Psychiater: Kirche ist Risikofaktor für Missbrauch
In der katholischen und evangelischen Kirche gibt es nach Ansicht des Psychiaters Marc Graf Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch von Kindern. Bei der katholischen Kirche gehöre die verpflichtende Ehelosigkeit von Priestern, der Zölibat, dazu, sagte Graf in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Dienstag). "Dieser Umgang mit Sexualität ist einfach nicht menschlich", so der Fachmann, der bereits Ende der 90er Jahre in Basel eine der weltweit ersten Beratungsstellen für Erwachsene mit sexuellem Interesse an Kindern gründete.
Nur sehr wenige Menschen könnten ohne Intimität und Erotik leben, erläuterte Graf. "Hinzu kommt, dass Frauen in der katholischen Kirche kaum eine Stimme haben und in der Bibel auch noch sehr negative Rollen verkörpern, etwa als die Verführerinnen." Es fehlten positive Frauenbilder für eine unproblematische sexuelle Entwicklung. "Das alles befördert Übergriffe auf Kinder."
Die unlängst bekanntgewordenen Zahlen von Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche zeigen nach Meinung des Psychiaters, dass Kirche an sich schon einen Risikofaktor darstelle. "Die intransparenten Machtstrukturen in der Kirche, die starken Hierarchien und die starken Abhängigkeitsverhältnisse befördern das Risiko." Generell würden Geistliche von Gläubigen kaum infrage gestellt. "Entsprechend schwer ist es für Kinder zu erkennen, dass der Fehler nicht bei ihnen liegt, wenn es sie ekelt, den Pfarrer oral zu befriedigen."
Tipps gegen Missbrauch
Auf die Frage, was Kirchen tun könnten, um Missbrauch vorzubeugen, antwortete Graf: "Ombudsstellen sind ein erster Schritt." Man brauche sie, damit Opfer eine Anlaufstelle hätten und Täter auch. "Mitarbeitende sollten sich an externe Experten wenden können, und Arbeitgeber müssen aufmerksam sein und Mitarbeitende ansprechen – wie bei anderen Themen auch, wenn man etwa ein Risiko für Burn-out oder für Alkoholabhängigkeit sieht."
Zugleich sei die Gesellschaft als Ganze gefragt, betonte der Psychiater. "Wir können Missbrauch nur durch Aufklärung vorbeugen – und ich meine hier Aufklärung ganz im Sinne des historischen Begriffs. Menschen müssen von klein auf wissen: Ich kann selbst entscheiden, es gibt keine Obrigkeit, die über mich verfügt. Wenn jemand übergriffig wird, ist das nicht normal – und ich muss das auf keinen Fall ertragen. Ich suche mir dann Hilfe. Und ich erhalte diese auch." (KNA)