Katharina Karl zur Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Theologin: Kirche funktioniert nicht mehr aus Mehrheitsposition heraus

Veröffentlicht am 29.12.2023 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Eichstätt ‐ Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bestätigt: Es steht nicht gut um die beiden großen Kirchen in Deutschland. Für die Pastoraltheologin Katharina Karl ist das nicht überraschend. Im katholisch.de-Interview erklärt sie, worin neue Chancen liegen.

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Als Professorin für Pastoraltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt forscht Katharina Karl zu christlicher Lebensgestaltung in der Gegenwart und Glaubenskommunikation. Nach den Ergebnissen der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), an der neben der evangelischen auch erstmals die katholische Kirche beteiligt war, spricht sie im Interview mit katholisch.de darüber, was das konkret für die Kirche in Deutschland und neue pastorale Angebote bedeutet. 

Frage: Frau Karl, laut der KMU bezeichnen sich nur noch wenige Katholiken als gläubig und kirchennah, weniger als die Hälfte fühlt sich der Kirche verbunden, sieht aber vieles kritisch. Das Vertrauen ist fast verschwunden. Überrascht Sie dieses Ergebnis?

Karl: Das Ergebnis überrascht mich nicht. Vertrauen wurde verspielt, wo der moralische Anspruch überhöht war und nicht eingelöst wurde. Allerdings liegt im Begriff der Religion auch ein Schwachpunkt der Studie: Sie hat den Religionsbegriff nicht geklärt. Sie bildet die Beziehung zur institutionellen Kirche in ihrer Typenbildung ab, klärt aber nicht die Frage, wie Menschen Religiosität verstehen. Hier gehe ich von sehr unterschiedlichen Glaubensstilen und Ausdrucksformen aus.

Frage: Was sind das für Glaubensstile und Ausdrucksformen?

Karl: Der Glaube vieler Menschen findet seinen Ausdruck auch in Schöpfungsspiritualität oder diakonischer Spiritualität. Viele Christinnen und Christen bezeichnen sich nicht mehr als kirchennah, finden sich aber in kleineren Gruppen oder projekthaften, privaten Initiativen zusammen. Solche Formen von Religiosität werden aber in empirischen Erhebungen selten miteinbezogen, da der Religionsbegriff vorwiegend auf kirchliche Institution hin verstanden wird. Biografische und ethnografische Zugänge ermöglichen hier vielleicht einen differenzierteren Blick über den Glauben der Menschen.

Frage: Der Einbruch kam schneller als erwartet. Was hat dazu beigetragen?

Karl: Die Beschleunigung ist gar nicht so erstaunlich, sie wurde aber sicherlich durch die Pandemiesituation und die schleppende Aufarbeitung der Missbrauchskrise verstärkt. Sie ist aber auch Teil komplexer gesellschaftlicher Entwicklungen und gründet in der Tatsache, dass die Zugehörigkeit zum Christentum sich nicht mehr über Sozialisation ergibt, sondern zunehmend auf Entscheidung beruht. Ich bin aber nicht einverstanden, den Begriff der Minderheit zu überstrapazieren, weil eine 50-Prozent-Grenze unterschritten wird. Nicht Mehr- und Minderheit stehen sich gegenüber, sondern plurale Formen von Weltdeutung und religiöser Überzeugungen und unterschiedliche Formen von Bindung.

„Die Studie bildet die Beziehung zur institutionellen Kirche in ihrer Typenbildung ab, klärt aber nicht die Frage, wie Menschen Religiosität verstehen.“

—  Zitat: Katharina Karl

Frage: Welche Konsequenzen muss die Kirche aus der Studie ziehen?

Karl: Eine interessante Spur ist in meinen Augen die Frage der gesellschaftlichen Relevanz. Die aktuelle KMU konstatiert, dass die Menschen den Kirchen durchaus eine gesellschaftliche Relevanz zuschreiben. Die Bedeutung der Caritas und gesellschaftspolitische Präsenz des Christlichen ist also nicht zu verachten und sollte als Option verstärkt werden. Es bleibt ein Stachel im Fleisch, dass sozial Benachteiligte Menschen sich nicht von den Kirchen repräsentiert fühlen. Eine andere Spur ist die Frage, wie auf die verschiedenen Gruppierungen eingegangen werden kann, die aus den Orientierungstypen ersichtlich werden. Die Unterscheidung der kirchennahen und kirchenfernen Christinnen und Christen lässt aufhorchen: Es lässt sich beobachten, dass sich mancherorts alle Kräfte auf die Gruppe der nach der Studie 13 Prozent Kirchlich-religiösen richtet. Natürlich sind diese wichtig, denn sie bilden einen Kern von Engagierten, die Potenziale und Bedürfnisse mitbringen. Aber auch die 25 Prozent "Religiös-Distanzierten" und die mit 56 Prozent größte Gruppe der Befragten, die als "Säkulare" bezeichnet werden, müssen in den Blick genommen werden.

Frage: Nur ein kleiner Teil hält den Gottesdienstbesuch für wichtig. Religiöse Praxis ist im Vergleich zu früheren Studien nicht mehr weit verbreitet. Worauf muss sich die Kirche in Zukunft konzentrieren?

Karl: Dass der Gottesdienstbesuch abnimmt, zeichnet sich schon länger ab und auch frühere Studien führen zu differenzierten Ergebnissen. Die institutionelle Bindung von Gläubigen geht schon lange konstant zurück. Das sagt aber per se noch nichts über den Glauben von Menschen aus. Religiöse Praxis kann in meinen Augen nicht nur Gottesdienstbesuch und tägliches Gebet reduziert werden – beides wird in Studien vorwiegend abgefragt. Klar ist, dass der Gottesdienstbesuch nicht (mehr) als Pflichterfüllung des Sonntagsgebots vorausgesetzt werden kann. Wie also pastoral damit umgehen? Ein Punkt, an dem sich ansetzen lässt, ist eine ansprechende Gestaltung der Liturgie, dass Menschen sich dort wiederfinden, sich beteiligen können und tatsächlich für ihren Alltag Impulse und Bestärkung erfahren.

Eine Ampel vor einer Kirche zeigt rot.
Bild: ©Julia Steinbrecht/KNA (Montage katholisch.de)

"Das Ergebnis der Studie überrascht mich nicht. Vertrauen wurde verspielt, wo der moralische Anspruch überhöht war und nicht eingelöst wurde", sagt die Pastoraltheologin.

Frage: Wie verhält es sich dann mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das die Eucharistie als "Quelle und Höhepunkt" bezeichnet?

Karl: Wo sich die Eucharistie tatsächlich als "Quelle und Höhepunkt" des kirchlichen Lebens erweist, strahlt sie in die Lebenswelten der Menschen aus und gewinnt vielleicht Glaubwürdigkeit zurück. In der Zeit der Corona-Pandemie hat sich meines Erachtens zweierlei gezeigt: 1) dass für viele Menschen rituelle Bewältigung und die Möglichkeit der Zugänglichkeit zur Eucharistiefeier sehr wichtig war und 2) dass auch über die Frage von Liturgie hinaus eine solidarische, sprich "eucharistische" Präsenz darüber entscheidet, wie Menschen heute erfahren können, dass die Kirche für sie da ist.

Frage: Was bedeutet das für neue pastorale Angebote und innovative Ansätze?

Karl: Es ist die Zeit, projekthaft und kreativ zu werden, damit die Pastoral nicht nur in einer Nische stattfindet. Die Erkenntnis, dass Religion auch ein kulturelles Phänomen ist, bestärkt alle Initiativen, die verschiedenste kulturelle Räume für pastorale Angebote erschließen. Jetzt stellt sich die Frage nach Sinndeutung und Ritualen und einer neuen Art von Inkulturation noch stärker. Es gilt aufzuspüren, welche Themen Menschen existentiell berühren. Glaube ist mit Johann Baptist Metz auch "Unterbrechung", daher können Angebote durchaus überraschen und kirchliche Akteure auch widerständig einbringen – in gesellschaftlichen Fragen und an ungewohnten Orten.

Frage: Sie sind Pastoraltheologin, forschen zu Jugend und Glaubenskommunikation: Wie kann die Kirche aus Ihrer Sicht die Menschen heute erreichen?

Karl: Im Bereich der Jugend sind zwei Aspekte entscheidend: Subjektorientierung und Beteiligung. Erfahrungsräume und Deutungsangebote zu schaffen, gehört zum ersten Aspekt. Dass Menschen heute auch ihre religiösen Belange selbst gestalten wollen, liegt auf der Hand. Die Jugendpastoral ist hier Seismograf und Laboratorium zugleich. In den neuen Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zur Jugendpastoral steht die pädagogische und spirituelle Haltung in der Jugendarbeit im Vordergrund: Ziel ist, in allen Lebensbereichen Persönlichkeitsbildung zu fördern. Das Sprechen über Glaubensangebote und Glaubensüberzeugungen ist dabei ein wichtiger Aspekt, dem mit großer Sensibilität begegnet werden muss.

„Die institutionelle Bindung von Gläubigen geht schon lange konstant zurück. Das sagt aber per se noch nichts über den Glauben von Menschen aus.“

—  Zitat: Katharina Karl

Frage: Die Studie sagt auch, dass rund 96 Prozent der Katholiken der Meinung sind, die Kirche müsse sich grundlegend verändern. Reichen die Reformideen des Synodalen Weges allein aus, um die Kirche zu "retten"?

Karl: Nein, sie reichen nicht aus. Denn die Ursachen für den Umbruch und Abbruch lassen sich nicht umkehren, auch nicht durch die Realisierung überfälliger Reformen. An diesen geht in meinen Augen kein Weg vorbei. Es ist nicht vermittelbar und auch theologisch nicht einsichtig, sich dem zu verweigern. Dabei geht es aber nicht darum, die Kirche zu retten, sondern darum, das Evangelium glaubwürdig zu vertreten und seelsorgliche und sakramentale Präsenz zu ermöglichen.

Frage: Was braucht es denn dann, damit die Kirche eine Zukunft hat und nicht in Bedeutungslosigkeit versinkt?

Karl: Noch einmal: Es geht nicht um die Zukunft der Kirche um ihrer selbst willen, sondern darum, wie die Kirche sich als "Zeichen und Werkzeug des Heils" im Dienst an den Menschen und der Gesellschaft verstehen kann.

Frage: Das heißt?

Karl: Die Kirche wird in Zukunft nicht aus einer Mehrheitsposition heraus funktionieren, sondern aus einer marginaleren Position und in Vernetzungen. Darin liegt für mich eine Chance. Kirche "vom Rand aus" kann neu offen sein für andere Bewegungen, Entwicklungen und Erneuerungen.

Von Mario Trifunovic