"Seit 2.000 Jahren sind wir Brückenbauer zwischen West und Ost"

Tiranas Erzbischof zur Lage in Albanien und den Weg nach Europa

Veröffentlicht am 03.03.2024 um 12:00 Uhr – Von Markus Schönherr (KNA) – Lesedauer: 

Tirana ‐ Die kommunistische Diktatur hinterließ in Albanien eine religiöse Wüste. Diese ist allerdings wieder zum Leben erwacht, berichtet der Erzbischof von Tirana, Arjan Dodaj. An die Europäische Union richtet er nun einen eindringlichen Appell.

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Priester wurden erschossen, Gläubige landeten im Internierungslager – das war die Realität in Albanien, als Arjan Dodaj in den 1980ern aufwuchs. Heute ist der 47-Jährige römisch-katholischer Erzbischof in der Hauptstadt Tirana. Wie die Flucht nach Italien ihm die Augen für den Glauben geöffnet hat und wie es dem Land heute geht, erzählt er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Frage: Herr Erzbischof, 1967 erklärte Diktator Enver Hodscha Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt. Konnte das Regime die Religion vollständig verbannen? 

Dodaj: Wir müssen bedenken, dass dem kommunistischen Regime jegliche logische menschliche Denkweise fremd war. Daher ist es nicht leicht, zu beschreiben, was sich hier zutrug – nicht bloß gegenüber Ausländern, sondern auch gegenüber jüngeren Albanern. Ich würde es mit dem heutigen Regime in Nordkorea vergleichen. In Albanien wurden Kirchen niedergerissen und die Aktivitäten der Kirche verboten. Während viele Märtyrer, die den Glauben aufrechterhielten, getötet wurden, leben einige noch unter uns, etwa Kardinal Ernest Simoni. Aber auch in unseren Familien gab es die, die den Glauben weiterlebten, unsere Großmütter. Der Sieg der Religion zeigt sich nicht nur im Gedenken an diese Märtyrer, sondern auch in den neuen Berufungen: meiner zum Beispiel.

Frage: Wie geht es der Kirche in Albanien heute? 

Dodaj: Die Kirche hat neue Gnade und Segen gefunden, es ist ein Geschenk Gottes. Viele junge Menschen verschiedener Konfessionen wollen getauft werden. Allein dieses Jahr haben wir in unserer Kathedrale in Tirana mehr als 60 Erwachsene getauft – von den vielen Kindern ganz zu schweigen. Doch was die Infrastruktur betrifft, herrscht immer noch Armut. Anders als im Norden des Landes wurde die Kirche rund um Tirana vernachlässigt. Das ist leider eine Realitätsverzerrung: Im Norden stehen heute gut erhaltene Kirchen, während die Katholiken hier im Zentrum leben. Das ist eine ständige Herausforderung.

Frage: Unterstützt die Regierung die Glaubensgemeinschaft? 

Dodaj: Wir stehen im guten Dialog mit den Regierenden und arbeiten zusammen. Tatsächlich ist es eher so, dass wir die Regierung unterstützen, etwa durch unsere Strukturen, durch unsere Krankenhäuser und Schulen. Ich hoffe, dass wir demnächst Fortschritte machen, was die Restitution unseres Besitzes angeht, der uns während des Kommunismus weggenommen wurde.

„Viele junge Menschen verschiedener Konfessionen wollen getauft werden. Allein dieses Jahr haben wir in unserer Kathedrale in Tirana mehr als 60 Erwachsene getauft – von den vielen Kindern ganz zu schweigen.“

—  Zitat: Arjan Dodaj, Erzbischof von Tirana

Frage: Und wie sieht es heute mit der freien Religionsausübung aus? 

Dodaj: Sie ist voll und ganz gegeben.

Frage: Zwei Jahre nach dem Fall des kommunistischen Regimes, gingen Sie 1993 nach Italien. Weshalb? 

Dodaj: Die 90er Jahre waren gezeichnet von großer Armut und Not. Wir flohen vor dieser Situation. Aber erst in Italien erkannten wir, dass die Armut nicht nur materialistischer Natur war – der Kommunismus hatte uns auch mental arm gemacht.

Frage: Sind die Wunden der kommunistischen Diktatur in Albanien heute verheilt? 

Dodaj: Sie sind noch offen. In den 90er Jahren waren die Strukturen des Regimes noch überall sichtbar, etwa die Bunker. Heute spürt man dieses Schweregefühl immer noch. Es fehlt an Reife, Bildung, moralischer und geistiger Gesundheit – alles ein Erbe dieser Diktatur, die den Kern der Menschen verkannte.

Die Flaggen der Europäischen Union.
Bild: ©artjazz/Fotolia.com

"Die EU diskutiert viel über andere Kulturen und Identitäten, aber erkennt letztlich doch nicht die positiven Aspekte an, die Albanien hier mitbringt", sagt der Erzbischof von Tirana, Arjan Dodaj.

Frage: Bei politischen Debatten unterscheiden wir in EU-Ländern häufig zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen. Zurecht? 

Dodaj: Es sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Aber ich denke, Europa muss sie beide aufnehmen. Kriegsflüchtlingen müssen wir unser Mitgefühl entgegenbringen und auf Wirtschaftsmigranten sind wir nicht zuletzt wegen ihrer Rolle am Arbeitsmarkt angewiesen: Europa wird immer älter. Zudem helfen beide Arten von Migranten euch in der EU dabei, zu den Wurzeln eurer europäischen Identität zurückzufinden.

Frage: Albanien ist EU-Beitrittskandidat, doch der Prozess dauert bereits zehn Jahre. Was ist Ihr Wunsch? 

Dodaj: Ich wünsche mir, dass die EU erkennt, wie arm sie ohne Albanien als Mitglied wäre. Und das nicht nur aufgrund von Albaniens Geschichte, die weiter zurückreicht als jene Griechenlands. Seit 2.000 Jahren sind wir Brückenbauer zwischen dem Westen und dem Osten, ohne je einen Krieg angezettelt zu haben. Verschiedene Religionen und Volksgruppen leben hier seit Jahrhunderten zusammen. Die EU diskutiert viel über andere Kulturen und Identitäten, aber erkennt letztlich doch nicht die positiven Aspekte an, die Albanien hier mitbringt. Doch sie könnte es bereuen, wenn sie Solidarität, Großzügigkeit und Frieden, die wir in unserem Land haben, die Türen verschließt.

Frage: Dennoch verlassen viele Albaner das Land immer noch Richtung Westeuropa.

Dodaj: Sie wünschen sich eine Verbesserung ihrer Lebenssituation hier. Doch wir wachsen nicht an den Taten der anderen, sondern durch unsere eigenen. Während die deutsche und andere Regierungen ihren Beitrag leisten, sind es Albaner, die Albanien verbessern müssen.

Frage: Hat die Welt seit Ihrer Überfahrt nach Italien vor 30 Jahren in Sachen Migration dazugelernt? 

Dodaj: Die Welt hat sich verändert und mit ihr das Ausmaß von Migration. In den 90ern wurden die Grenzen zwischen Europas Westen und Osten geöffnet, später kam es zum sogenannten Arabischen Frühling. Die Menschen sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Ich glaube, dass das Gewissen der Weltgemeinschaft zwar gewachsen ist, aber nicht im gleichen Verhältnis wie diese Suche der Menschen. Wir brauchen eine stärkere Antwort.

Von Markus Schönherr (KNA)