Mediziner: Glaube kann Schwerkranken helfen – es gibt aber Risiken
Was macht eine existenzielle Ausnahmesituation wie eine Krankheit mit wenig Hoffnung auf Heilung mit Patientinnen und Patienten? Gereon Heuft ist Seniorprofessor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, Theologe und Ständiger Diakon. In seiner theologischen Dissertation hat er sich vor ein paar Jahren mit der Frage beschäftigt, ob Not tatsächlich beten lehrt – und was eine schwere, tödliche Krankheit mit dem persönlichen Glauben machen kann. Im Interview erläutert er, inwiefern der Glaube bei der Bewältigung des eigenen Sterbeprozesses helfen kann – welche Risiken jedoch auch damit verbunden sind. Und er sagt, warum Menschen ein "abschiedliches Leben" einüben sollen.
Frage: Es gibt den bekannten Spruch "Not lehrt beten". Lehrt existenzielle Not auch glauben, Herr Professor Heuft?
Heuft: "Not lehrt beten" ist ja das bekannte Zitat von Goethe. Ich habe in einer empirischen Studie zeigen können, dass das nicht stimmt: Menschen, die erkranken und dadurch in eine körperliche und psychische Not kommen, werden weder in ihrer inneren Überzeugung noch in ihrer persönlichen oder öffentlichen Praxis religiöser. Daraus habe ich die Schlussfolgerung gezogen, dass es in Notsituationen nicht zu einer veränderten Religiosität kommt, wenn diese nicht vorher schon vertraut oder eingeübt ist. Im Übrigen wird bei dem Goethe-Zitat immer nur der erste Satz zitiert. Das Zitat geht aber noch weiter: "Will einer es lernen, er gehe nach Italien! Not findet der Fremde gewiss." Er hat diesen kurzen und so oft zitierten Satz also provokativ gemeint.
Frage: Von Krankenhausseelsorgern hört man häufig, dass auch tendenziell eher areligiöse Patienten empfänglicher für Seelsorge sind. Teilen Sie diese Erfahrung?
Heuft: Das ist sicher nicht bei jedem so. Ich war bis 2022 Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster und insofern auch verantwortlich für die psychoonkologische Mitbehandlung aller Tumorpatienten. Darüber hinaus ist immer einer unserer Mitarbeiter Mitglied des palliativmedizinischen Teams. Insofern kann ich das erfahrungsgestützt so sagen: Es gibt Menschen, die auch in todesnahen Krankheitsphasen einen religiösen Zugang ganz klar für sich ablehnen. Die meisten Mitarbeitenden der Klinikseelsorge sagten mir, dass sie zuhören und vielleicht im weitesten Sinne Transzendenz repräsentieren, aber jedenfalls keine direkten Seelsorgeangebote machen – es sei denn, es wird nachgefragt. Es gibt ein empathisches Gesprächsangebot, was auch vielleicht gerne aufgenommen wird, weil sich viele Menschen im Krankenhaus einsam fühlen. Das hat aber auf jeden Fall seinen Wert.
Frage: Blicken wir auf die Menschen die religiös sozialisiert sind und eine eingeübte Glaubenspraxis haben. Wie hilfreich ist das als Bewältigungsstrategie im Sterbeprozess?
Heuft: Glaube ist für die Bewältigung von Grenzerfahrungen hilfreich, dass möchte ich auf jeden Fall unterstreichen. Dazu gibt es viele Untersuchungen. Deswegen ist Seelsorge, sofern sie gewünscht ist, bei schwerer Krankheit auch sehr wichtig. Wenn jemand zum erwachsenen Gottesbild eines Liebenden und gütigen Gottes gefunden und das Gefühl beziehungsweise das Glaubenswissen hat, er kann nicht tiefer fallen als in die Hand Gottes, kann er sich in dem Prozess, der gut begleitet ist, in sehr vertrauensvoller Weise dem Sterben überlassen. Es gibt dabei aber Einschränkungen oder Risiken.
„Wenn jemand zum erwachsenen Gottesbild eines Liebenden und gütigen Gottes gefunden und das Gefühl beziehungsweise das Glaubenswissen hat, er kann nicht tiefer fallen als in die Hand Gottes, kann er sich in dem Prozess, der gut begleitet ist, in sehr vertrauensvoller Weise dem Sterben überlassen.“
Frage: Welche sind das?
Heuft: Menschen, die gläubig sind, sehen sich oft mit der Theodizee-Frage konfrontiert: Warum lässt Gott ihre Krankheit oder ihr Leid zu? Als ein Weg, mit dieser Frage umzugehen, habe ich immer versucht, meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzuleiten, den Betroffenen zu erklären, dass wir Menschen stets das Bedürfnis nach Erklärungen haben, dass es aber auf die "Warum-Frage" in diesem Leben keine Antwort gibt. Und zwar als psychosomatische Intervention, nicht als seelsorgliche. Bei religiösen Menschen lässt man damit die transzendentale Perspektive anklingen. Und Nichtreligiöse können immerhin so weit kommen, dass sie sagen, sie geben diese Frage auf. Oft tritt damit eine größere Gelassenheit ein. Immer wieder gegen die "Warum-Frage" anzurennen, kostet nur Kraft, frustriert und bringt niemanden weiter.
Frage: Was wäre ein anderes Risiko?
Heuft: Das zweite Risiko ist eine Regression des Gottesbildes. Es gibt Menschen, die ein erwachsenes, positives Gottesbild haben, die jedoch über diese "Warum-Frage" wieder auf das Bild eines strafenden Gottes zurückfallen: Sie vermuten, ihnen werde die Krankheit zugemutet, weil sie irgendetwas falsch gemacht hätten. Der "Gewinn" dabei ist, dass sie den Eindruck haben, die erlebte Ohnmacht wieder in eine Handlungsmächtigkeit umwandeln zu können, wenn sie etwas gegen diese vermeintliche Sünde oder Verfehlung tun. Dies Möglichkeit der Regression des Gottesbildes haben Religionswissenschaftler und Religionspädagogen meist nicht auf dem Schirm. Bei Menschen mit schwerer Depression kommt der Schuld- und Versündigungswahn als psychisches Phänomen hinzu. Menschen, die religiös sind, haben oft religiös konnotierte Verworfenheitserlebnisse: Sie sagen, in der Erkrankung seien sie von Gott in die Hölle verdammt und kämen nie wieder heraus. Auf diese Risiken bei gläubigen Menschen sollte man achten – und ihnen helfen, das positive Gottesbild wiederzufinden.
Frage: Manche Menschen ziehen aus dem Glauben eine vielleicht auch irrationale Hoffnung, dass es doch noch Heilung gibt, selbst wenn der Prozess schon sehr weit fortgeschritten ist. Wie geht man damit um?
Heuft: Das ist eine wichtige Frage. Ich habe vergangenes Jahr bei den Salzburger Hochschulwochen einen Vortrag gehalten, bei dem es zusammengefasst darum ging, dass man bei einer Krebserkrankung ab einem gewissen Zeitpunkt gut daran tut, sich für eine Stopp der Behandlung zu entscheiden, wenn es aus medizinischer Sicht einfach nichts mehr bringt. Ich habe Menschen erlebt, die bis wenige Tage vor ihrem Tod noch Chemotherapien gemacht haben. In einem konkreten Fall war es eine Frau Ende 60 mit Brustkrebs, die bis eine Woche vor ihrem Tod noch für ihre vermeintliche Heilung gekämpft hat, obwohl die Folgen der Krankheit unübersehbar waren. Sie und ihr Mann haben sich gegenseitig immer vorgemacht, sie schaffe doch noch die "Wende" – und dann stirbt sie scheinbar "plötzlich". Da sind ganz viele Gespräche, die eigentlich in dieser Phase möglich gewesen wären, versäumt worden, und die Trauer bricht ganz unvermittelt und unvorbereitet über die Hinterbliebenen herein.
Deswegen ist die Entscheidung, in Absprache mit den Ärzten die Therapie zu beenden – wenn man feststellt, dass sich der Krankheitsprozess nicht aufhalten lässt –, ein sehr wichtiger Schritt für die Patienten. Es muss mehr ins öffentliche Bewusstsein kommen, dass so ein Schritt legitim ist. Nach dem Stopp der oft nebenwirkungsreichen Behandlung kann unter Umständen noch eine Lebensphase gewonnen werden, in der man sich zum Beispiel noch von anderen verabschieden und Dinge, die einem noch wichtig sind, regeln kann. Wenn es gelingt, so bewusst mit seinen wichtigsten Begleitern im Leben auf das eigene Lebensende zuzugehen, kann Ruhe und Einverständnis mit dem Unvermeidlichen erfahren werden. Dann stirbt man vielleicht eher mit dem Gefühl, es ist alles gesagt.
Frage: Das heißt: Auch wenn man meint, es hilft einem, es wegzuschieben – das Sterben soll man bei schwerer Krankheit bewusst in den Blick nehmen.
Heuft: Unbedingt! Wobei ich dafür plädiere, schon in gesunden Tagen ein "abschiedliches" Leben einzuüben. Das heißt, sich mehr in seiner Begrenztheit wahrzunehmen und die eigene Endlichkeit in die gesamten Lebensvollzüge zu integrieren und damit auch immer schon ein Stück einzuüben, dass man eines Tages alles hergeben muss.
Frage: Wie kann das funktionieren?
Heuft: Gelassener werden. Einsehen, dass man nicht immer recht hat, dass man nicht immer alles bekommt. Dass man sich von manchen Dingen aktiv trennen muss. Sich bewusst zu machen, dass man eines Tages den eigenen Körper wieder hergeben muss. Irgendwann wird sich die Lebenskraft erschöpfen. Und dann ist eben die Frage: Was bleibt dann von einem?
Frage: Da kommt man wieder zur Transzendenz ...
Heuft: Als Theologe würde ich es mit dem ersten Korintherbrief von Paulus formulieren, dass am Ende Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben. Und dann steht am Ende der Spitzensatz: "doch am größten unter ihnen ist die Liebe" (1 Kor 13,13). Wenn die Hoffnung auf Heilung quasi "gestorben" ist, kann ich sagen: Ich bin in der Liebe aufgehoben. Und wenn man es ganz theologisch-trinitarisch formulieren will: Ich bin hineingenommen in der trinitarischen Liebe Gottes.