Moraltheologe über kirchliche Sexualmoral und Beziehungsethik

Lintner: Kirche hat Menschen das Leben unnötigerweise schwer gemacht

Veröffentlicht am 04.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Brixen ‐ In seinem neuen Buch beschäftigt sich Martin M. Lintner mit der kirchlichen Sexualmoral. Unter einigen ihrer Positionen haben Menschen lange gelitten, sagt der Brixener Moraltheologe. Im katholisch.de-Interview zeigt er auf, woran das lag – und wie es gelingen kann, diese rigide Sicht aufzubrechen.

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Vergangenes Jahr wurde dem Moraltheologen Martin M. Lintner das "Nihil Obstat" aus Rom verweigert. Deshalb konnte er sein Amt als Dekan an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen – vorerst – nicht antreten. In seinem neuen Buch "Christliche Beziehungsethik" beschäftigt sich Lintner umfassend mit der kirchlichen Beziehungs- und Sexualmoral. Im Interview mit katholisch.de spricht er über die aus seiner Sicht oftmals "sexualfeindliche" Tradition der Kirche, dem Umgang mit Homosexualität und die Frage nach dem Pflichtzölibat für Kleriker. Und er äußert sich dazu, ob er weitere Konsequenzen aus dem Vatikan befürchtet.

Frage: Herr Professor Lintner, was war Ihr Anliegen, ein so umfangreiches Buch über die katholische Sexualmoral zu schreiben?

Lintner: Ich beschäftige mich im Buch umfassend und auch kritisch mit der Entwicklung der kirchlichen Sexualmoral. Ich möchte aufzeigen, warum die Kirche eine oft so sexualfeindliche Position vertreten hat und wie wir diese negative Sicht überwinden können. Als Theologe und Priester sehe ich mich in der Bringschuld, und zwar – das sage ich bewusst – in solidarischer und loyaler Zugehörigkeit zu einer Kirche, die in diesen Bereichen Schuld auf sich geladen hat. Sie hat mit ihrer rigiden Sexualmoral Menschen das Leben unnötigerweise schwer gemacht und sie in schwere Gewissensnöte gebracht. Zugleich ist die Sexualität ein Bereich, in der Menschen verwundbar sind. Denken wir an den sexuellen Missbrauch, an die sexuelle Ausbeutung in der Prostitution, an das wachsende Phänomen von Sex- und Pornosucht, aber auch an die Verunsicherung von immer mehr Heranwachsenden in Bezug auf ihre sexuelle Identität angesichts der Tatsache der möglichen Diversität von Geschlechtsidentitäten usw. Was können wir hierzu ausgehend vom biblischen und christlichen Menschenbild sagen? Dabei ist es mir ein Anliegen, auch Einsichten der feministischen Exegese einzubringen.

Frage: Sie sprechen die sexualfeindliche Tradition der Kirche an. Woher kommt das?

Lintner: Wenn man so will, dann waren es – etwas vereinfacht gesagt – die Kirchenväter, also vorwiegend zölibatär lebende Kleriker oder Ordensmänner, die die kirchliche Sexualmoral über Jahrhunderte geprägt haben. Auf Augustinus geht die Vorstellung zurück, dass das sexuelle Begehren an sich sündhaft sei. Es wird bei ihm unmittelbar mit dem Sündenfall in Zusammenhang gebracht. Er musste es jedoch als Übel in Kauf nehmen, weil es – zumindest beim Mann – unlösbar mit dem Zeugungsakt durch den Geschlechtsverkehr verbunden ist. Die Institution, die der Familiengründung dient, war aus rechtlicher Sicht die Ehe, daher die Forderung, dass Geschlechtsverkehr ausschließlich innerhalb der Ehe zum Zweck der Fortpflanzung ausgeübt werden darf. Hierbei spielten auch naturrechtliche Überlegungen von philosophischen Strömungen wie der Stoa herein. Aus diesem Grund wurden auch Selbstbefriedigung oder homosexuelle Handlungen vehement als Sünde abgelehnt. Denn all das würde nicht der Fortpflanzung, sondern dem Streben nach Lust dienen.

Frage: Sie haben es erwähnt: Laut der Kirche dient Geschlechtsverkehr ausschließlich der ehelichen Fortpflanzung. Dürfen Senioren demnach eigentlich auch keinen Sex mehr miteinander haben?

Lintner: In meiner pastoralen Erfahrung bin ich in der Tat älteren Menschen begegnet, die mir von diesem Dilemma erzählt haben. Sie fühlen sich schuldig, weil sie – wie sie es in der Katechese gelernt hatten – "die Ehe missbraucht hätten", und schämen sich, weil sie im Alter noch Sex miteinander haben oder Zärtlichkeiten austauschen. So etwas in einer Beichte zu hören, macht mich wütend, und es bedrückt mich zugleich. Denn ich denke mir: Was haben wir Menschen durch so eine streng reglementierte Sexualmoral angetan? Welche Last haben wir ihnen aufgeladen und ihnen Freude und Spontaneität im Umgang mit ihrer Sexualität genommen? Wie fixiert waren wir doch auf die Fortpflanzung und haben alles, was mit Lust und erotischer Anziehung zu tun hat, unter den Verdacht des Bösen bzw. der Degradierung der Ehepartner zum Sexualobjekt gestellt.

Bild: ©picture alliance/akg-images

Eine Bild zeigt die biblische Erzählung: Adam und Eva greifen nach der verbotenen Frucht. Dass die Ehe allein der Fortpflanzung dient, stehe so aber nicht in der Bibel, sagt Moraltheologe Martin M. Lintner.

Frage: Steht nicht bereits in der Bibel, dass die Ehe allein der Fortpflanzung dient?

Lintner: Nein. Lesen wir in die beiden Schöpfungserzählungen hinein. In der Ersten wird von der Erschaffung des Menschen gesprochen: "männlich und weiblich" schuf sie Gott. Im Segensspruch heißt es dann, dass die Menschen fruchtbar sein und sich vermehren sollen. In der historisch älteren zweiten Schöpfungserzählung steht von der Fruchtbarkeit nichts, sondern dass der Mann in der Frau "freudig Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch erkennt". Es heißt weiter: Er wird Vater und Mutter verlassen und sich an die Frau binden und die beiden werden ein Fleisch sein. Hier wird – ebenso wie im Hohelied – auf die erotische Anziehungs- und Bindekraft zwischen zwei sich Liebenden angespielt, und zwar ohne Bezugnahme zur Fortpflanzung. Erst später hat man diese beiden Erzähltraditionen zusammengenommen und als Auftrag an Ehepaare interpretiert: Also, dass die Ehe in erster Linie dazu da sei, Kinder zu bekommen. Aber diese Formulierung spiegelt vielmehr den sozio-kulturellen Kontext wider, dass eine Ehe aus rechtlicher Sicht zum Zweck der Familiengründung eingegangen wurde. Wobei es beim Mann geduldet wurde, auch außerhalb der Ehe geschlechtlich aktiv zu sein – außer mit einer verheirateten Frau –, während von der Frau sexuelle Treue ihrem Mann gegenüber gefordert wurde, um die Vaterschaft und die patriarchale Erbfolge zu sichern.

Frage: Wenn man die Bibel für sexualmoralische Argumente heranziehen möchte, dann müsste man auch die Bibelstelle 1 Tim 3,2 für die Aufhebung des Zölibats genauer anschauen…

Lintner: Ja. Dort steht, dass ein Gemeindeleiter oder Vorsteher einer Gemeinde – daraus hat sich das Bischofsamt entwickelt – nur einmal verheiratet sein soll. Gemeindevorsteher konnten in der frühen Kirche also verheiratet sein, allerdings nur einmal, wahrscheinlich als Abgrenzung von damals vorkommenden Gepflogenheiten wie Promiskuität oder Wiederheirat nach einer Trennung. Die zölibatäre Lebensform ist, das betont sogar die Kirche selbst, nicht wesensnotwendig für das Priesteramt. Sie wird aber als angemessene priesterliche Lebensform angesehen, mit Verweis zum einen auf Jesus, der nach dem Zeugnis der Evangelien ehelos gelebt hat, und zum anderen auf die Aufgabe eines Priesters, ganz für seine Gemeinde da zu sein. Der priesterliche Pflichtzölibat wurde in der lateinischen Kirche erst im 12. Jahrhundert definitiv festgelegt. Das hatte nicht zuletzt mit der negativen Deutung sexueller Handlungen zu tun, die einen Priester unrein machen würden für die Feier der Sakramente in der Person Christi, aber auch mit ganz praktischen und weltlichen Fragen wie Erbschaftsverpflichtungen gegenüber den Kindern, die man kirchlicherseits verhindern wollte.

Frage: Macht das priesterliche Zölibat heute noch Sinn?

Lintner: Heute haben wir in der katholischen Kirche bereits verheiratete Priester, ich denke an konvertierte anglikanische Priester oder an Priester in den mit Rom unierten orthodoxen Kirchen. Wir sollten darüber nachdenken, die Zölibatsverpflichtung für Kleriker insgesamt frei zu stellen. Nicht, weil ich diese Lebensform nicht für sinnvoll halten würde – ich habe sie als Ordenschrist auch selbst gewählt –, auch nicht, weil ich glaube, dass wir damit dem Priestermangel begegnen könnten, sondern aus einem anderen Grund. Es gibt Priester, die den Zölibat – aus welchen Gründen auch immer – nicht halten und eine Beziehung mit einer Frau eingehen oder auch Vater werden. Für sie und ihre Partnerinnen sowie die Kinder bedeutet dies oft einen großen Leidensdruck. Entweder leben sie ein geheimes doppelmoralisches Leben oder sie werden vor die Entscheidung gestellt, sich zu entscheiden. Wenn sie sich für die Familie entscheiden, gehen der Kirche engagierte und kompetente Priester verloren.

Frage: Ihnen wurde erst in diesem Jahr das "Nihil obstat" aus Rom verweigert und Sie konnten das Amt als Dekan an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen nicht antreten. Haben Sie Angst, dass Ihr neues Buch negative Konsequenzen für Sie als Professor für Moraltheologie haben wird?

Lintner: Das kann ich nicht ausschließen. Aber von dieser Befürchtung lasse ich mich nicht lähmen. Ich sehe mich als Moraltheologen und Ordenspriester, der Teil der kirchlichen Gemeinschaft ist und der nach bestem Wissen und Gewissen einen theologisch fundierten und konstruktiven Beitrag im Bereich der Sexual- und Beziehungsethik leisten möchte. Mein Buch verstehe ich als Dialogangebot an das Lehramt zu Themen, die bis heute zu schmerzhaften Konflikten zwischen Theologie und Lehramt führen und bei denen die Kirche unverkennbar Kredit verloren hat. Das Zweite Vatikanische Konzil hat vor über 50 Jahren entscheidende Paradigmenwechsel vollzogen, die wir bis heute noch nicht zur Gänze umgesetzt haben.

Frage: Woran denken Sie hierbei?

Lintner: Ich denke an die Überwindung einer verrechtlichten Sicht der Ehe und einer Verengung der Sexualität auf die Zeugungsfunktion, was eine zuvor nicht denkbare neue Sicht auf die eheliche Partnerschaft, auf die mehrdimensionalen Sinngehalte der Sexualität und auf die Bedeutung der sexuellen Intimität für ein Paar ermöglicht hat. Ich denke auch an das vatikanische Dokument "Persona humana" aus dem Jahr 1975. Dort wird Homosexualität als eine mögliche sexuelle Orientierung anerkannt und nicht mehr als psychische Fehlentwicklung gesehen. Haben wir die nötigen Konsequenzen daraus gezogen, welche Bedeutung Sexualität für diese Menschen, für ihre Selbstwahrnehmung, für ihre Beziehungen hat? Ich möchte einfach diesen Blick auf eine erneuerte Ethik der Sexualität, der Beziehung und der Ehe in der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils weiterdenken und dabei auch die Perspektiven aus den Natur-, Human- und Sozialwissenschaften einbringen, auch aus den Genderforschungen. Es geht darum, als Kirche die Menschen so zu begleiten, dass sie ihre sexuelle Identität entdecken und annehmen, mit ihr anerkannt werden und einen selbstverantworten Umgang mit ihre Sexualität einüben und leben. Für eine lebensdienliche Beziehungsethik halte ich eine kirchliche Verbot- und Gebotsmoral für wenig hilfreich.

Von Madeleine Spendier

Buch-Tipp

Lintner, Martin M.: Christliche Beziehungsethik: Historische Entwicklungen – Biblische Grundlagen – Gegenwärtige Perspektiven, Verlag Herder, 2023, ISBN: 978-3-451-39274-0