Zwischen Kult und Klamauk: Der heilige Nikolaus und sein Brauchtum
Langer, roter Chormantel, auf dem Kopf über dem wallenden grauen Haar die Mitra, in der Hand einen Hirtenstab: Wenn man Glück hat, kann man in den Tagen um den 6. Dezember den heiligen Nikolaus antreffen. Zumindest einen Menschen, der den heiligen Bischof aus Myra verkörpert. Und wenn man ganz viel Glück hat, sieht dieser Nikolausdarsteller auch noch wie ein Bischof aus. Dann trägt er Gewänder, die heute noch in der katholischen Liturgie üblich sind und zeigt schon allein durch Mitra und Hirtenstab, dass hier einer kommt, der in der kirchlichen Hierarchie eine hohe Position besetzt. Doch das Aussehen dieser Nikolausdarsteller variiert und nicht selten hat man den Eindruck, dass es hier gar nicht so sehr um ein heiliges Spiel geht als vielmehr um einen Klamauk, um Menschen zu erheitern. Aber wie hat sich eigentlich das Brauchtum um den heiligen Bischof Nikolaus verändert? Wie ist er entstanden und welche neuen Elemente sind in den vergangenen Jahrzehnten hinzugekommen? Eine Spurensuche in den Fußstaben des Nikolaus von Myra.
Einer, der sich mit dem heiligen Nikolaus auskennt, ist Werner Mezger. Seit 1996 lehrte Mezger als Professor für Volkskunde in Freiburg im Breisgau. Neben Arbeiten über den Schlager und Hofnarren hat sich Mezger im Lauf seines Forscherlebens vor allem auf das Brauchtum rund um die schwäbisch-alemannische Fastnacht spezialisiert. Doch auch mit dem heiligen Nikolaus hat sich Mezger ausführlich auseinandergesetzt; bereits vor dreißig Jahren ist sein Buch "Sankt Nikolaus. Zwischen Kult und Klamauk" erschienen. Dort zeichnet er die Entwicklung der unterschiedlichen Brauchinterpretationen, die verschiedenen Legenden, die von Nikolaus erzählt werden und die jüngsten Brauchentwicklungen nach.
Kirche und Volk, Heiliges und Profanes
"Die Forschung hat Nikolaus stets unter zwei Aspekten gesehen: einmal als Bezugsfigur eines ausgedehnten kirchlichen Kultes und zum andern als Mittelpunkt eines ebenso differenzierten wie diffusen Komplexes verschiedenartigster Bräuche", notiert Mezger. Damit sind die zwei Brennpunkte benannt, zwischen denen sich der Kult rund um den heiligen Nikolaus aufspannt: Kirche und Volk, Heiliges und Profanes. In der Liturgie wird Nikolaus als jene Person gesehen, die als Bischof in Myra viel Gutes tat und um die sich viele Legenden bildeten. Er starb nicht den Tod der Blutzeugen, sondern er wird als "Bekenner" verehrt. Das ist eine neue Kategorie von Heiligen, die mit dem heiligen Martin von Tours begann. Zuvor waren alle Menschen, die in der Kirche als heilig verehrt worden waren als Märtyrer gestorben. Hinsichtlich der Verehrung stellt ihn Mezger auf eine Stufe mit dem heiligen Georg oder dem heiligen Christophorus.
Was allerdings die Historizität des heiligen Bischofs Nikolaus angeht, so bleibt nicht mehr festzustellen als das, was Gustav Anrich zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgehalten hat: "Die Geschichtlichkeit eines Myrensischen Bischofs Nikolaus (…) in Abrede stellen zu wollen, wäre ein methodischer Fehler. Es kann einen Bischof dieses Namens gegeben, es kann derselbe sogar große Bedeutung für seine Heimat gehabt haben. Es kann auch der 6. Dezember der Tag seines Todes oder seiner Beisetzung gewesen sein. Das alles sind Möglichkeiten, denen man sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit wird zugestehen können. Weiter ist nicht zu kommen." Das ist freilich zunächst ernüchternd, zeigt aber auch, wie sehr der andere Brennpunkt der Ellipse, nämlich das Volk, betreffs der Verehrung des Heiligen maßgeblich mitgewirkt hat. Denn das viele Brauchtum hat sich im Lauf der Jahrhunderte über diese Person des Nikolaus gelegt und hat ihm dadurch mehr und mehr Bedeutung zugesprochen.
Interessant ist dabei, wie sich das Brauchtum vor allem in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter von der kirchlichen Verehrung des heiligen Bischofs Nikolaus entfremdet hat. Heilig und profan verbinden sich nicht mehr in der einen Gestalt des Nikolaus, sondern werden zu Konkurrenten und bringen zwei unterschiedliche Figuren hervor. Während kirchlicherseits immer neu versucht wird, Nikolaus als Bischof und wohltätigen Gabenbringer zu inszenieren, wird er in der profanen Welt zunehmend entchristlicht und säkularisiert. Werner Mezger schreibt dazu: "Um so groteskere Blüten treibt auf der anderen Seite die in weiten Teilen Deutschlands fast schon obligatorische Indienstnahme des Nikolausbrauchtums für feuchtfröhliche Weihnachtsfeiern in Vereinen und Betrieben. Was die wattebärtigen Gabenbringer im roten Kapuzenmantel oder Bischofsornat dort verbal von sich geben, hat in der Regel mit Adventspädagogik kaum noch etwas zu tun, sondern gleicht eher einer Büttenrede, in der die Anwesenden mit mehr oder minder plumpem Humor zum allgemeinen Gaudium aufs Korn genommen werden." Der Nikolaus wird profan umfunktioniert: Vom frommen Gabenbringer wird er zum Showmaster oder Stimmungsmacher. Nicht selten erlebt man dabei, dass der Nikolausdarsteller im vollen Ornat selbst zum Glas greift und den Anwesenden fröhlich zuprostet. Und das freilich alles um der guten Stimmung wegen, die ein Besuch des Nikolaus erzeugt.
Im Zuge dieser Veränderungsprozesse ist der Nikolaus auch Werbeträger geworden: Dort tritt er allerdings als Weihnachtsmann auf und verkörpert eine pummelige Wintergestalt. Hinsichtlich dieser Indienstnahme des Nikolaus für unterschiedliche Marketingzwecke hält Werner Mezger fest: "Bewusste oder unbewusste Bezugnahmen auf alte Patronate des Heiligen sind in der profanen, vom Kommerz beherrschten Brauchtumsverehrung des 20. Jahrhunderts keine Seltenheit. Nicht immer bewegen sie sich jedoch in einem für alle Seiten (…) tolerablen Rahmen (…)." Bezugnehmend auf die Legende, in welcher der Bischof Nikolaus drei Mädchen vor der Prostitution rettet, wurde der Nikolaus schon zum Werbeträger in Erotik-Magazinen. Dagegen schmeichelt es dem Nikolaus beinahe schon, wenn er mit einer anderen Geschenkfigur, nämlich dem Osterhasen in Verbindung gebracht wird. Wenn immer noch die Geschichte verbreitet wird, dass übrige Schoko-Nikoläuse eingeschmolzen und dann zu Osterhasen werden, zeigt dies den engen Konnex zwischen den beiden Geschenkebringern. Freilich stehen beide unter dem Aspekt der Kommerzialisierung: Was an Nikolaus nicht verschenkt wurde, kann an Ostern des Folgejahres noch im Osternest landen. Was der Nikolaus nicht gebracht hat, wird dem Osterhasen überlassen.
Brauchtum längst nicht mehr eindimensional
Im Gesamt betrachtet erkennt Werner Mezger bezüglich der Verehrung des Nikolaus vor allem fünf Ebenen: Das kirchliche Erinnern an den mildtätigen Bischof, die persönliche Fortführung des Brauchtums, den Nikolaus als elterliche Erziehungsmaßnahme, die folkloristischen Züge des Nikolaus und den Nikolaus, der aus reiner Profitgier genutzt wird. "Die Indienstnahme des Adventsheiligen für alle nur denkbaren Ziele hat sich in den letzten Jahren enorm ausgeweitet. Von Weihnacht zu Weihnacht keimen neue Ideen, die sich fortwährend zu multiplizieren scheinen. Selbst im traditionellen Nikolausbrauchtum werden die Dimensionen immer globaler", hält der Brauchtumsexperte Mezger fest. Das Brauchtum rund um den heiligen Nikolaus ist längst nicht mehr nur eindimensional – wenn es das überhaupt jemals gewesen ist. Vielmehr zeigen sich gerade an diesen fünf Aspekten, die Mezger unterscheidet, wie der Bischof aus Myra von verschiedener Seite genutzt und für je unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert wird.
Wie aber soll man mit dieser Entwicklung umgehen? Oder wie ist ein solches sich ausdifferenzierenden Brauchtum zu bewerten? Dazu noch einmal Werner Mezger, der abschließend festhält: "Was wir im Umgang der Bevölkerung mit der legendären Gestalt des heiligen Nikolaus und in der Entstehung, Entwicklung und Veränderung der an ihn geknüpften Brauchformen verdichtet finden, sind nichts anderes als verschlüsselte Botschaften über die jeweiligen Lebensverhältnisse, geistigen Orientierungen und Wertvorstellungen von Menschen ihrer Zeit."