Markion forderte eigene Schrift für Christen
Mindestens ein Jahrhundert lang haben die Christen "nur" eine einzige Heilige Schrift gekannt und benutzt, nämlich die Heilige Schrift aller Juden. Über einen Kanon, das heißt eine Sammlung von verbindlichen Schriften, mussten und konnten die frühen Christen nicht diskutieren oder entscheiden, da sie, wie Jesus und die Jünger, die Bibel Israels ohne irgendwelche Einschränkungen oder Abstriche als Heilige Schrift anerkannten. Der biblische Kanon , sowohl der jüdische wie auch der christliche, ist nicht, wie man früher oft annahm, aufgrund von theologischen Argumenten zusammengestellt oder aus vorhandenen Schriftensammlungen ausgegrenzt worden, vielmehr ist er als Glaubenszeugnis in der Glaubensgemeinschaft gewachsen und als solches weiter überliefert worden.
Die Christusverkündigung wurde allerdings im 1. Jahrhundert nicht nur mündlich weitergegeben, sondern auch schriftlich fixiert. Gleichwohl geschah dies nicht in der Weise, dass die frühen Christen diese Verkündigung als "Heilige Schrift" geschrieben und konzipiert hätten, sondern diese Verkündigung ging von der anerkannten einzigen Heilige Schrift, der Bibel Israels, aus, auf die sich die Evangelisten und Apostel in ihrer Verkündigung immer wieder bezogen haben. Fragt man nun danach, wann, wie und warum es zur zweigeteilten christlichen Bibel gekommen ist, beziehungsweise was dazu geführt hat, dass die Christusverkündigung selbst zur vorhandenen Heilige Schrift hinzugefügt wurde, dann stößt man auf Markion.
Kirche musste ihr Verhältnis zu den Texten Israels klären
Dieser Theologe hat am Beginn des 2. Jahrhunderts nicht das "Alte Testament" verworfen, wie es nach ihm benannte spätere Tendenzen (Markionismus) in der Kirche immer wieder versuchten, da es ein "Altes Testament" zu seiner Zeit ebenso wenig gab wie ein Neues. Markion ging vielmehr in dualistischem Denken davon aus, dass Jesus selbst einen anderen Gott verkündigt habe als den Schöpfergott, von dem die Bibel Israels in ihren Schriften kündet. Deshalb forderte Markion in logischer Konsequenz seiner Annahme, dass das Christentum die Bibel Israels aufgeben und an ihre Stelle eine eigene Schrift setzen müsse. Dazu schlug er eine Sammlung von 10 Paulusbriefen und dem Lukasevangelium vor, wobei alle Bezüge zur Bibel Israels aus diesen Schriften entfernt werden sollten.
Markions Vorschlag bestätigt indirekt Geltung und Autorität der Bibel Israels in der frühen Kirche, denn "Markions Bibel" ist nicht durch Reduktion eines vorliegenden neutestamentlichen oder gar alt- und neutestamentlichen Kanons zustande gekommen, sondern erstmals als verbindliche Urkunde entworfen worden. Die Idee einer solchen verbindlichen Urkunde übernimmt er aber von der vorliegenden Heiligen Schrift, der Bibel Israels. Der kühne Vorstoß Markions, die Bibel Israels, die einzige Heilige Schrift des frühen Christentums durch eine Sammlung von Schriften zu ersetzen, die die Christusbotschaft beinhalten und betreffen, hat die Kirche dazu gedrängt, ihr eigenes Verhältnis zur Bibel Israels in Verbindung mit der mündlichen und schriftlichen Christusverkündigung zu klären.