"Vollzeit-Nikolaus": Manche Schicksale sind schwer auszuhalten
Am liebsten besucht der 69-jährige Rentner Wolfgang Kimmig-Liebe als "Nikolaus" viele Kinder, um ihnen Gutes zu sagen. Vielleicht deshalb, weil er selbst eine ziemlich schwere Kindheit hatte. Die Geschichte von einem, der versöhnt auf sein Leben blickt und an die Macht der Liebe glaubt.
Wolfgang Kimmig-Liebe wächst in Böblingen in der Nähe von Stuttgart auf. Seine Mutter arbeitet als Kellnerin, ist alleinerziehend und manchmal auch überfordert mit ihren sieben Kindern von sieben verschiedenen Vätern, erzählt der 69-Jährige im Rückblick. "Wenn ich als Kind andere Kinder mit ihren Vätern habe Fußball spielen sehen, war ich traurig. Denn das hatte ich nie." Sein Vater fehlt ihm sein Leben lang. Dass seine Mutter ihn auch mit Gewalt straft, sieht er heute versöhnt. "Sie war halt überfordert", sagt er. Schon damals gibt ihm sein Glaube Kraft. In der Kirchengemeinde St. Bonifatius engagiert er sich später viele Jahre als Ministrant und hilft bei sozialen Aufgaben mit. Der Glaube an das Gute im Menschen motiviert ihn dazu.
Später macht er eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker, heiratet und wird Vater von zwei Kindern. Weil die Ehe zerbricht, lebt Kimmig-Liebe heute mit einer neuen Lebenspartnerin zusammen. Mit ihr sei er endlich angekommen, sagt er. Den Nachnamen seiner ersten Frau habe er aber behalten, weil ihm die "Liebe" so wichtig sei. Er lacht.
Und dann berichtet Kimmig-Liebe, wie es dazu kam, zu der Sache mit dem Nikolaus. Das war damals, als er Anfang 30 und seine Mutter nach einer Operation im Krankenhaus ist. Neben ihr im Zimmer liegt eine ältere Dame. Die spricht nicht, isst nicht und blickt nur geradeaus. Weil die Frau ihm so leidtut, setzt er sich zu ihr ans Bett, streichelt ihre Hand und sagt ihr, dass alles wieder gut werde. Sie habe dann nur gesagt: "Weihnachtsmann". Das habe ihn so überrascht, sagt Kimmig-Liebe, dass er erst denkt, das sei ein Scherz. Aber seine Mutter bekräftigt die alte Dame. Sie sagt ihm: Du wärest ein guter Nikolaus mit einem großen Herzen. Damals habe er im Krankenhaus sogar geweint, erzählt der 69-Jährige. Später habe er es dann einfach ausprobieren wollen. Das mit dem Nikolaus-Sein. Er kauft sich ein passendes Kostüm, leiht sich Bücher über den heiligen Nikolaus aus und fragt beim örtlichen Kindergarten. Die Kinder freuen sich sehr über ihn. Kimmig-Liebe spürt, dass er das kann, "Nikolaus sein". Und dann besucht er alte Menschen, Kranke, Sterbenskranke sogar und merkt, dass sie sich ihm öffnen, lachen und Hoffnung schöpfen. "Das ist jedes Mal ein Geschenk für mich", sagt Kimmig-Liebe, und auch wie eine Berufung für ihn.
Einmal habe er innerhalb von sieben Tagen 800 Menschen besucht. Sehr oft sagen ihm die Menschen dann: "Danke, dass du da bist, Nikolaus. Jetzt geht es mir schon besser." Kimmig-Liebe ist sich sicher, dass Gott in solchen Momenten auch mit dabei ist. So fällt es ihm leichter, Gutes zu tun, zuzuhören und zu trösten. Auch der Ehrenamtskoordinator der Böblinger Kirchengemeinde, Bratislav Božović, bestätigt, dass Kimmig-Liebe ein guter Christ sei mit einem großen Herzen für Menschen.
Er hat Zweifel, wenn Menschen ihn beleidigen oder beschimpfen
Von der Kirchengemeinde leiht sich Kimmig-Liebe anfangs auch das Nikolausgewand aus, dazu Mitra und Stab und besucht Einrichtungen auch außerhalb der Kirchengemeinde. "Es waren unzählige Uni-Kliniken, Hospize und Altenheime, die ich kennen gelernt habe", erinnert er sich. Er umarme dann auch die Menschen, wenn sie es möchten, setze sich zu ihnen ans Bett, weine mit ihnen, tröste sie. Manche Schicksale seien auch schwer auszuhalten, sagt er. Aber all das gebe ihm aber so viel Kraft, weiterzumachen. Als Nikolaus habe er auch stets eine Kiste dabei, in die er nach jedem Besuch all das, was die Menschen ihm erzählen, hineinlege. "Das ist Himmelsgold und da drin gut aufgehoben", sagt er. Auch seine eigenen Kinder besuchte Kimmig-Liebe als sie noch klein waren, jedes Jahr als Nikolaus. Im Rückblick gibt er zu, hatte er immer wieder Zweifel. Ob das alles so richtig sei, was er tue. Vor allem dann, wenn Menschen ihn beleidigen oder sogar beschimpfen. Denn schließlich habe er sogar seinen Job bei Audi als Auto-Mechatroniker auch kurz vor der Rente dafür aufgegeben, um ein "Vollzeit-Nikolaus" zu sein, erzählt er.
Die vielen positiven Erfahrungen bestärken ihn aber immer wieder darin, weiterzumachen. Dann berichtet er von seinen "Nikolaus-Reisen" in viele europäische Länder. Kimmig-Liebe war in den USA und im Heiligen Land. Sogar im Gaza-Streifen hat er vor ein paar Jahre einige christliche Krankenhäuser besucht. Einmal im Jahr reist er auch in die türkische Stadt Demre in der Nähe von Antalya. Früher hieß die Stadt Myra. Hier soll der "echte Nikolaus" gelebt haben. Dort hat man den Nachfolger des echten Nikolaus, Wolfgang Kimmig-Liebe, sehr freundlich aufgenommen. Sogar der türkische Kulturminister hole ihn persönlich vom Flughafen ab, berichtet der 69-Jährige. Bei seinen Besuchen versuche er, den Menschen Hoffnung und Frieden zu bringen. Er erzählt auch von einer Reise in diesem Jahr nach Syrien nach der Erdbebenkatastrophe. Dort sei es unter den Helfern fast einmal zu einem handfesten Streit gekommen. Dann habe er sich in die Mitte hingekniet und gebetet, bis sich alle beruhigt haben, weiß er noch.
All das gebe ihm viel Kraft. Auch wenn ihn manche für verrückt erklären, wenn er im Nikolausgewand im Flieger sitzt und auf Reisen geht. "Ich reise nur im Gewand", sagt er. Fünf verschiedene besitzt er mittlerweile. Eines davon hat ihm Papst Benedikt XVI. geschenkt, ein anderes sei vom Erzbischof aus Wien, Kardinal Christoph Schönborn. Sein allererstes Nikolauskostüm bewahrt Kimmig-Liebe zu Hause in einer Glasvitrine auf. Im nächsten Jahr feiert er ein Jubiläum als Nikolaus. "40 Jahre Nikolaus Wolfgang Kimmg-Liebe", sagt er. Der Zusatz "Nikolaus" steht so auch in seinem Personalausweis, schwarz auf weiß, sagt er. All das, das Nikolaus-Sein, mache er eigentlich nur für die Kinder, erzählt er. Er wünscht sich, dass sie in Frieden und ohne Gewalt aufwachsen können. Anders, als er es als Kind erlebt hat. Seiner Mutter hat er alles verziehen. Vor einigen Jahren ist sie gestorben. Regelmäßig bringt er ihr Blumen an ihr Grab. Heute ist Kimmig-Liebe im Stuttgarter Raum eine Persönlichkeit. Sogar ins Fernsehen hat er es schon mehrfach geschafft. Einmal hat er bei einem seiner Auftritte in einer Talkshow den Chef der Lebkuchenfirma Lambertz kennengelernt. Seitdem erhält Kimmig-Liebe jedes Jahr zig Lebkuchenprinten zum Verteilen in den Kindergärten und ist auch der offiziell von der Firma Lambertz gesponserte Nikolaus, der "Lambertz-Nikolo".
Mit den Spendengeldern finanziert er die vielen Reisen im Nikolausgewand, betreibt eine eigene Internetseite und organisiert soziale Events. Jedes Jahr legt er dann ende Dezember sein Nikolausgewand wieder in der Böblinger Kirche ab. Das ist ein wichtiges Ritual, dann dann, "bin ich wieder der Wolfgang", so der 69-Jährige lachend. "Aber nur bis zum nächsten Dezember." Aufhören möchte er noch lange nicht. Solange Gott es zulässt, bleibe ich ein "Friedensbringer", ist sich Wolfgang Kimmig-Liebe sicher.