Warum (fast) niemand Jesus heißt – außer in spanischsprachigen Ländern
"Bitte den kleinen Jesus aus dem Bällebad abholen!": Eine Durchsage wie diese würde nicht nur in Deutschland bei Kunden eines Einkaufszentrums großes Erstaunen oder gar Gelächter auslösen. Denn in vielen auch christlich geprägten Erdteilen ist es nur schwer vorstellbar, seinem Sohn den Vornamen des Heilands zu geben. In Spanien und zum Teil auch in Portugal – und in Lateinamerika – scheint man dagegen einen entspannteren Umgang mit dem Namen zu pflegen. Dort gibt es sogar Bischöfe, die ihn tragen, zum Beispiel der Erzbischof des nordspanischen Oviedo, Jesús Sanz Montes. Gemeinsam mit allen anderen, die Jesus heißen, feiert er am 3. Januar, wenn die katholische Kirche das Namen-Jesu-Fest begeht, Namenstag. Während Jesus als Vorname also in vielen Ländern bis heute ein No-Go ist, wird er besonders in der spanischsprachigen Welt relativ häufig vergeben. Warum ist das so?
Zunächst zu seiner Bedeutung: Jesus ist die gräzisierte und auch latinisierte Form des hebräisch-aramäischen "Jehosua", was sich aus der Kurzform "Jeho" des Gottesnamens JHWH und einer Form des hebräischen Verbs jascha ("helfen, retten") zusammensetzt. Er bedeutet also so viel wie "Gott ist die Rettung" oder "Der Herr hilft". Dieser Name (und seine Kurzformen Jeschua und Jeschu) war im ersten Jahrhundert unter Juden weit verbreitet und werden in den Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus oft genannt. Danach hießen allein vier Hohepriester zwischen 37 vor und 70 nach Christus sowie 13 palästinische Juden, meist Aufständische wie die Zeloten, Jesus. Erst als Christen diesen Namen für ihren Erlöser "reservierten", nannten Juden ihre Söhne nur noch selten so.
Josua und Jesus
Eine andere latinisierte Form des Namens lautet Josua, den das nach ihm benannte Buch der Bibel als direkten Nachfolger von Mose und Anführer der Israeliten kennt. Die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, die Septuaginta, nannte auch ihn Jesus. Erst die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus unterschied Josua (aus dem Alten Testament) von Jesus (im Neuen Testament). So blieben die Namensformen Josua und Joshua als Vornamen für Juden und Christen zu allen Zeiten üblich. Die arabische Form Issa ist in mehreren Sprachen des Orients verbreitet und wird heute auch in Deutschland eingetragen.
Auch wenn er kirchlicherseits nie offiziell verboten war: Der Name Jesus selbst ist bis in die Neuzeit in den meisten christlichen Ländern, auch in dezidiert katholischen Ländern wie Italien oder Polen, ein Tabu – vor allem aus Gründen der Ehrfurcht. Hinzu kommt, dass in den Augen vieler, nicht nur Gläubiger, eine hohe Bürde mit diesem Vornamen verbunden ist.
In Deutschland war Jesus staatlicherseits als Name lange Zeit faktisch nicht zugelassen, schrieb die 2022 verstorbene Leipziger Namensforscherin Gabriele Rodriguez in ihrem 2017 erschienenen Buch "Namen machen Leute". Die deutschen Standesämter weigerten sich lange, ihn zu erlauben – mit Verweis auf die Bürde, die er mit sich trage. Erst 1998 entschied das Oberlandesgericht Frankfurt, auch im Hinblick auf internationale Gebräuche und die zunehmende Einwanderung nach Deutschland, dass Standesämter den Elternwunsch, einem Kind diesen Namen zu geben, nicht ablehnen dürfen. Geklagt hatte eine Mutter aus der Nähe von Gießen, die ihr Kind "Jesus" nennen wollte. Die Standesamtsaufsicht hatte das via Amtsgericht verhindert – mit der Begründung, das religiöse Gefühl der Mitglieder der christlichen Kirchen und Gemeinden könne damit verletzt werden.
Die Richter am Oberlandesgericht verwiesen auf das Namengebungsrecht innerhalb der Grenzen von allgemeiner Sitte und Ordnung und des Kindeswohls. Diese Grenze, die für inländische und ausländische Vornamen gelte, sei nicht überschritten. Der Name Jesus sei ein weltweit gebräuchlicher Vorname, gegen dessen Vergabe rechtliche Bedenken nicht erhoben werden könnten. Die Richter verwiesen auf die religiöse Tradition, einem Jungen als zusätzlichen Vornamen den Namen "Maria" zu geben. Gerade wenn ein Vorname mit religiösen Vorstellungen besetzt sei, könne schwer nachvollzogen werden, dass diese Motivation bei der Namengebung das religiöse Gefühl der Mitglieder der christlichen Kirchen und Gemeinden verletzen könnte. Es seien auch wegen der fortschreitenden Vermischung der Kulturen keine Hänseleien für den Namensträger zu befürchten. Seit dieser Entscheidung können Eltern in Deutschland ihre Kinder Jesus nennen.
Intensive Verehrung
Doch nicht nur Jesus war lange Zeit ein Tabuname. Heute nahezu unvorstellbar, war es lange Zeit äußerst ungewöhnlich, gar verpönt, seine Tochter "Maria" zu nennen, schreibt Namensforscherin Rodriguez. Auch hier spielte große Ehrfurcht – diesmal vor der Gottesmutter – die Hauptrolle. Das änderte sich erst im 16. Jahrhundert. Nach der Reformation und einer daraus folgenden erstarkenden Marienfrömmigkeit auf katholischer Seite, verbreitet durch Ordensgemeinschaften, wurde es üblicher, Maria als Mädchennamen zu vergeben. Heute ist Maria einer der beliebtesten Mädchennamen überhaupt, auch in Varianten wie Mia oder Marie. In Spanien werden Mädchen sogar nach Marienfesten benannt: María Dolores (Mariä Schmerzen) oder María Concepción (Mariä Empfängnis) sind bekannte Beispiele dafür.
Warum ist nun auf der iberischen Halbinsel (und in der Folge in Lateinamerika) auch der Name Jesus üblich? Dazu gibt es zwar keine gesicherten Erkenntnisse, aber mehrere Hypothesen, sagt der Fribourger Kirchenhistoriker Mariano Delgado, der selbst aus Spanien stammt. Eine davon hat ihren Ausgang darin, dass es im 14. und 15. Jahrhundert durch die Bettelorden wie die Franziskaner und Dominikaner und später durch die Jesuiten zu einem Schub der Verehrung des Namens Jesu kam. Besonders durch Bruderschaften wurde im Volk eine besondere Dynamik ausgelöst. In der Folge entwickelten sich auch liturgische Feste wie eben das des allerheiligsten Namen Jesu. Auf der iberischen Halbinsel, besonders in Spanien, war die Namen-Jesu-Verehrung besonders intensiv – so entwickelte sich Jesus zum gebräuchlichen Vorname für Jungen.
Eine zweite Hypothese ist laut Delgado, dass sich gerade in Spanien der Brauch entwickelte, an Klostertüren ausgesetzten Findelkindern den Namen Jesus zu geben. Durch Familientraditionen wurde der Name von Generation zu Generation erneut vergeben. Und eine dritte Hypothese lautet: Christen auf der iberischen Halbinsel seien es gewohnt gewesen, dass die Muslime, die dort jahrhundertelang lebten, ihre Söhne nach dem Propheten Mohammed nannten. So sei für sie die Hemmschwelle geringer gewesen, ihre eigenen Söhne Jesus zu nennen. Wie auch immer die Entwicklung genau lief: In Spanien liegt Jesus auch heute noch unter den zwölf häufigsten Vornamen. In einigen lateinamerikanischen Ländern, besonders in Mexiko, ist er noch beliebter.
Birgit Opielka kennt zwei Personen, die Jesus heißen. Sie ist Mitarbeiterin der spanischsprachigen Gemeinde in Frankfurt, deren Mitglieder meist aus Lateinamerika kommen. Genau dort begegnete sie selbst auch das erste Mal dem Vornamen, wenn auch in der weiblichen Variante: Während des Studiums war sie einige Zeit in Peru und arbeitete dort in einem Kinderheim. In einem Dorf lernte sie ein Mädchen kennen, das "Jesusa" hieß. Das sei dort ein üblicher Name, sagt sie.
Befremdlich wurde es für sie allerdings, als sie einen spanischsprachigen Priester kennen lernte, der den Namen Jesus trug, erzählt sie. Mittlerweile sei sie an den Namen gewöhnt und verstehe es, wenn Eltern ihn ihrem Kind geben möchten. Ihr eigenes Kind hätte sie allerdings nicht so genannt. Für sie war es damals in den 1980er Jahren sogar unvorstellbar, eines ihrer Kinder nach einem alttestamentarischen Propheten wie Elias, Jonas oder Jeremias zu benennen. Heutzutage sind gerade diese Namen in Mode. Traditionen ändern sich eben, sagt die Seelsorgerin.
Spanische Aussprache?
Die Freigabe des Namens hat in Deutschland jedoch nicht wirklich für einen Jesus-Boom gesorgt. Laut Auskunft der Gesellschaft für deutsche Sprache, die die Namenstatistiken der Standesämter sammelt, wurde der Name "Jesus" in den vergangenen 15 Jahren mindestens 154-mal in Deutschland vergeben. Im Jahr 2022 war das elf Mal der Fall. Nicht erhoben werden konnte bei diesen Angaben jedoch, ob der Name in seiner spanischen oder portugiesischen Form ausgesprochen wird – schließlich leben in Deutschland viele Menschen mit spanisch- und portugiesischsprachigem Hintergrund.
Ob es in Zukunft in Deutschland mehr Jesusse geben wird? Die Vorlieben bei der Namensgebung verändern sich zwar ständig, je nach Geschmack der Zeit. Und immer öfter geben Eltern ihren Kindern ganz bewusst ausgefallene Namen. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass sich ausgerechnet der christlichste Vorname von allen in Zeiten wachsender Kirchen- und Glaubensferne stärker verbreitet. Eins ist aber gewiss: Provozieren würde er nach wie vor.