Zebaoth und Zeitgeschmack: Eine Kulturgeschichte der Weihnachtslieder
"Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe / und Friede auf Erden / den Menschen seines Wohlgefallens." (Lk 2,13f.) Schon in der Bibel wird zur Geburt Jesu Christi gesungen – sogar mit einem Text, der so oder so ähnlich auch heute noch in Weihnachtsliedern zitiert wird ("Gloria in excelsis deo"). Zu Weihnachten Lieder zu singen, hat also eine lange Tradition. Die Geschichten rund um Meilensteine der Weihnachtsmusik sind dabei auch immer ein Hinweis auf Zeitgeschmack und gesellschaftlichen Umgang mit dem Fest.
Eines der ältesten bekannten Weihnachtslieder ist der Hymnus "Veni redemptor gentium" von Ambrosius von Mailand (339-397), der kurz vor dem Jahr 400 entstanden ist. Hier geht es viel um dogmatische Grundinhalte des Weihnachtsfests: Jesus sei "nicht aus männlichem Samen, sondern durch geheimnisvollen Hauch" gezeugt worden, er sei zudem "wesensgleich dem ewigen Vater", der sich mit dem "Siegeszeichen über das Fleisch" rüstet – "die Schwachheit unseres Leibes stärkend mit ewiger Kraft". Es geht also um eine theologisch-dogmatische Vergewisserung des Glaubensbestands des Weihnachtsfests. Das passt zum Schaffen des Kirchenvaters Ambrosius, der mit seinem Wirken die Theologie der Lateinischen Kirche grundlegend mitgeprägt hat. Er wird bis heute ausgiebig im Katechismus zitiert.
Wie lange so ein Text wirken kann, zeigt ein Lied Martin Luthers, das zu seinen bekanntesten gehört: "Nun komm, der Heiden Heiland" entstand 1524 und ist eine recht wortgetreue Übertragung des Ambrosius-Hymnus. Der Reformator stellte sich damit also bewusst in eine kirchliche Tradition.
Dogmatik und Erzählung
Dass Luther auch ganz anders kann, zeigt er mit einem seiner bekanntesten Lieder: "Vom Himmel hoch, da komm ich her", das etwa zehn Jahre nach "Nun komm, der Heiden Heiland" entstand. Anstatt dogmatische Inhalte darzustellen, wird hier eine Geschichte erzählt, ein Ausschnitt aus der Weihnachtsgeschichte, wie in einem Krippenspiel:
"Merk auf, mein Herz, und sieh dorthin!
Was liegt dort in dem Krippelein?
Wes ist das schöne Kindelein?
Es ist das liebe Jesulein."
Hier zeigt sich eine Tendenz, die sich in einigen Weihnachtsliedern beobachten lässt: Einen Bezug des Zeitgenossen zum biblischen Geschehen herzustellen, wie hier etwa durch eine Art gesungenes Nachspielen.
Besonders eindrücklich zeigt das der durch seine Kritik an den Hexenprozessen bekannt gewordene Dichter Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635) in seinem bekannten Weihnachtslied "Zu Bethlehem geboren", das 1638 zum ersten Mal erschien. Hier geht es um die Reise des Ichs zur Krippe – und damit zu Gott. Mit jeder Strophe verwandelt sich das Lied von einer Ode zum Jesuskind zu einem Streben hin zu Gott:
"Dich wahren Gott ich finde
in meinem Fleisch und Blut;
darum ich fest mich binde
an dich, mein höchstes Gut."
Diese persönliche Hingabe an Gott lebte Spee auch selbst: Bei Veröffentlichung seines Liedes war er bereits tot, er hatte sich zwei Jahre zuvor bei der Behandlung Pestkranker angesteckt und war daran gestorben.
"Welche Wunder reich an Segen
stellt uns dies Geheimnis dar!
Seht, der kann sich selbst nicht regen,
durch den alles ist und war."
Diese Zeilen von Christoph Bernhard Verspoell schlagen wiederum einen ganz anderen Ton an: Hymnisch wird hier eine Art Erwachsen der Menschheit durch die Geburt Jesu Christi besungen. Die Zeiten haben sich geändert: Es ist das beginnende 19. Jahrhundert und nach der Französischen Revolution ist die Aufklärung in aller Munde. Sie schafft es mit diesem Lied "Menschen, die ihr wart verloren" sogar prominent in die Kirchen. Verspoell verbindet dieses Erwachen der Menschheit mit der Menschwerdung von Jesus, er deutet das Weihnachtsfest also keineswegs um, gewinnt ihm aber eine Facette ab, die auf die Lebenswirklichkeit seiner Zeitgenossen eingeht. Denn 1810, als das Lied erschien, waren die Auswirkungen der Revolution auch in Münster, wo der Dichter als Priester wirkte, deutlich im Alltag zu spüren.
Der Weg zum bürgerlichen Familienfest
Im Laufe des 19. Jahrhunderts ändert sich das Weihnachtsfest. Ausgelöst wiederum durch die Französische Revolution bricht die Vorherrschaft der Kirche über die Struktur des Lebens, es bilden sich neue Prioritäten heraus. Anstatt das Weihnachtsfest wie bisher vorrangig und oft beinahe ausschließlich als kirchliches Fest zu feiern, entsteht das Weihnachtsfest als bürgerliches Fest der Kernfamilie. Es geht nun oft um eine stimmungsvolle, romantische Version des Weihnachtsfestes. Die kann unterschiedliche Ausformungen haben: Während in "Fröhliche Weihnacht überall" aus den 1870er Jahren neben "Weihnachtston, Weihnachtsbaum, Weihnachtsduft in jedem Raum" auch noch vom Jubelton die Rede ist, "denn es kommt das Licht der Welt von des Vaters Thron", begnügt sich ein anderes Lied mit dem Besingen eines Baumes:
"O Tannenbaum, o Tannenbaum!
Wie treu sind deine Blätter;
du grünst nicht nur zur Sommerzeit,
nein, auch im Winter, wenn es schneit."
Diese Spannung zwischen familiärem Weihnachtsfest zu Hause und dem christlichen Inhalt begleitet das Weihnachtslied in dieser Zeit. Das bis heute erfolgreichste Lied dieser Epoche schafft es dagegen sogar, beide Aspekte sehr gekonnt zusammen zu bringen: Wenn in der "Stillen Nacht alles schläft" und das "traute hochheilige Paar" einsam wacht, ist der Text ganz bei einer romantischen Familienszene. Doch es wird auch ganz klar, wer da in der Krippe liegt: "Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund, da uns schlägt die rettende Stund". Das Lied mit einer Melodie von Franz Xaver Gruber und einem Text von Joseph Mohr ist weltbekannt geworden und steht wie wenig andere für die Weihnacht im deutschsprachigen Raum. In vielen Kirchen ist es Brauch, das Lied am Ende der Christmette zu singen und dabei den Kirchraum nur mit Kerzen zu erleuchten.
Krippe und Grab
Im 20. Jahrhundert gibt es immer wieder Initiativen, die manchmal allzu rührselige Stimmung angesichts des tiefen Geheimnisses und des Blicks auf das restliche Leben Jesu zu unterbrechen. So dichtet etwa Jochen Klepper in "Du Kind, zu dieser heilgen Zeit" (1938):
"Die Welt ist heut voll Freudenhall.
Du aber liegst im armen Stall.
Dein Urteilsspruch ist längst gefällt,
das Kreuz ist dir schon aufgestellt."
Angesichts der Bedrängnis, in die die Familie Klepper durch die Nationalsozialisten kam, kann man den Text durchaus auch als autobiografischen Kommentar lesen. Klepper nahm sich mit seiner als Jüdin geboren Ehefrau und seiner Tochter 1942 das Leben.
Wer einen Blick auf die heute im Radio gespielten Weihnachtslieder wirft, hat dagegen manchmal den Eindruck, die Uhr hätte sich ins 19. Jahrhundert zurückgedreht: "Alles, was ich zu Weihnachten möchte, bist du", schreiben etwa Mariah Carey und Walter Afanasieff in ihrem Text zu "All I Want For Christmas Is You". Hier geht es um ein konsumgeprägtes Weihnachten, zu dem das lyrische Ich jedoch mit dem romantischen Gegenüber nur ein einziges Geschenk haben möchte. Ähnlich wie bei "O Tannenbaum" spielt die religiöse Dimension hier keine Rolle. Es ist wiederum eine neue Facette des Festes in einer Gesellschaft, die sich immer weiter von der Religion entfernt, Weihnachten aber dennoch feiern will. Wie die vielen anderen Weihnachtslieder sind die heutigen ebenso Zeugnisse ihrer Zeit wie der Hymnus, den Ambrosius vor 1.600 Jahren schrieb. Gleich geblieben ist nur eines: An Weihnachten wird gesungen. So schnell werden die Engel also nicht verstummen.