Voraussetzungen für den Gottesdienst hätten sich gewandelt

Kirchenmusiker: Müssen geistliche Musik auch in Kindergärten bringen

Veröffentlicht am 21.01.2024 um 11:30 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 
Kirchenmusiker: Müssen geistliche Musik auch in Kindergärten bringen
Bild: © Privat

Rottenburg ‐ Welche Musik braucht die Kirche im 21. Jahrhundert? Der Rottenburger Diözesanmusikdirektor Walter Hirt erklärt im katholisch.de-Interview, warum Vielfalt wesentlich ist und welche Transferleistung die Musik in der Liturgie heute leisten muss.

  • Teilen:

Die Kirche verändert sich – und mit ihr die Musik, die in ihr ertönt. Aber auf welche Weise? Im Interview spricht der Diözesanmusikdirektor der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Walter Hirt, über die wichtigen Grundlagen und Leitplanken für die Musik in der Liturgie.

Frage: Nicht zuletzt angesichts der Austrittszahlen stellt sich die Frage, wie sich die Kirche aufstellt. Gleichzeitig bewegen sich progressive und konservative Katholiken voneinander weg. Haben diese unterschiedlichen Phänomene in der Kirche auch Einfluss auf die Kirchenmusik?

Hirt: Ich glaube, dass die Kirchenmusik das verbindende Elemente zwischen den beiden Gruppen sein kann. Die Progressiven glauben, dass wir durch eine Änderung der Formen und äußeren Rahmenbedingungen wieder zum Glauben kommen. Die Konservativen dagegen sind der Ansicht, dass sich durch einen starken und blühenden Glauben die Strukturen von allein verändern. Was hält die Kirche da zusammen? Es ist der Glaube in seinem Wesenskern – und dieser Wesenskern drückt sich in der Musik aus. Elementar ist dabei der Auftrag jeden Geschöpfes des ganzen Kosmos, unseren Schöpfer zu preisen, also der Ur-Frage nach dem Ursprung unserer Existenz nachzugehen. Wenn wir uns das jeden Tag bewusst machen, führt das zum Zentrum des Glaubens. Um dieses biblische Fundament und das Leben und Wirken von Jesus Christus in das Heute hinein zu übersetzen, brauchen wir alte Formen und neue Formen, ganz verschiedene Stile. Diesbezüglich ist die Musik geradezu prädestiniert, in ihrer Vielfalt die unterschiedlichen Glaubenszugänge zu befördern.

Frage: Aber da gibt es doch auch ein Spalt-Potenzial, denn Musik ist auch Geschmacksfrage – Stichwort Neues Geistliches Lied, das beispielsweise sehr polarisiert.

Hirt: Man muss immer sensibel sein. Im Beten, Singen und Musizieren wenden wir uns in einem persönlichen Beziehungsgeschehen an Gott.  Also sollten wir unabhängig vom Stil immer unser Bestes geben – in der Aussage des Textes wie im musikalischen Konzept. Natürlich impliziert ein Lied aus dem 16. Jahrhundert unter anderem auch ein anderes Kirchenbild als ein Lied aus dem 21. Jahrhundert. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine biblisch fundierte Aussage eines Liedes die Zeiten überdauert.  Und auf der Grundlage eines Liedtextes in dieser Ausrichtung ist oft die musikalische Substanz um Welten besser, als wenn sich der Inhalt des Liedes nur an der Nabelschau persönlichen Empfindens orientiert.

Frage: Die Musik im Gottesdienst geht immer von einer gewissen Glaubensgrundlage aus, einem Wissensbestand. Der ist aber immer weniger gegeben. Welche kirchenmusikalischen Impulse sind für eine nach-volkskirchliche Kirche notwendig?

Hirt: Früher war es so, dass es einen katechetischen und religionspädagogischen Vorbau gab, der die Grundlage darstellte, in den Hochformen der Liturgie feiern zu können. Früher fand das Glaubensleben in den Familien und vielen Pfarreigruppen statt. Das ist verloren gegangen. Die vielfältigen Formen der Glaubensvermittlung werden nun allein auf die Liturgie hin fokussiert. Wo wir früher unter der Voraussetzung gemeinsamer Glaubensvollzüge Liturgie feiern konnten, gibt es heute immer mehr Menschen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Das überfordert jede Liturgie. Deshalb stellt sich die Frage: Müssen wir jeden Sonntagsgottesdienst voraussetzungslos feiern? Oder nicht mehr Gottesdienste anbieten, die auf Zielgruppen zugeschnitten sind? Wir können nicht die ganze Gesellschaft mit einer Form der Liturgie erreichen. Das wird immer jemanden enttäuschen. Aber bei aller Vielfalt der Angebote muss das Ziel immer bleiben, die Menschen hinzuführen in die Liturgie der Kirche, die alle Generationen, alle Milieus, die sogenannten Glaubensstarken und die vermeintlich Glaubensschwachen um einen Altar zu versammeln.

Bild: ©katholisch.de/cph

Bis heute ein Symbol für die Kirchenmusik: Die Orgel, hier im Dom zu Münster.

Frage: Das heißt, es braucht dann unterschiedliche Formen von Musik.

Hirt: Wir brauchen eine ausdifferenzierte Gottesdienstkultur und wir brauchen eine ausdifferenzierte kirchenmusikalische Struktur. Das Berufsbild der Kirchenmusiker hat sich gewandelt: Wir müssen die klassischen Orte der Kirchenmusik öfters verlassen und die geistliche Musik in die Kindergärten, Pflegeheime, Familien-Singkreise oder säkularen Kulturzentren bringen. Dabei dürfen wir aber nicht wie Zirkushunde über jedes Stöckchen der Anspruchslosigkeit springen, das uns hingehalten wird. Wir haben als Musiker den Anspruch, dass die Musik in ihrer Strahlkraft eine Chance hat, auf das Wort Gottes zu verweisen, auf die Größe, auf das Geheimnis seiner Unverfügbarkeit und auch seiner Verborgenheit. Das geht nur, wenn die Musik immer profiliert ist und darin dem entspricht, was wir glauben und feiern.

Frage: Wie klingt denn profilierte Kirchenmusik?

Hirt: So, dass in und vor allem hinter den Tönen ein spiritueller Mehrwert zu vernehmen ist. Das ist keine Frage der Komplexität musikalischer Strukturen, sondern eine Frage der Ausrichtung und des Wissens um die Wirkmacht der Musik.

Frage: Muss auch die Ausbildung in der Kirchenmusik auf diese unterschiedlichen Anforderungen besser vorbereiten?

Hirt: Auf jeden Fall, das geschieht je nach Ausbildungsstätte in unterschiedlichen Gewichtungen. Gerade an den kirchlichen Musikhochschulen in Regensburg oder Rottenburg achten wir aber sehr darauf, dass das Berufsbild, das auf eine musikalische Vielfalt ausgerichtet ist, im Studium vermittelt wird. Die Musikerinnen und Musik müssen Kinderchöre genauso leiten können wie die große Kantorei sowie das Neue Geistliche Lied auf Orgel und E-Piano spielen können. Davon unangetastet bleiben die verschiedenen Schwerpunkte der einzelnen Hochschulen bestehen – und das ist auch gut so, wenn alle Grundlagen gut vermittelt sind.

„Die Frage der Zukunft der Kirchenmusik ist nicht abhängig von Milieu oder Stil, sondern von der Frage, ob das, was wir musizieren und singen, selbst Gebet ist oder ob es zum Gebet hinführt.“

—  Zitat: Walter Hirt

Frage: Die Musiklandschaft wandelt sich schnell. Es gibt elektronische Musik, die jungen Leute hören heute überwiegend Rap. Muss das auch Einzug in die Kirche halten?

Hirt: Es hat schon immer eine Avantgarde gegeben, denken Sie allein an Olivier Messiaen. Dieser Komponist hat Thomas von Aquin und Hans Urs von Balthasar gelesen, seine Musik war ein hohes Zeugnis von Spiritualität. Dieses Stichwort ist der Schlüssel: Egal, ob wir von einem Anbetungsgottesdienst mit einer Band und einer Lightshow im Hintergrund sprechen, einer Geistlichen Oper oder einer Choralvesper. Es kommt immer darauf an, sich die Frage zu stellen: Wo liegt der spirituelle Mehrwert? Da müssen wir uns immer wieder fragen lassen, ob wir der Unterhaltungsindustrie hinterherrennen. Geht es um uns selbst und unsere Profilierung oder geht es um den großen Fingerzeig auf die Größe und Barmherzigkeit Gottes? Die Frage der Zukunft der Kirchenmusik ist nicht abhängig von Milieu oder Stil, sondern von der Frage, ob das, was wir musizieren und singen, selbst Gebet ist oder ob es zum Gebet hinführt. Wir beschäftigen uns in den letzten Jahren ganz oft mit der Frage nach liturgischen Standards. Dabei geht es oft aber nur um äußere Parameter der Unterhaltungsindustrie: Man muss gut unterhalten sein, man muss sich wohlfühlen. Als Kirche müssen wir uns aber die Frage stellen, ob wir durch das Singen und Musizieren unserem lebendigen Gott begegnen können.

Frage: Gibt es denn eine Leitplanke, wo Sie sagen: Das hat in der Kirche nichts zu suchen?

Hirt: Die Leitplanke ist das Wort Gottes und der Inhalt unseres Glaubens. Es gibt ja immer wieder die spannende Frage, ob man ein weltliches Lied in die Liturgie integrieren darf, also ein Lied, in dem Gott nicht vorkommt, in dem kein einziges Wort einen Bezug zu unserem christlichen Glauben hat. Ich würde sagen: In Grenzfällen ja, aber dann muss dieses Lied spirituell ausgedeutet werden. Aber ich erlebe leider auch Musik in Gottesdiensten, wo dieser Brückenschlag nicht stattfindet, sondern wo man zufrieden ist, wenn die Leute durch den tagtäglichen Wiedererkennungswert eines Songs oberflächlich gesättigt werden. Da ist die Grenze dann überschritten. Wir Kirchenmusiker und Kirchenmusikerinnen sind Grenzgänger, und wollen – um mit dem Apostel Paulus zu sprechen – alles prüfen und das Gute behalten.

Von Christoph Paul Hartmann