Baukultur-Aktivist: Kirchengebäude nicht nur als Kostenpunkt sehen
Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, immer mehr Gemeinden und Pfarreien stehen vor der Frage: Können sie ihre Kirche weiternutzen oder soll sie umgenutzt werden? Eine Frage, auf die Peter Köddermann einen kritischen Blick wirft. Er ist der Geschäftsführer Programm des Vereins "Baukultur Nordrhein-Westfalen", der Themen aus Architektur und Stadtentwicklung initiiert, organisiert und kommuniziert. Im Interview spricht er über die besondere Bedeutung von Kirchen und was diese für künftige Nutzungen bedeutet.
Frage: Herr Köddermann, große Gebäude wie Kirchen bedeuten für Gemeinden und Pfarreien oft Herausforderungen, vor allem, wenn sie schon älter sind. Welches sind die größten?
Köddermann: Ich warne davor, mit Blick auf Kirchengebäude so problemzentriert zu denken. Wir müssen anders anfangen: Was sind Kirchen? Sie sind nicht immer Landmarken oder herausragende Architekturen. Sie sind in erster Linie Orte der Gemeinschaft – und daraus ergibt sich ein Bedeutungszusammenhang für jeden, der sich damit beschäftigt. Denn die Bedeutung eines Bauwerks ergibt sich nicht zuerst aus der reinen Qualifizierung der Architektur, sondern aus dem inneren Sinn einer Kirche. Sie ist für die innere Kultur einer Gemeinschaft, eines Quartiers von Belang. Dieses Verständnis sollte die erste Veranlassung sein, sich mit einem solchen Gebäude auseinanderzusetzen. Erst danach ergeben sich Fragestellungen und Regularien, wenn es etwa um Trägerschaften, Nutzungsmöglichkeiten oder bauliche Änderungen geht.
Frage: Das heißt, wer sich die Frage stellt, wie eine Kirche noch zu beheizen ist oder wie die Kunstgegenstände darin noch erhalten werden können, ist eigentlich zu spät dran.
Köddermann: Er ist auf jeden Fall spät dran, ob zu spät, ist schwierig allgemeinverbindlich zu sagen. Was feststeht: Entwicklungsprozesse um Kirchengebäude dauern länger, als viele Beteiligte denken, nämlich zwischen fünf und zehn Jahren. Es ergibt Sinn, sich von vornherein über die Bausubstanz einer Kirche im Klaren zu werden, darüber auch etwa mit der Denkmalpflege zu sprechen – sie ist Partner in der Entwicklung von neuen Ideen, kein Feind. Sie steckt ab, welche Möglichkeiten ein Gebäude überhaupt bereithält: Was kann man dämmen, welche Art von Bespielung ist überhaupt möglich? Dann geht es darum: Mit welchem Charakter sieht eine Gemeinschaft so ein Gebäude, jetzt und in Zukunft? Wenn man so vorgeht, ergeben sich viel mehr und ganz andere Möglichkeiten für solch ein Gebäude, als wenn man nur funktional denkt. Es geht um den Wesenskern eines Baus.
Frage: Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es denn? Denn die Anzahl der Kirchenmitglieder und Messbesucher geht ja zurück.
Köddermann: Die Mitgliederentwicklung bei beiden großen Kirchen ist dramatisch, das bedeutet aber nicht, dass Menschen nicht weiterhin auf der Suche nach Räumen sind, wo man Gemeinschaft pflegt. Da liegt der Fehler, den die Kirchen oft machen: Sie sehen Kirchenräume nur ökonomisch, als Immobilie, die zur Transformation freigegeben wird. Das ist zu wenig. Eine Kirche ist viel mehr als ein Kostenpunkt: Ort für Gemeinschaft, für soziale Sinnstiftung, für Kultur. Vor allem in einer Gesellschaft, die älter wird und in der immer mehr Menschen allein wohnen, werden diese Funktionen mit jedem Tag wichtiger. Das geht bei einer Betrachtungsweise, die nur Kosten addiert, verloren.
Frage: Aber die Kosten sind doch auch ein wichtiger Punkt.
Köddermann: Aber nicht der einzige. Wer eine Kirche nur als Immobilie betrachtet, gibt sich nur dem vom Kapitalismus geprägten Immobiliengeschäft hin. Dann sind das nur Steine, ein Renditeobjekt, ein Kostenpunkt. Das reduziert schon prozessinhärent Alternativen. Wer aber Sinn in einem Gebäude sieht, geht andere Wege. Wenn man aus einer Kirche einen Ort für einen Kindergarten, für Bildung, vielleicht sogar für Gewerbe macht – dann ergeben sich dadurch jeweils andere und neue Finanzierungsmöglichkeiten. Deswegen dauern Transformationsprozesse auch so lange: Die gesamte Gesellschaft muss ins Boot geholt werden. Denn eine Kirche ist ein Ort, wo Menschen aus einem Viertel zusammenkommen können – sie haben also eine sehr bedeutsame soziale Funktion. Die fällt weg, wen man in ein Kirchengebäude nur Eigentumswohnungen hineinbaut. Dann ist die innere Bedeutung verschwunden. Ein gesamtgesellschaftlicher Prozess sieht den Gewinn für alle und sucht in dieser Hinsicht nach Lösungen.
Frage: Was macht die Kirche falsch?
Köddermann: Die Transformation des Gebäudebestands ist ein komplizierter Prozess, das ist völlig klar. Das geht an niemandem ohne Fehler vorbei. Was mich aber stört, sind Sätze wie: 'Wir investieren in Menschen, nicht in Steine.' Das lässt völlig außer Acht, dass Menschen Räume brauchen, um ins Gespräch zu kommen. Es geht nicht nur darum, Liturgie zu feiern, sondern einen gesellschaftlichen Treffpunkt zu haben. Deshalb ist es tragisch, dass diese Bedeutungsebene in der innerkirchlichen Diskussion der vergangenen Jahre regelmäßig zu kurz kommt. Weiterhin tragisch ist, dass über Kirchengebäude viel zu selten wirklich die Menschen vor Ort entscheiden, sondern viel zu oft irgendwer in einem Ordinariat, der mit der Situation vor Ort nicht vertraut ist. Dabei beinhaltet eine positiv besetzte Baukultur einen Kommunikationsprozess sowohl mit den Kostenträgern als auch den Betroffenen vor Ort. Diese Kommunikation würde auch der Kirche guttun, weil sie dann wieder mehr den Bedürfnissen der Menschen entspricht – auch von denen, die sich von ihr entfernt haben.
Frage: Was fehlt Ihnen in solchen Prozessen bislang?
Köddermann: Eine Choreografie. Bei so einem Prozess ist es nicht damit getan, sich an einem Mittwoch um 16 Uhr zusammenzusetzen und zu überlegen, was mit der Kirche los ist. Die Kommunikation, der Dialog muss im Zentrum stehen. Man muss auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dafür braucht es Abläufe, Kommunikationskanäle, Regelmäßigkeit. Sonst geht so ein Prozess den Bach runter. Teil davon ist eine Trauerphase, denn mit Veränderungen geht auch das Ende einer Form von Kirche einher. Das müssen Gemeindemitglieder auch verkraften können.
Frage: Welche guten Neunutzungen von Kirchen gibt es denn schon?
Köddermann: Das ist schwierig zu sagen, weil Kirchen nicht den einen Bauplan haben und sie in sehr unterschiedlichen Nachbarschaften liegen. Diese Nachbarschaften, das soziale Gefüge, bestimmen, welche Nutzungsarten sinnstiftend sind. Wenn eine Umwandlung in Auseinandersetzung mit dem architektonischen Bestand und dem Umgebungsmilieu geschieht, kommen sehr gute Lösungen dabei heraus. Eine auf den ersten Blick etwas abwegige Nachnutzung fällt mir ein: In einer ehemaligen evangelischen Kirche in Köln befindet sich mittlerweile ein Dojo für Aikido. Klingt ungewohnt, hat aber gepasst: Auch beim Kampfsport geht es um innere Sammlung, um Meditation. Dadurch ist eine Verbindung zur Architektur des Gebäudes entstanden. So ist die Kirche ein Treffpunkt geblieben.
Frage: Wagen wir einen Blick ins Ausland: Andernorts, etwa in Großbritannien oder den Niederlanden, geht man deutlich ungehemmter mit Kirchengebäuden um. Dort gibt es auch Kneipen, Jugendherbergen oder Werbeagenturen in alten Kirchen. Müssen wir da in Deutschland Hemmungen abbauen?
Köddermann: Im deutschen Baurecht und der Denkmalpflege gehen wir gänzlich anders mit Gebäudebeständen um als in diesen beiden Ländern. In Liverpool gibt es eine Kirche, die kein Dach mehr hat und mittlerweile ein Urban-Gardening-Projekt ist. Natürlich führt auch das Menschen zusammen – aber wird das einem Kirchbau gerecht? Da gäbe es hierzulande sicher gewaltige Proteste. Das kann ich auch verstehen: Es ist das gleiche, wie wenn auf einem Altar auf einmal 127 Single-Malt-Whiskys gereicht werden. Beides wird dem Bedeutungscharakter einer Kirche nicht gerecht. Rücksichtsloser zu sein heißt also nicht, kreativer zu sein. Ich freue mich über jede Freiheit des Denkens, aber nicht jede Lösung ist eine gute Lösung. Das sieht auch etwa das katholische Baurecht, das bei der Nachnutzung von Kirchen gewisse Vorgaben macht.
Frage: Wenn eine Kirchengemeinde merkt, dass es für ihre Kirche mittelfristig eng werden könnte: Was kann sie heute schon tun?
Köddermann: Frühzeitige Planung hat noch niemandem geschadet. Je durchdachter die Choreografie, die Struktur und die Funktionsdefinition ist, desto einfacher finden sich Mitstreiterinnen und Mitstreiter, desto einfacher ist es, ein Bild zu schaffen, mit dem sich viele Menschen verbinden können und mitarbeiten wollen. Es geht darum, den Fokus auf die Lösung zu legen, nicht auf das Problem, in der Kirche einen Chancenraum zu sehen. Das hat auch mit der Wertschätzung für den eigenen Gebäudebestand zu tun. Wir haben dazu eine Internetseite eingerichtet, auf der es Informationsmaterialien und eine Liste mit Ansprechpartnern gibt. Dazu gehören immer: Die eigene Kirchenhierarchie, die Kommune und eventuelle lokale Bündnisse und Initiativen. Dabei ist es einerseits wichtig, die Gesellschaft mit einzubinden, aber andererseits auch die Amtskirchen nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Nur ein Bündnis aller kann tragfähige Lösungen produzieren.