Annäherung an Geheimnis Gottes: 800 Jahre weihnachtliches Krippenspiel
Im Advent habe ich unsere Schwestern im Bistum Eshowe in Südafrika besucht. Ein fester Bestandteil zum Abschluss des Schuljahres im Dezember ist das weihnachtliche Krippenspiel. Jedes Mal schlüpfen die Kleinsten in Kindergarten und Schule in die großen Rollen. Liebevoll verkleidet stellen sie mit tiefem Ernst das menschliche Drama dar: Die Not der schwangeren Maria oder die Fürsorge des beispielhaften Josef werden dann zum Greifen nahe. Manche genießen es als Wirte, die Schutz suchenden armen Leute lautstark und unwirsch abzuweisen. Hirten und Hirtinnen schlafen oder wärmen sich auf ihren Stock gestützt am Feuer, bis die lieblich singenden Engel ihnen die frohe Botschaft von der Christgeburt verkünden. Die Kleinsten, die noch keinen Text auswendig vortragen können, dürfen als Ochs und Esel an der Krippe stehen oder als Schafe verkleidet quer über die Bühne krabbeln. Das Weihnachtsgeheimnis wird anschaulich: Gott ist selber Mensch geworden. Und der Transfer fällt nicht schwer: Jesus war ein ganz normales verwundbares Kind. Er sucht auch heute Menschen, die ihn erkennen, aufnehmen und beschützen. Denn die Kleinen und Armen sind zu allen Zeiten die Lieblinge Gottes.
Die spielerische Inszenierung der Menschwerdung Gottes geht auf Franz von Assisi zurück und feiert heuer ihren 800. Geburtstag. Im Advent 1223 hatte der Bürgersohn einen adeligen Freund gebeten, in einer Felsenhöhle bei Greccio im Rietital eine Futterkrippe mit einem lebendigen Ochsen und Esel vorzubereiten. Die Einheimischen und Brüder aus verschiedenen Niederlassungen machten sich daraufhin mit Fackeln auf den Weg, um die Christmette in der Abgeschiedenheit der Berge zu feiern. Das war die Geburtsstunde des weihnachtlichen Krippenspiels!
Als Motiv für diese lebendige Darstellung hält Franziskus' Biograf Thomas von Celano fest: "Ich möchte nämlich das Gedächtnis an jenes Kind begehen, das in Bethlehem geboren wurde, und ich möchte die bittere Not, die es schon als kleines Kind zu leiden hatte, wie es in eine Krippe gelegt, an der Ochs und Esel standen, und wie es auf Heu gebettet wurde, so greifbar als möglich mit leiblichen Augen schauen." (1 C 84,8). Drei Jahre vorher war der bettelnde Wanderprediger in friedlicher Absicht ins Heilige Land gereist und hatte dabei auch Bethlehem besucht. Zurück in Europa, wollte er das Weihnachtsgeheimnis im wahrsten Sinne des Wortes unter die Leute bringen und für alle anschaulich machen.
Einfachheit und Anmut bewahrt
Bald haben die Brüder an der Stelle in der Grotte bei Greccio einen einfachen Altar und eine kleine Kapelle errichtet. Im Laufe der Zeit wurde ein Kloster an den Abhang gebaut. Trotzdem hat der Ort seine Einfachheit und Anmut bewahrt. In der größeren und moderneren Kirche Greccios werden heute Krippen aus aller Welt ausgestellt: Sie stammen aus Oberammergau oder Japan, aus der Barockzeit oder Gegenwart, sind aus Holz geschnitzt, Garn gehäkelt, wurden aus Plastik oder Diamanten hergestellt. Bei der Inkulturation des Weihnachtsevangeliums in allen Erdteilen und durch alle Jahrhunderte hindurch waren und sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.
Gleichzeitig stellt sich für Christinnen und Christen aller Konfessionen in jeder Zeit die Frage, wozu die Botschaft der Menschwerdung Gottes heute aufruft. Wie lässt sich bleibend gültig von Weihnachten sprechen jenseits von Konsumrausch und Heile-Familie-Utopie? Wie lässt sich glaubwürdig die Gegenwart Gottes verkünden angesichts von Kriegen und Klimakatastrophen, dem hybrid geführten Kampf um die Vorherrschaft zwischen autokratisch-diktatorischen und demokratischen Staaten? In unserer global und medial vernetzten Welt dominieren negative Schlagzeilen die Nachrichten. In rasanter Geschwindigkeit verbreiten sich Fake News und Hate speech. Antisemitismus und Antiislamismus, Homophobie und Frauenverachtung führen zu gewalttätigen Exzessen. Nach der Pandemie und infolge anhaltender Krisen nehmen psychische Krankheiten und Zukunftsängste zu, verleiten zu extremistischem Wahlverhalten und führen zu einem Erstarken populistischer, nationalistischer Kräfte sowie fundamentalistischen Strömungen in allen Religionen. Was lässt sich in diesen postoptimistischen Gesellschaften (Tomáš Halík) da Hoffnungsvolles sagen?
Angesichts der Abgründe, die sich in Kirchen und Ordensgemeinschaften aufgrund sexualisierter Gewalt, spirituellem und Machtmissbrauch aufgetan haben, fällt es nicht leicht, an den bleibend gültigen Kern der froh machenden Botschaft zurück zu kehren. Es bleibt aber nur der Gang zu den Quellen, wenn das Christentum an der Vision einer menschlicheren, gerechteren und friedlicheren Welt festhalten will und am damit verbundenen Anspruch, am Reich Gottes mitbauen zu können und zu wollen.
Weihnachten und Eucharistie gehören zusammen
Für Franziskus ging es bei der Krippenfeier darum, die Einfalt, Demut, Armut und Liebe Gottes nachzuvollziehen. Bei der Christmette sang er das Evangelium und legte es für alle Mitfeiernden aus. Dabei pries er die Geburt des armen Königs und erzählte er von dessen Geburtsstadt Bethlehem im Heiligen Land. Danach wurde über der Futterkrippe die Eucharistie gefeiert. Weihnachten und Eucharistie gehörten für Franziskus zusammen. In der Inkarnation wie bei der Feier des Gedächtnismahles Jesu wird die Deszendenz Gottes betont. Gott steigt herab. In einem wehrlosen, verletzlichen Kind hat Gott die Bühne der Welt betreten. Im zerbrechlichen, unscheinbaren Brot legt er sich den Gläubigen in die Hände, lässt sich berühren und wird begreifbar.
In der franziskanischen Spiritualität bilden Inkarnation, wörtlich: In-Fleisch-Geburt, und Kenosis, die Entäußerung Gottes, den zentralen Schwerpunkt der Annäherung an das Geheimnis Gottes. Für gläubige Christinnen und Christen sind sie in einer postmodernen, pluralen und säkularen Welt Prämisse, Promise und Provokation. Nach der neuesten repräsentativen Umfrage der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) glauben gerade noch 19 Prozent der deutschen Bevölkerung daran, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat. Dabei ist die Inkarnation Gottes neben dem erlösenden Tod und der Auferstehung Jesu das zentrale Credo des Christentums.
Sie ist Voraussetzung und Annahme: Gott hat sich mit Haut und Haar in die Welt hinein begeben. Gott bleibt kein Zuschauer der Geschichte, sondern offenbart sich als mitfühlender, zu Freude und Leid fähiger Mensch. Daraus erwächst die Zusage und Verheißung, dass jedes menschliche Leben umfangen ist von Gottes liebender Gegenwart. Gleichzeitig wäre es zynisch, würde dieser Glaube schales Wort bleiben ohne durch tatkräftiges Handeln erfahrbar zu werden. Maßstab christlicher Verkündigung ist und bleibt deshalb, inwiefern sich sein Wahrheitsanspruch in den Lebenswirklichkeiten der Menschen bewährt. Und die sind bekanntlich sehr divers.
Christentum kann Beitrag zu Kultur des Miteinanders leisten
Nach Tomáš Halík kann das Christentum in einer global vernetzten Welt dennoch einen fundamentalen Beitrag leisten zu einer Kultur der Nähe und des echten Miteinanders. Dazu muss es sich von jeglichen Machtansprüchen und klerikaler Engherzigkeit befreien.
Für Franziskus war Jesus "das heiligste, geliebte Kind, für uns geboren am Weg" (Off XV 7). Darin liegt die franziskanische Aufforderung, uns selbst auf den Weg zu machen, dieses Kind als pilgernde Kirche unterwegs zu finden, es anzubeten und ihm zu dienen. Niemand hat behauptet, dieser Weg sei einfach oder lieblich zu beschreiten. Die Kindheitsgeschichten im Matthäus- und Lukasevangelium – so narrativ und symbolisch aufgeladen sie auch sein mögen – legen eine Spur, welche Eigenschaften, Haltungen und Tugenden die Suchenden lenken sollen auf ihren Wegen nach Bethlehem und Nazareth. Gefordert sind die Fähigkeiten zur Selbsttranszendenz und riskierten Existenz im Gegensatz zum egoistischen Machtwillen, der Spionage und Mord nicht scheut. Gefordert sind die Wachsamkeit in nächtlicher Stunde, die neugierige Erforschung fremdartiger Phänomene, Mut zu Aufbruch und dem Trauen eigener Erkenntnis. Gefordert sind das Deuten der Zeichen, die kontemplative Schau und das Staunen-Können sowie die Bereitschaft zu solidarischem Engagement jenseits von Blutsverwandtschaft, Gruppenzugehörigkeit, Clandenken, sozialem Status und Geschlechtergrenzen.
In seinem 1. Brief an die Gläubigen wendet sich Franz von Assisi ausdrücklich an alle, "die den Herrn lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und ganzem Sinnen, aus ganzer Kraft und ihre Nächsten lieben wie sich selbst und ihr verkehrtes Ich mit seinen Lastern und Sünden hassen und den Leib und das Blut unseres Herrn Jesus Christus empfangen und würdige Früchte der Buße bringen" (1 Gl 1-4). Neben der metanoia, der persönlichen Umkehr, geht es in der franziskanischen Mystik darum, Gott selbst in sich eine "Wohnung und Bleibe" zu verschaffen (1 Gl 6). Gesegnet mit dem Geist Jesu und als Kinder Gottes ermutigt Franziskus die gläubigen Männer und Frauen den Willen und die Werke Gottes zu tun und so "Verlobte, Geschwister und Mütter unseres Herrn Jesus Christus" zu werden (1 Gl 7). Unabhängig von sex und gender können alle Christinnen und Christen Theodokos und Christodokos, Gottes- und Christusgebärerinnen und -gebärer werden, so Franziskus: "Mütter sind wir, wenn wir ihn durch die göttliche Liebe und ein reines und lauteres Gewissen in unserem Herzen und Leibe tragen; wir gebären ihn durch ein heiliges Wirken, das anderen als Vorbild leuchten soll." (1 Gl 10)
Engagement bewegt
Die Umfrage der EKD offenbarte, dass immerhin 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung einer religiösen Praxis nachgehen. Fast die Hälfte der Mitglieder der katholischen bzw. evangelischen Kirche engagieren sich ehrenamtlich. Durch ihr soziales und solidarisches Handeln generieren die Kirchen am meisten Zustimmung und Attraktivität.
Auch 800 Jahre nach der Christmette in Greccio ermutigt das weihnachtliche Krippenspiel alle Gläubigen, sich selbst auf den Weg der Menschwerdung zu machen und die Inkarnation und Kenosis Gottes als christliches Programm im täglichen Leben einzuüben. Wenn das mal nicht eine frohe Botschaft ist!
Die Autorin
Katharina Ganz ist Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen.