Religionssoziologe: Missbrauch ist "reines Männlichkeitsphänomen"
Die erste bundesweite Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche zeigt nach Worten des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack, dass Missbrauch "ein reines Männlichkeitsphänomen" ist. Insofern sei Missbrauch nicht allein ein kirchliches Problem, sondern ein Problem der gesamten Gesellschaft, schreibt Pollack in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Freitag). "Nicht schon die Wahrnehmung einer geistlichen Funktion in der Kirche bedingt den Missbrauch. Wichtiger ist das Sexualverhalten der Männer", so der Soziologe. Die zutage getretene Geschlechterdifferenz spiele in der Kirche eine Rolle, aber auch in jedem anderen gesellschaftlichen Bereich, in dem es Erwachsene mit Heranwachsenden zu tun hätten.
99,6 Prozent der Beschuldigten männlich
Pollack verweist darauf, dass der Studie zufolge 99,6 Prozent der Beschuldigten männlich sind. In der zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegten MHG-Studie für die katholische Kirche hätten sich Geschlechterdifferenzen nicht erheben lassen, da nur Geistliche einbezogen worden seien. Erneut erklärt Pollack, dass die Taten nicht in erster Linie auf den Zölibat in der katholischen Kirche zurückzuführen seien.
Pollack plädiert für eine weitergehende sozialwissenschaftliche Analyse des komplexen Verhältnisses unter anderen von "sexualisierten Männlichkeitsphantasien", informeller Vertrautheit und autoritären Machtstrukturen. Eine solche Analyse könne helfen, zugrundeliegende Zusammenhänge sexualisierter Gewalt genauer zu verstehen: "Vielleicht sind die Kirchen mit ihren Studien in der Lage, einen gesamtgesellschaftlichen Anstoß zu geben, wie unsere Gesellschaft mit männlicher Macht umgeht und wie sie die besondere Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen besser schützen kann."
Die erste bundesweite Missbrauchsstudie für evangelische Kirche und Diakonie war vergangene Woche in Hannover vorgestellt worden. Demnach finden sich in kirchlichen Akten Hinweise auf mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte in den Jahren 1946 bis 2020. Die Autoren kritisierten allerdings, dass 19 von 20 Landeskirchen entgegen der ursprünglich getroffenen Vereinbarung nur die weniger aussagekräftigen Disziplinarakten und nicht die wesentlich größere Menge der Personalakten ihrer Geistlichen ausgewertet hatten. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass bundesweit in den kirchlichen Akten weit höhere Zahlen nachzuweisen sind. (KNA)