Ex-McKinsey-Berater: "Wir müssen das Evangelium neu buchstabieren"
Als McKinsey-Mann beriet Thomas von Mitschke-Collande einst Bistümer in finanziellen Fragen und die Deutsche Bischofskonferenz hinsichtlich effektiver Strukturen. 2012 schrieb der praktizierende Katholik das Buch "Schafft sich die katholische Kirche ab?", in dem er sich die Institution kritisch zur Brust nahm. Im Interview spricht der 73-Jährige über die düsteren Ergebnisse der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), an der erstmals neben der evangelischen Kirche auch die katholische beteiligt war.
Frage: Herr von Mitschke-Collande, die Deutschen sind einer Studie zufolge immer weniger religiös und setzen wenig Vertrauen in die Kirchen. Viele denken an Austritt. Hat Sie das Ergebnis überrascht?
Mitschke-Collande: Nein. Die Tendenzen haben sich bereits vor gut 15 Jahren abgezeichnet. Als ich in meinem Buch auf die zu erwartenden Entwicklungen hinwies, wurde ich als Pessimist und Nestbeschmutzer gescholten. Was mich aber jetzt doch gewundert hat, war die Geschwindigkeit, mit der alles nach unten geht. Zumindest die Katholiken hatten einst im Vergleich zu den Protestanten hinsichtlich ihrer Religiosität noch eine deutlich stärkere Kirchenbindung. Dass diese nun auch bei ihnen so stark eingebrochen ist, kam für mich überraschend.
Frage: Gibt es einen Brandbeschleuniger?
Mitschke-Collande: Der Brandbeschleuniger ist der Missbrauchsskandal – dass er stattgefunden hat sowie die Art der Aufarbeitung. Dazu kommt der Reformstau. In den Nuller- und Zehnerjahren sind tendenziell mehr Protestanten ausgetreten als Katholiken. Im letzten Jahr hatten wir ein Verhältnis von 300.000 Protestanten zu 500.000 Katholiken. Meine holzschnittartige Hypothese lautet: Der Austritt von jeweils 300.000 Mitgliedern beider Kirchen ist der Säkularisierung geschuldet. Den Leuten bedeutet die Kirche nichts mehr, sie dient ihnen nicht als Orientierung. Die weiteren 200.000 Katholiken traten aus wegen des Missbrauchsskandals und der Reformunwilligkeit ihrer Kirche.
Frage: Sie haben als Unternehmensberater und privat als Katholik immer wieder versucht, Stärken und Schwächen der Firma Gott&Sohn aufzuzeigen. Sind Ihre Ratschläge verhallt?
Mitschke-Collande: Zumindest teilweise. In der jetzigen Reformdiskussion sehe ich sie jedoch wieder. Wobei ich nicht für mich beanspruchen möchte, dass diese aufgrund meiner Forderung etwa beim Synodalen Weg zum Thema wurden. In meinem Buch schrieb ich damals, dass die Kirche vielen dialog- und kritikunfähig, oberlehrerhaft und auf Moralfragen fixiert vorkomme, sie sollte stattdessen eine dienende, hörende, helfende, lernende Kirche werden. Dafür erhielt ich viel Zustimmung, wurde aber auch massiv angegriffen. Heute gehört das zum Mainstream bei den Reformorientierten.
Frage: Papst Franziskus hat sogar eine Weltsynode anberaumt. Doch die deutschen Reformpläne werden immer wieder vom Vatikan moniert. Die Kommunikation zwischen Zentrale und Außenstelle scheint nicht zu funktionieren. Was würde ein Unternehmensberater empfehlen?
Mitschke-Collande: Die Zentrale, die weltweit Filialen hat, muss sich überlegen, was wirklich wichtig ist und daher zentral entschieden werden muss. Das sollte so wenig wie möglich sein. Der Rest muss vor Ort entschieden und gestaltet werden. Die Situation in Westeuropa ist völlig anders als in Afrika oder Südamerika. Jede große Organisation schreibt nicht im Detail alles vor, was zu machen ist, sondern gibt die Ziele vor. Vor Ort können die Leute am besten beurteilen, mit welchen Maßnahmen diese Ziele erreicht werden können.
Frage: Können Sie ein Beispiel aus der Wirtschaft nennen?
Mitschke-Collande: Jede weltweit operierende Firma, die erfolgreich ist, handelt so. Was bei der Diskussion über Reformen aber zu kurz kommt, möchte ich in einem Bild beschreiben: Wir sind dabei, die Inneneinrichtung unseres Hauses Kirche anders zu strukturieren. Wir stellen Möbel um, reißen Wände ein. Doch das Dach brennt längst lichterloh.
Frage: Was hilft beim Löschen?
Mitschke-Collande: Wir müssen das Evangelium neu buchstabieren, damit dieses auch den Menschen des 21. Jahrhunderts etwas zu sagen hat. Die jüngste Studie zeigt nämlich auch, dass christliche Glaubensaussagen und Wertvorstellungen den Menschen von heute für ihr Leben nicht mehr wichtig sind. Sie können damit nichts anfangen.
Frage: Welche Gefahr birgt dies für die Gesellschaft?
Mitschke-Collande: Natürlich kann man argumentieren, dass in unseren Gesetzen und in unserem Wertesystem ein Humanismus vorhanden ist, in den wesentliche Teile des christlichen Glaubens geflossen sind. Das betrifft das Miteinander, also die Beziehung, die der einzelne zur Gesellschaft und zu anderen Menschen hat. Bei allem Fortschritt gibt es aber Fragen, die ich nur in einer religiösen Verankerung beantworten kann, etwa was am Anfang und am Ende des Lebens erlaubt ist. Dieser Kompass geht verloren, wenn zunehmend die spirituelle Koordinate fehlt.
Frage: Können Sie das näher erläutern?
Mitschke-Collande: In den Niederlanden wurde Religion zunehmend durch säkularen Humanismus ersetzt. Doch was, wenn mit der Zeit auch dieser erodiert? Bei den letzten Wahlen hat der Rechtspopulist Geert Wilders die meisten Stimmen errungen. Ich will Debatten um die Rolle der Frau in der Kirche, den Umgang mit Sexualität und Macht nicht relativieren. Sie sind wichtig. Am Ende aber werden diese die Kirchen nicht wirklich retten. Die große Herausforderung besteht darin, zu zeigen, in welcher Weise die christliche Botschaft dem heutigen Menschen hilft, sein Leben zu gestalten und der Gesellschaft einen Dienst erweist, damit sie sozial und human bleibt und nicht gespalten wird.