Amtsübergabe nach 18 Jahren als Prior der ökumenischen Gemeinschaft

Frère Alois: Taizé braucht neue Strukturen – aber sie sind nicht alles

Veröffentlicht am 02.12.2023 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Bonn/Taizé ‐ Nach 18 Jahren gibt Frère Alois das Amt als Prior von Taizé ab. Im katholisch.de-Interview erklärt er, welche Veränderungen in der Gemeinschaft anstehen und welche Konsequenzen sie aus den Missbrauchsfällen gezogen hat. Dazu spricht er über seinen Blick auf Zukunft der katholischen Kirche.

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In Taizé endet an diesem Samstag eine Ära: Der Katholik Frère Alois Löser (69), der aus Deutschland stammt, übergibt nach 18 Jahren offiziell sein Amt als Prior der berühmten ökumenischen Gemeinschaft im französischen Burgund. Er führte sein Amt mit Visionen und Ideen, mit immer freundlicher Hingabe und Demut aus. Doch als 2019 bekannt wurde, dass mehrere seiner Mitbrüder Jugendliche sexuell missbrauchten, war das nicht nur für ihn ein großer Einschnitt. Zum Abschied als Prior spricht Frère Alois darüber, was die Gemeinschaft aus diesen Fällen gelernt hat. Und er betont, dass die Communauté im Blick auf die Zukunft gerade jetzt einen neuen Impuls brauche.

Frage: Frère Alois, wie schwer fällt Ihnen das Abgeben der Verantwortung und der damit verbundene Neustart?

Fr. Alois: Das ist natürlich ein weitreichender Schritt, nicht mehr die Verantwortung als Prior zu tragen – ein echter Neubeginn für mich, aber auch für die Communauté. Ich empfinde jedoch keine Wehmut oder Bitterkeit und vertraue darauf, dass es richtig ist, nach so vielen Jahren die Verantwortung in andere Hände zu legen, damit neue Ideen Raum finden können.

Frage: Wie steht die Gemeinschaft aus Ihrer Sicht aktuell da?

Fr. Alois: Wir sind dankbar, dass sich junge Brüder der Gemeinschaft anschließen, und wir sind dankbar für die Kontinuität nach dem Tod von Frère Roger. Es ist ein großes Geschenk, dass die Jugendtreffen in dieser Form weitergegangen sind, nicht nur hier in Taizé, sondern auch auf den anderen Kontinenten. Aber nun wird der Abstand zur Gründerzeit von Taizé immer spürbarer, auch weil eine wachsende Zahl von jungen Brüdern Frère Roger nicht mehr gekannt hat. Das bedeutet, dass die Communauté ihre Motivation nicht nur in der Rückschau auf die Gründungszeit finden kann, sondern diese im Heute neu formulieren muss. Daher ist es gut, dass ein Wechsel des Priors stattfindet.

Frage: Sie beschreiben, dass sich die Communauté gewissermaßen in einer Wendezeit befindet, und sprechen von neuen Ideen. Welche sind das?

Fr. Alois: Wir wollen zum Beispiel alle Brüder stärker an den Entscheidungen beteiligen. Das ist eine wichtige Frage: Wie können wir unseren Weg noch enger gemeinsam gehen? Und es geht auch um die Begleitung der Brüder. Jeder Bruder wird auf seinem Weg im Glauben persönlich begleitet. Das geschah bisher unter uns Brüdern, aber wir sehen, dass es wichtig ist, dabei auch Menschen von außerhalb der Communauté einzubeziehen. Generell ist uns in den letzten Jahren einen Blick von außen immer wichtiger geworden. So haben wir letztes Jahr zum Beispiel vier Personen eingeladen – zwei evangelische und zwei katholische Christen, zwei Frauen und zwei Männer –, die mit jedem einzelnen Bruder gesprochen und alles in einem Bericht zusammengefasst haben. Das hilft uns, an ganz konkreten Punkten weiterzuarbeiten.

Bild: ©katholisch.de (Archivbild)

Frère Alois Löser bei einem Abendgebet während des 40. Europäischen Jugendtreffens in Basel zum Jahreswechsel 2017/18.

Frage: Es geht also in erster Linie um klarere Strukturen?

Fr. Alois: Zurzeit ist vieles am Entstehen, und da braucht es einige Strukturen, die für die Zukunft einen Rahmen geben. Aber klar ist auch: Wir wollen eine kleine Gemeinschaft bleiben. Momentan sind wir an die 90 Brüder, davon leben 15 bis 20 auf den anderen Kontinenten. Wir wollen den familiären Charakter unserer Communauté bewahren und uns nicht mit zu vielen Strukturen Sicherheit verschaffen.

Frage: In den vergangenen Jahren wurde auch Taizé durch das Bekanntwerden von Fällen sexuellen Missbrauchs erschüttert. Dabei war immer wieder die Rede von mangelnder Aufarbeitung. Können Sie jetzt dafür garantieren, dass jungen Menschen, die zu den Treffen kommen, nichts passiert?

Fr. Alois: Das kann man nie hundertprozentig garantieren. Aber seitdem wir erfahren haben, dass es diese schrecklichen sexuellen Übergriffe von Brüdern gegenüber jungen Menschen gab, sind wir bemüht, alles zu tun, um einerseits die Opfer so gut wie möglich zu begleiten und andererseits Strukturen zu schaffen, welche die Sicherheit des Ortes noch stärker gewährleisten, als das früher der Fall war. Das wurde in großem Maße inzwischen umgesetzt. So machen etwa machen die Brüder und alle, die bei den Jugendtreffen mitarbeiten, eigene Fortbildungen. Dazu haben wir die Unterstützung von Psychologen und Sozialarbeitern von außerhalb der Gemeinschaft. Darüber hinaus prüft ein unabhängiges Team von vier kompetenten Personen in regelmäßigen Abständen unser mittlerweile erarbeitetes Schutzkonzept.

Frage: Inwiefern spielt das Thema Missbrauch bei den Begegnungen in Taizé eine Rolle?

Fr. Alois: Wir bieten jede Woche ein offenes Gespräch zu diesem Thema an. Dieses Angebot wird rege wahrgenommen. Die Teilnehmer wollen wissen, was hier geschehen ist, und die Brüder stehen Rede und Antwort. Dabei geht es nicht nur um Missbrauch in Taizé, sondern auch in der Kirche allgemein. Es kommen zu diesen Treffen auch Menschen, die eigene schlimme Erfahrungen gemacht haben. Sie finden hier eine Plattform, um darüber zu sprechen, manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben.

Frage: Nehmen Sie bei den Jugendlichen, die nach Taizé kommen, aufgrund dieser Vorgeschichte inzwischen eine größere Skepsis wahr?

Fr. Alois: Ich würde nicht von Skepsis sprechen. Man kann mit Blick auf die Zahlen auch nicht sagen, dass es bei den Besuchern einen Vertrauensbruch gegeben hätte. Aber sie fordern, dass wir die Wahrheit sagen und uns den Dingen stellen. Und das wollen wir. Gleichzeitig durchleben natürlich die Betroffenen, die hier Schlimmes erlebt haben, einen ungeheuren Vertrauensbruch. Das ist für uns Brüder schwer mitzuerleben.

Frage: Gibt es im Rückblick ganz generell Punkte, die sie in Ihrer Amtszeit kritisch sehen? Was würden Sie mit ihrer heutigen Erfahrung anders machen?

Fr. Alois: Ich war in all den Jahren viel unterwegs. Es wäre vielleicht gut gewesen, mehr Zeit mit den Brüdern hier zu verbringen und ganz einfach Gemeinschaft zu leben. Das hat mir und wohl auch uns allen gefehlt, wie ich im Nachhinein feststelle. Aber ich möchte vor allem meinen Brüdern danken, dass sie alles mitgetragen haben.

„Ich würde nicht von Skepsis sprechen. Man kann mit Blick auf die Zahlen auch nicht sagen, dass es bei den Besuchern einen Vertrauensbruch gegeben hätte. Aber sie fordern, dass wir die Wahrheit sagen und uns den Dingen stellen. Und das wollen wir.“

—  Zitat: Frère Alois über einen eventuellen Vertrauensverlust bei Jugendlichen nach den Missbrauchsfällen in Taizé

Frage: Kommen wir nun zum Verhältnis zwischen Taizé und der Amtskirche. Sie sind ja Katholik. Wie haben Sie in Ihrer Amtszeit das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und der katholischen Kirche wahrgenommen?

Fr. Alois: Wir erfahren viel Unterstützung von den Verantwortlichen der verschiedenen Konfessionen. Persönliche Beziehungen sind für uns deshalb so wichtig, weil wir als ökumenische Gemeinschaft keinen rechtlichen Status in einer Kirche haben. So sind wir beispielsweise sehr dankbar, wie Papst Benedikt XVI. uns unterstützt hat. Auch zu Papst Franziskus haben wir ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Vor Kurzem haben wir zu Beginn der Weltsynode gemeinsam ein ökumenisches Gebet auf dem Petersplatz vorbereitet. Das war eine sehr eindrucksvolle Erfahrung.

Frage: Wenn ich Sie jetzt ganz persönlich frage: Gab es in den vergangenen 18 Jahren Situationen, in denen Sie von Ihrer katholischen Kirche enttäuscht waren?

Fr. Alois: Ich würde nicht von Enttäuschung sprechen, sondern von einer gewissen Traurigkeit, dass in der Ökumene so wenig weitergeht. Ich bin dankbar für die Menschen, die konkrete Schritte gehen und zum Beispiel regelmäßig zu einem gemeinsamen Gebet zusammenkommen. Es gibt unzählige ökumenische Initiativen, und wir sehen ja auch hier in Taizé, wie vielen Menschen die Ökumene ein Herzensanliegen ist. Aber ich würde mir noch mehr wünschen.

Frage: Aktuell findet in der katholischen Kirche ein großes Ringen um den künftigen Kurs statt. Wie blicken Sie darauf? Sie waren ja zuletzt als Beobachter bei der Weltsynode in Rom dabei.

Fr. Alois: Die Synode war ein großer Schritt nach vorne, weil wirklich das Volk Gottes zusammengekommen ist. Natürlich sind die Bischöfe für ihren Dienst geweiht und haben ihre Aufgabe. Laien sind Laien und Ordensleute sind Ordensleute. Aber was besonders herausgestellt wurde, ist die gemeinsame Würde, die allen durch die Taufe verliehen ist. Dieser theologische Grundgedanke war die Basis der Synode: Der Beitrag jedes Teilnehmers hatte das gleiche Gewicht. In den kleinen Runden fanden intensive Gespräche statt, da wurde auch miteinander gerungen. Aber zuallererst ging es darum, einander zuzuhören. Das war eine sehr gute Erfahrung, und es war eine Freude in der Synode spürbar. Natürlich wird sich früher oder später die Frage stellen, wie in der Kirche Entscheidungen getroffen werden. Im Synthese-Bericht wurden konkrete Vorschläge gemacht, die jetzt reifen müssen.

Frère Alois und Taizé: Einfachheit als Prinzip, Missbrauch im Genick

18 Jahre leitete Frère Alois die Gemeinschaft von Taizé. Zum Ersten Advent gibt er sein Amt als Prior ab. Demut und Idealismus zeichneten seinen Stil aus. Doch die zuletzt öffentlich gewordenen Missbrauchsvorwürfe gegen mehrere Brüder zermürbten ihn

Frage: Das heißt, die Weichen für eine synodalere Kirche sind gestellt?

Fr. Alois: Die erste wichtige Weichenstellung war ein Mentalitätswandel: Wir sind gemeinsam das Volk Gottes. Ohne einen tiefgreifenden Mentalitätswandel werden wir in den Strukturreformen nicht weiterkommen, weil Entscheidungen dann immer nur von einem Teil der Beteiligten kommen und dem anderen Teil auferlegt werden. Das ist auch Papst Franziskus im Augenblick ein großes Anliegen.

Frage: Bei allen Fragen nach der Zukunft kirchlichen Lebens: Ist Taizé in diesem Punkt eher Avantgarde oder Außenseiter?

Fr. Alois: Ich weiß nicht, ob man das so einordnen kann. Wir wollen einfach das Evangelium leben; wir wollen eine Gemeinschaft sein, die aus dem Vertrauen auf Christus lebt. Das ist unsere Berufung. Und dann hoffen wir, als Gemeinschaft ein Zeichen dafür zu sein, dass das Evangelium wahr und nicht nur eine Ideologie ist. Ob das avantgardistisch oder Zeichen von Außenseitertum ist – das weiß ich nicht.

Frage: Was genau machen Sie nach der Amtsübergabe?

Fr. Alois: Ich fahre kommende Woche zunächst nach Italien zu einer Gemeinschaft, mit der wir eng verbunden sind. Im Februar gehe ich dann mit zwei Brüdern nach Kuba, wo wir bereits seit ein paar Jahren eine kleine Fraternität haben, quasi eine "Außenstelle". Dort werde ich zwei Jahre lang leben. Einerseits hatte sich die Frage gestellt, ob ein paar Brüder dort hingehen können, andererseits wollte ich bewusst für Frère Matthew, meinen Nachfolger, Platz machen.

Frage: Und was ist nach den zwei Jahren? Kehren Sie dann nach Taizé zurück?

Fr. Alois: Das steht noch nicht fest. Das werden wir dann sehen.

Von Matthias Altmann