Interview mit Katrin Brockmöller über Exegese für Laien

Bibelwerk-Direktorin: Bibellesen genießen wie Essengehen mit Freunden

Veröffentlicht am 27.01.2024 um 12:04 Uhr – Von Christoph Brüwer – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Am Sonntag feiert die Kirche in Deutschland den Ökumenischen Bibelsonntag und den katholischen Sonntag des Wortes Gottes. Im katholisch.de-Interview spricht die Direktorin des Bibelwerks darüber, wie auch Laien die Bibel lesen und interpretieren können und worauf sie dabei achten sollten.

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Die wissenschaftlichen Methoden, die Bibel zu interpretieren, sind sehr vorausetzungsvoll. Müssen Christinnen und Christen also darauf warten, dass ihnen jemand erklärt, wie Bibeltexte zu deuten sind? Nein, sagt Katrin Brockmöller. Sie ist Direktorin des Katholischen Bibelwerks in Deutschland. Im katholisch.de-Interview spricht sie über Bibelexegese und darüber, wie auch Laiinen und Laien die Texte lesen und interpretieren können. 

Frage: Frau Brockmöller, die Bibel gibt es mittlerweile in über 700 Sprachen. Im Prinzip kann doch jeder lesen, was in der Bibel steht. Warum braucht es trotzdem so etwas wie Exegese?

Brockmöller: Jede und jeder darf die Bibel lesen und soll sie auch lesen. Trotzdem braucht es Fachleute, die über die Bibel sprechen, weil die Bibel ein antikes Dokument ist. Selbst die jüngsten Texte sind fast 2.000 Jahre alt, stammen also aus einer komplett anderen Welt als die, in der wir heute leben. Wenn man die Hintergründe und Kontexte nicht einordnen kann, kann es deshalb schnell passieren, dass die Texte verwirrend wirken.

Frage: Es gibt aber evangelikale Christinnen und Christen und auch Strömungen innerhalb der katholischen Kirche, die die Bibel einfach wörtlich verstehen. Reicht das nicht aus?

Brockmöller: Die Päpstliche Bibelkommission hat 1993 die wunderbare Studie "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" veröffentlicht. Darin werden alle Methoden und Zugänge zur Heiligen Schrift aufgelistet. Sie warnt aber ausdrücklich vor einem fundamentalistischen Umgang mit dem Bibeltext. Die Bibelkommission begründet das damit, dass jede fundamentalistische Bibelauslegung eine Selbstaufgabe des Denkens ist. Man leugnet, dass die Bibel ein Zeitdokument ist, das in einem historischen Kontext entstanden ist und verschiedene Gattungen hat. So geht man am Text selbst und damit letztlich auch am Wort Gottes vorbei.

Frage: Es gibt nicht die eine Art der Bibelexegese, sondern ganz unterschiedliche Auslegungen. Woher kommt diese Vielfalt?

Brockmöller: Die Vielfalt kommt von der langen Geschichte der Menschen mit diesem Buch. Jede Generation hat verschiedene Zugänge entwickelt. Der die letzten Jahrzehnte prägendste Ansatz ist sicher die historisch-kritische Methode.

Bild: ©Harald Oppitz/KNA

"Dass die verschiedenen exegetischen Methoden unterschiedliche Positionen vertreten, ist ja gerade der Reichtum", betont Katrin Brockmöller. Die promovierte Bibelwissenschaftlerin ist Direktorin des Katholischen Bibelwerks in Stuttgart. "Ich fände es schrecklich, wenn es nur eine Auslegung von einem Text gäbe", betont sie. Auch die Kirche haben den Sinnüberschuss der Texte immer wieder hervorgehoben.

Frage: Wie funktioniert diese Methode genau?

Brockmöller: Es ist eine wissenschaftlich sehr ausgefeilte Methode, die Bibel zu lesen. Sie heißt historisch, weil sie ernstnimmt, dass es historisch gewachsene Texte sind. Dazu wird der zeitgeschichtliche, politische und religiöse Kontext sowie die literarische Gattung erforscht und in die Interpretation einbezogen. Kritisch heißt die Methode, weil es darum geht, wissenschaftlich abgesicherte und transparent vollzogene Schritte zu verwenden und so zu einer nachvollziehbaren Auslegung zu kommen.

Frage: Die historisch-kritische Methode ist nicht die einzige Art der Bibelexegese. Welche anderen Formen gibt es beispielsweise?

Brockmöller: Die anderen Formen sind meistens auf bestimmte Bereiche fokussiert. So gibt es zum Beispiel literarische oder narrative Analysen, die auf die Textgestalt eingehen. Eine Frage, die dabei aufkommt, ist beispielsweise die nach implizitem und realem Leser. Dabei geht es darum, dass es einen Unterschied dazwischen gibt, wer heute real diesen Text liest und wen die Autorinnen oder Autoren im Kopf gehabt haben, als sie die Text verfasst haben. Dieser implizite Leser weiß bestimmte Dinge und hat Erfahrungszusammenhänge, die uns heute oft fehlen. Das kann es dann manchmal schwierig machen, eine Beziehung zum Text zu entwickeln.

Frage: Es gibt aber auch besondere Perspektiven in der Auslegung …

Brockmöller: Genau. Eine solche Perspektive ist zum Beispiel die feministische Bibelexegese, die ab den 1980er Jahren den Fokus auf Frauentexte in der Bibel gelegt hat. Plötzlich wurde sichtbar, wie viele Frauen aktiv an der Theologie und der Weiterführung der Verheißungen Gottes mitwirken. Zunehmend wurde wichtiger, sowohl sogenannte Female- und Male-Voices (weibliche und männliche Perspektiven) im Text und auch in der Auslegung sichtbar zu machen. Oder danach zu fragen, wessen Positionen ausgegrenzt, verschwiegen, zum Schweigen gebracht werden. Das sind Fragen nach Macht und Ohnmacht auch in der Entstehung biblischer Texte.

Frage: Sie haben bereits erwähnt, dass bei der Bibelauslegung ganz unterschiedliche Ergebnisse herumkommen können. Deutelt man da nicht viel nach eigenem Gutdünken in der Bibel herum und bekommt dann das Ergebnis, das man haben möchte?

Brockmöller: Dass die verschiedenen exegetischen Methoden unterschiedliche Positionen vertreten, ist ja gerade der Reichtum. Ich fände es schrecklich, wenn es nur eine Auslegung von einem Text gäbe. Bei der Bibel handelt es sich ja nicht um eine Rechnung, bei der nur ein Ergebnis herauskommen kann. Allein schon der Lebenskontext der Lesenden produziert immer neue Fragen. Auch die Kirche hat immer wieder betont, dass es einen Sinnüberschuss der Texte gibt, der sich in jeder Generation neu erschließt.

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Frage: Diese wissenschaftlichen Methoden, über die wir bisher gesprochen haben, sind allerdings sehr voraussetzungsvoll. Müssen Gläubige also darauf warten, bis ihnen jemand erklärt, wie sie die jeweiligen Bibelstellen zu verstehen haben?

Brockmöller: Nein. Die Kirche spricht seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil immer auch von der Lektüre des Volkes. Jede und jeder kann selbstverständlich erleben, dass in biblischen Text Gottes Gegenwart erfahrbar ist. Für manche Fragen ist aber sehr hilfreich, wenn man auf Erkenntnisse der Exegese zugreifen kann. Exegeten sind ja einfach Menschen, die eben sehr viel Zeit und Energie aufbringen können, sich in die Bibel zu vertiefen. Von ihrer Erfahrung und ihre Kompetenz können alle lernen.

Frage: Wie funktioniert das denn ganz konkret, wenn ich die Bibel vor mir liegen habe und ich die Texte lesen und verstehen möchte. Was muss ich tun, damit der Text zu mir spricht?

Brockmöller: Eine Möglichkeit ist die "Lectio divina", also übersetzt "die göttliche Leseweise". Das ist eine ganz alte Methode, die schon die Kirchenväter angewandt haben. Dabei wird der Text sehr langsam und immer wieder gelesen und mit Herz und Verstand aufgenommen. Dazu haben wir im Bibelwerk viel Material erstellt. Das besondere an den Materialien ist, dass wir für die intensive Lektüre jeweils Leseschlüssel entwickelt haben. Der erste Leseschlüssel hilft immer dabei, den Text als Gegenüber ernst zu nehmen. Er besteht aus Beobachtungsfragen, wie zum Beispiel: Wer spricht? Wer geht wohin? Welche Themen kommen vor? Werden Begriffe wiederholt oder gibt es Gegensatzpaare? Wenn man in einer Gruppe die Bibel liest, teilt man anschließend die Beobachtungen, die man hier gemacht hat. Beim zweiten Leseschlüssel geht es darum, wie der Text auf mich wirkt. Klassische Fragen sind hier etwa: Welche Begriffe faszinieren mich? Mit wem solidarisiere ich mich beim Lesen? Was irritiert mich? Wenn man eigene Beobachtungen teilt, wird man bereichert von dem, was andere beitragen. Und lernt aufeinander und auf den Text zu hören.

Frage: Das klingt sehr leseintensiv ... Welche anderen Formen gibt es noch?

Brockmöller: Für Menschen, die nicht so gerne lesen, gibt es mindestens zwei Methoden, die gerade sehr viel Zulauf haben: Bibliolog und Biblisches Erzählen. Bei beiden geht es vor allem um Identifikation. Beim Bibliolog können die Teilnehmenden in mehrere biblische Figuren "schlüpfen" und ihre Perspektive auf eine Situation benennen. Häufig staunt man, wie viele nicht ausgesprochene Gedanken, Gefühle, Positionen in biblischen Geschichten vorhanden sind.  Diese Leerstellen und Zwischenräume machen Texte interessant und laden zum Mitdenken ein. Beim Biblischen Erzählen tritt eine Person auf die Bühne und füllt die biblische Erzählung mit einer Geschichte. So lassen sich biblische Texte sehr einfach, aber intensiv erleben.

„Das Lesen eines Bibeltexts kann in sich schon ein Gebet sein. Und ein Gebet bedeutet nicht immer, auch etwas zu tun.“

—  Zitat: Bibelwerk-Direktorin Katrin Brockmöller

Frage: Aber verlasse ich dabei nicht den Boden des Textes, wenn ich mir überlege, wie ich mich als Person in der Bibelstelle verhalten würde?

Brockmöller: Bei beiden Methoden geht es nicht darum, ins Freie hineinzufantasieren, sondern den Text als Geländer zu nutzen. Wenn man sich beispielsweise die Geschichte anschaut, in der Jesus zu Maria und Marta ins Haus kommt, dann steht im Text nicht, wie Marta ihn empfangen hat, was sie dabei gefühlt oder gedacht hat. Gedanken darüber reichern eher die Interpretation und die Begegnung mit dem Text und mit Gott an. Das ist das Tolle bei literarischen Texten: Sie sprechen nicht alles aus, sondern es gibt immer Dinge, die im Text mitschweben, aber nicht ausgesprochen werden. Einmal sagte eine ältere Dame nach einem Bibliolog zu mir: "Sehen Sie, ich habe schon immer gewusst, dass da in der Bibel mehr los ist, als wir verkündet bekommen."

Frage: Worauf sollte man noch achten, wenn man nach den Methoden, die Sie genannt haben, biblische Texte liest?

Brockmöller: Man darf ruhig unbedarft und mutig an den Text herangehen und ihn als Text wahrnehmen und schauen, was man entdeckt. Vielleicht sagt mir ein Text gerade gar nichts. Manchmal gilt es einfach nur zuzuhören, was andere entdecken. Ich würde auch nicht zu schnell die Frage stellen: "Was will Gott von mir, dass ich heute tun soll?"

Frage: Es geht aber letztendlich um einen biblischen Text und damit um das zentrale Dokument des christlichen Glaubens – und nicht etwa um ein Stück Literatur oder ein Gedicht. Muss man sich also nicht zwangsläufig die Frage nach der Handlungsaufforderung stellen?

Brockmöller: Das Lesen eines Bibeltexts kann in sich schon ein Gebet sein. Und ein Gebet bedeutet nicht immer, auch etwas zu tun. Das ist wie bei einer Freundschaft: Man schweigt miteinander, man redet miteinander und macht die Erfahrung, dass man nicht allein ist. Dieses Erleben würde ich noch vor die Tat setzen. Wenn Sie mit einer Freundin essen gehen, dann genießen Sie das Essen und das Zusammensein und es geht nicht direkt darum, eine Aktion zu machen. So würde ich das Bibellesen auch sehen: Als Genießen des Zusammenseins und der Erfahrung, dass Gott gegenwärtig ist. In unserer Zeit geht es darum, an unsere Quellen zu kommen und Nahrung für unsere Seele zu haben. Aus dieser Gottesbeziehung werden wir dann handeln.

Von Christoph Brüwer