Behauptung, katholische Reformdebatten seien Irrweg, falsch

Forscher: EKD-Missbrauchsstudie entlastet katholische Kirche nicht

Veröffentlicht am 31.01.2024 um 13:14 Uhr – Lesedauer: 

Hamburg/Hannover/Freiburg ‐ Eine Studie hat tausende Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche offengelegt. Die katholische Kirche entlaste das nicht, sagt Studienleiter Martin Wazlawik. Wer nun behaupte, katholische Reformdebatten seien ein Irrweg, liege falsch.

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Nach Vorstellung der Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche sieht Studienleiter Martin Wazlawik auch die katholische Kirche weiter gefordert. "Unsere Studienergebnisse entlasten die katholische Kirche in keiner Weise", sagte er im Interview der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt" (Donnerstag). Die Studie beschreibe spezifisch protestantische Faktoren, die sexualisierte Gewalt ermöglichten, so der Professor für Sozialpädagogik an der Hochschule Hannover. "Vergleiche, bei wem es nun besser läuft oder schlimmer ist, sind zynisch und betroffenenfeindlich."

Die erste bundesweite Missbrauchsstudie für evangelische Kirche und Diakonie war vergangene Woche in Hannover vorgestellt worden. Sie wurde von Wissenschaftlern acht verschiedener Institutionen unter Koordination von Wazlawik erstellt. Ihren Erkenntnissen zufolge ist das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche viel größer als bisher bekannt. Als eine wichtige Ursache für viele Taten nennt die Untersuchung die besondere Machtposition der Geistlichen. Zudem stellen die Autoren der Kirche im Umgang mit Betroffenen ein schlechtes Zeugnis aus.

Katholische Reformdebatten kein Irrweg

Die Behauptung, dass die Reformdebatten in der katholischen Kirche ein Irrweg seien, weil Missbrauch auch in der evangelischen Kirche stattfinde, wies Wazlawik zurück. "Das in unsere Studie hineinlesen zu wollen, wäre eine grobe Verzerrung und falsch." Eine Erkenntnis nicht nur der aktuellen Studie laute: "Sowohl streng hierarchisch organisierte wie auch föderale Laisser-faire-Organisationen haben ein Risiko für Machtmissbrauch und brauchen ihre je eigenen Reformen, um das Risiko zu minimieren."

Für die evangelische Kirche ist die neue Studie nach Ansicht des Forschers nur der Beginn der Aufarbeitung. Es komme noch einiges an Arbeit auf die Landeskirchen und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zu. "Einer der nächsten Schritte muss sein, dass es zu einer systematischen Aufbereitung der einzelnen Fälle kommt." Dann könne es auch um individuelle Verantwortung von Amtsträgern gehen. Das sei ein großes Anliegen der Betroffenen. Wazlawik betonte: "Der schnellste Weg aus der Krise ist, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Eine scheibchenweise Aufklärung führt nur dazu, dass die Krise zum Dauerzustand wird."

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht (Archivbild)

Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg.

Nach Ansicht des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet braucht es nach der bundesweiten EKD-Studie nun weitere regionale Untersuchungen. Dabei müsse auch das Handeln von Leitungsverantwortlichen in den Blick genommen werden, schreibt der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission des Erzbistums Freiburg in einem Gastbeitrag für "Christ und Welt". Die historischen Aufarbeitungsprozesse könnten ähnlich wie in der katholischen Kirche nur regional stattfinden, so Striet. "Für die 20 Landeskirchen der EKD muss das bedeuten: Unabhängige Aufklärung ist notwendig, und wenn Amtsträger ihrer Verantwortung wissentlich nicht gerecht wurden, muss das benannt werden."

Namen von verantwortlichen Amtsträgern werden in der EKD-Studie nicht genannt. Für die katholische Kirche hatten Forscher bereits 2018 eine bundesweite Studie (MHG-Studie) vorgestellt. Daraufhin hatten viele Bistümer regionale Untersuchungen in Auftrag gegeben.

So mancher katholischer Kirchenfürst vom Denkmal gestoßen

Laut Striet hat die bistumsbezogene Aufarbeitung in der katholischen Kirche inzwischen so manchen Kirchenfürsten vom Denkmal gestoßen. Als Beispiele nannte er die Kardinäle Joachim Meisner, Karl Lehmann, Joseph Höffner und Julius Döpfner sowie den früheren Freiburger Erzbischof und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Robert Zollitsch. "Mit Spannung kann erwartet werden, wer auf evangelischer Seite noch den Offenbarungseid wird leisten müssen."

Dieser Prozess sei schmerzhaft, räumt der Theologe ein. "Aber schließlich haben die Betroffenen sexualisierter Gewalt ein Leben lang mit den Folgen zu kämpfen." Striet fordert außerdem, die Politik solle sich des Themas entschiedener annehmen als bisher. Es brauche eine nicht auf kirchliche Einrichtungen beschränkte große Dunkelfeldstudie, die das gesamte Ausmaß des Missbrauchs in Deutschland in den Blick nehme. (tmg/KNA)