sich nichts ändern darf. Im Gegenteil: Aber es dürfen keine abgekoppelten Kommunikationswelten entstehen. Marken werden nicht durch junge Werbung jung, sondern allein durch junge Leistungen. Und das heißt für die Kirche auf der Leistungsebene, damit leben zu können, dass es nicht einen richtigen Weg gibt, sondern unterschiedliche. Dafür bedarf es mehr Toleranz und des Vertrauens, dass es auch "die Anderen" gut meinen mit der Kirche. Und: Gleichzeitig wehren wir uns in der Kirche gegen die "Logik der kalten Zahlen", aber orientieren uns daran, wie viele noch an Bord sind. Eine reine Mitgliedschaft sagt nichts darüber aus, ob die Kirche stark oder schwach ist. Übrigens richtet sich die Botschaft Jesu ja an alle Menschen – nicht nur an Mitglieder. Die Gottesdienste mögen immer leerer werden, aber die Anzahl der angezündeten Kerzen am Kerzenstand nimmt jedes Jahr zu. Die Formen des Gottes-Dienstes und die, wenn man so will, Kundschaft verändern sich. Hier gilt es, tätig zu werden, Angebote und Ansprachen zu überdenken.

Frage: Sie haben die Kirche jetzt mehrfach als Marke bezeichnet – das wird sicher manche Menschen befremden ...

Errichiello: ... und das kann ich absolut verstehen, denn bei Marken denken wir in der Regel an Coca-Cola oder Mercedes, aber nicht an die Kirche. Die soll schließlich nicht so etwas Profanes sein. Im soziologischen Sinne meint Marke jedoch keine Corporate Identity und auch keine Werbung, sondern ein soziales Bündnissystem, das Menschen mit anderen Menschen oder Organisationen wie eben auch der Kirche eingehen. Die Existenz einer Marke beginnt also dort, wo Menschen eine Marke mit bestimmten, kollektiv geteilten Vorurteilen verbinden.

„Vor allem finden Menschen die Kirche dann gut, wenn sie ganz konkret in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld positive Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben – etwa bei einer schönen Taufe oder der besonders würdevollen Beerdigung eines nahen Angehörigen, also an den wichtigen Lebenswendepunkten.“

—  Zitat: Oliver Errichiello

Frage: Womit wir wieder bei den von Ihnen zu Beginn so gelobten Gemeinden vor Ort wären, oder? Immerhin sind das die Orte, wo Kirche konkret erfahrbar wird – durch Menschen, die der Kirche vor Ort ein Gesicht geben, und durch kirchliche Angebote, die von den Menschen genutzt werden.

Errichiello: Genau. Die sozialen Bündnissysteme, von denen ich sprach, entstehen dort, wo – wir singen ja davon – "sich Menschen begegnen", wo Dinge konkret erlebbar sind. Sicher gibt es auch Menschen, die die Kirche gut finden, weil sie sich etwa in politischen Debatten für das ungeborene Leben oder ganz allgemein für Nächstenliebe engagiert. Vor allem aber finden Menschen die Kirche dann gut, wenn sie ganz konkret in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld positive Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben – etwa bei einer schönen Taufe oder der besonders würdevollen Beerdigung eines nahen Angehörigen, also an den wichtigen Lebenswendepunkten. Menschen denken zu 99 Prozent konkret – ihre Wahrnehmung beruht auf Situationen, die sie erleben. Das ist die Chance und das Risiko zugleich.

Frage: Und Ihre Empfehlung wäre also, sich in der kirchlichen Kommunikation stärker auf diesen positiv wahrgenommenen Markenkern zu fokussieren?

Errichiello: Ja, weil das die Themen sind, bei denen Kirche noch positiv punkten kann, weil ihr hier weiterhin eine gewisse Kompetenz zugesprochen wird. Würde man in der Kirche einen Prozess der Markenbildung initiieren, müsste man darauf hinarbeiten, statt all der Probleme und Baustellen in der Kirche kommunikativ viel mehr die eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen. Negative Vorurteile lassen sich durch Argumente schwer bis gar nicht entkräften. Stattdessen gilt es, die positiven Vorurteile zu betonen. Vor gut einem Jahr hatte ich die Gelegenheit, einen solchen partizipativen Prozess im österreichischen Bistum Feldkirch zu begleiten. In zahlreichen Workshops, Gesprächen und Einzelinterviews mit Mitarbeitenden und Menschen aus der Diözese haben wir damals einen Stärkenkompass entwickelt, um insbesondere den haupt- und ehrenamtlich Engagierten Orientierung für ihre Arbeit zu geben und die herausgearbeiteten Stärken auch kommunikativ stärker in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Das war eine besondere Erfahrung. Denn viele Teilnehmende waren gar nicht mehr gewohnt, über das Gute zu sprechen, was in der Kirche geschieht. Aber wie soll die Kirche Menschen anziehen, wenn die Menschen in ihr oftmals nur noch Probleme sehen? Viele Aspekte werden als natürlich oder selbstverständlich hingenommen, obwohl sie eine unglaubliche Leistung sind. Durch den Prozess ging ein "positiver Ruck" durch die Diözese, weil seither vielerorts dankbar und vielleicht mit etwas Stolz auf das eigene Tun geschaut wird. Und es wird ein Programm deutlich, mit dem sich eine große Mehrheit, egal welche Rolle oder Position vertreten wird, identifizieren kann: Das sind unsere Stärken und solange im Sinn dieser Stärken gehandelt wird, ist es richtig. Ein Rahmen wird vorgegeben in denen sich die Organisation individuell einbringen soll und darf, aber sich strukturell treu bleibt. Die Diözese ist nun in einem anspruchsvollen Implementierungsprozess auf allen Ebenen. Die Markenarbeit ist also in erster Linie eine klare Leistungsarbeit. Im Kontext von Kirche ist pastorale Arbeit entlang der Markenlogik aber natürlich vor allem und zuerst auch ein geistliches Geschehen. Ähnliches würde ich auch deutschen Bistümern empfehlen.

Von Steffen Zimmermann