"Missbrauch ist ein Männlichkeitsphänomen"

Religionssoziologe: Kirchenimage durch Forum-Studie verschlechtert

Veröffentlicht am 27.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Clara Engelien (KNA) – Lesedauer: 

Münster/Hannover ‐ "Erschüttert" war das Wort der Stunde, als die Evangelische Kirche am Donnerstag ihre Missbrauchsstudie präsentierte. Was bedeutet diese Erschütterung in der Konsequenz für Kirche und Gesellschaft? Der Soziologe Detlef Pollack gibt Auskunft.

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Die Zahl von Missbrauchsbetroffenen in der evangelischen Kirche ist laut der am Donnerstag veröffentlichten Forum-Studie überraschend hoch. Das habe nicht nur Folgen für die Kirche selbst, sondern auch für die Gesellschaft im Allgemeinen, sagte der Religionssoziologe Detlef Pollack am Freitag in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Besonders bemerkenswert findet er jedoch einen anderen Aspekt der Studie.

Frage: Herr Pollack, die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist deutlich höher als bislang angenommen. Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse?

Pollack: Auf der Bevölkerungsebene werden die Folgen ganz sicher darin bestehen, dass Menschen sich motiviert fühlen, die Kirche noch kritischer zu sehen, als sie das bisher getan haben. Viele Menschen werden das auch als Motivation ansehen, aus der Kirche auszutreten. Das Image der Kirche verschlechtert sich weiter, das Vertrauen sinkt. Auf Kirchenebene bestehen die Konsequenzen vor allem darin, dass die Kirche verstanden hat, dass sie die Betroffenen ernster nehmen muss. Dass sie sich auf deren Perspektive einzulassen hat und alles tun muss, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen Missbrauch überhaupt entstehen kann. Um ihn in Zukunft verhindern zu können.

Frage: Müssen sich auch Strukturen in der evangelischen Kirche ändern?

Pollack: Das ist gar nicht so einfach, weil die evangelische Kirche schon demokratisch verfasst ist. Man kann jetzt nicht einfach sagen, wir müssen diese Struktur auflösen. Aber ein Punkt hat mich überzeugt: Es braucht einheitliche Regelungen für den Umgang mit sexualisierter Gewalt im Bereich der Kirche. Bisher haben die einzelnen Landeskirchen verschiedene Richtlinien, treffen verschiedene Entscheidungen und wollen sich zum Teil auch nicht von oben her reinreden lassen. Das muss vereinheitlicht werden.

Frage: Meinen Sie, die Studienergebnisse verschärfen weiter die Krise beider Kirchen oder überrascht das die Menschen sowieso nicht mehr?

Pollack: Die Ergebnisse betreffen vor allen Dingen diejenigen, die von der Kirche viel halten und die selber Mitglied in einer Kirche sind. Die wird es schon auch überraschen. Für sie ist es schmerzlich und erschütternd. Das Vertrauen in die katholische Kirche ist auf einem Tiefpunkt. Das Vertrauen in die evangelische Kirche ist deutlich höher, obwohl auch relativ gering. Ich könnte mir vorstellen, dass nun vor allem bei den Mitgliedern der evangelischen Kirche die negativen Konsequenzen zu spüren sein werden.

Detlef Pollack
Bild: ©Privat

Detlef Pollack ist Religionssoziologe an der Universität Münster.

Frage: Inwiefern sind die Studien der beiden Kirchen denn überhaupt vergleichbar?

Pollack: Darin liegt ein Problem. Die Zahlen der EKD-Studie wurden auf der Basis von Disziplinarakten erstellt und beziehen sich auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Kirche und der Diakonie. In der Missbrauchsstudie der katholischen Kirche wurden die Personalakten ausgewertet, aber nur die Geistlichen untersucht. Die Ergebnisse der beiden Studien sind also gar nicht vergleichbar. Wenn man aber vergleichen möchte, finde ich einen Aspekt besonders bemerkenswert: den Geschlechteraspekt.

Frage: Wie meinen Sie das?

Pollack: Der EKD-Studie zufolge waren 99 Prozent der Beschuldigten Männer und rund drei Viertel von ihnen bei der ersten Tat verheiratet. Das heißt, die Missbrauchsfälle sind generell ein Männlichkeitsphänomen, und sie sind in erster Linie nicht auf den Zölibat zurückzuführen. Solange man nur katholische Priester untersucht, also nur unverheiratete männliche Geistliche, kann man zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Verheirateten und Unverheirateten nicht vergleichen. Mit der EKD-Studie aber können wir das. Die Ergebnisse sind aufschlussreich und bedürfen weiterer Analyse.

Frage: Wie wird unsere Gesellschaft sich verändern, wenn die Kirche als gesellschaftliche Instanz durch solche Ereignisse nach und nach an Bedeutung verliert?

Pollack: Eine so diskreditierte Kirche wird kleiner, und das hat nicht unbedingt positive Konsequenzen. Zum Beispiel dürfte das Vertrauen der Menschen untereinander zurückgehen, wenn auch wohl nur leicht. Menschen, die in der Kirche sind, die an Gott glauben, haben insgesamt mehr Vertrauen in andere Menschen und engagieren sich auch ehrenamtlich häufiger als Konfessionslose. Der Gesellschaft im Ganzen wird es nicht nützen, wenn die Kirche kleiner wird.

Von Clara Engelien (KNA)