Theologe: Zukunft der Kirche liegt im Lokalen
In Europa gehen die Zahlen der Kirchenmitglieder zurück – weltweit ist das Christentum dagegen weiter stark. Doch dabei bleiben die Strukturen nicht stabil, sondern ändern sich ständig. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich und leitet dort das Zentrum für Kirchenentwicklung, in der er nicht zuletzt zu Partizipation und Gemeindeaufbau forscht. Im Interview spricht er über die Zukunft des globalen Christentums und wie es sich verändern wird.
Frage: Herr Schlag, das Christentum weltweit ist sehr bunt: In Lateinamerika beispielsweise kommen indigene Traditionen in den Fokus, in Südkorea sprießen kleine neue Freikirchen. Lassen sich bei dieser Unterschiedlichkeit denn allgemeine Trends feststellen?
Schlag: Ein genereller Trend ist der Rückgang einer bestimmten Form institutionellen Christentums, mit klassischen Strukturen im Blick auf Hierarchie und Autoritäten. Das bedeutet auch, dass diese in der Regel etwas liberalere Spielart des Christentums weltweit zu einer Minderheitenposition zu werden scheint. Gerade wurde im Rahmen unserer Forschung eine große Arbeit zur sogenannten International Christian Fellowship ICF vorgelegt, einer evangelikalen Bewegung. Besonders in der Schweiz und in Süddeutschland zieht sie relativ große Zahlen jüngerer Leute an. Bei ihr zeigt sich eine Tendenz, die wir immer wieder entdecken: Es geht um Eindeutigkeit. Einen Anspruch auf Klarheit und Reduktion von Komplexität. Diese Bewegungen sind momentan erfolgreich – und zwar weltweit. In den USA, aber auch Südafrika und Südkorea – in diese Kontexte sehe ich etwas besser hinein – finden wir solche Bewegungen. Und das in Gesellschaften, die explizit modern und von Welterfahrung, Modernität, Globalität und Digitalität geprägt sind. Die alte These, dass eine Gesellschaft umso säkularer wird, je moderner sie wird, lässt sich jedenfalls nicht wirklich aufrechterhalten. Ich halte sie sogar schlichtweg für falsch.
Frage: Ein schlichter Glaube ist also gerade gefragt, auch in modernen Gesellschaften. Wird den Menschen die Welt zu kompliziert und suchen sie nach einfachen Antworten? Diese These gibt es auch mit Blick auf den politischen Populismus.
Schlag: Diesen Eindruck kann man tatsächlich bekommen. Eine Welt, die immer weiter beschleunigt – und dann Einschnitte wie etwa Corona. Da wollen viele Menschen einen Ort, wo hinter einer Frage nicht gleich zehn weitere lauern. Sondern dass es klare Wege gibt. Das zeigt sich auch in unserer ICF-Studie. Ich hatte vorher gedacht, dass die Leute vor allem wegen der besonderen Gemeinschaft zu dieser Freikirche gehen. Das war zwar auch wichtig, die größte Anziehungswirkung hatten allerdings offenbar die Predigten. Denn das sind nicht die klassischen liberalen Predigten mit Lehrcharakter. Sondern das sind alltagsbezogene Vorträge. Sprache und Metaphern haben ganz klar den Alltag als Fokus. Es geht darum: Wenn du diesen oder jenen Weg gehst, dann schlägst du mit Jesus Christus eine Schneise durch den Wald der Komplexität.
Frage: Bei diesen Freikirchen gibt es zwei Gruppen: Die aus Australien stammende Hillsong Church zieht vor allem Leute an, die vorher mit Religion nicht viel zu tun hatten – dementsprechend schlicht und oberflächlich sind auch die Predigten. Doch etwa in afrikanischen Ländern wenden sich viele Menschen den Freikirchen zu, die durchaus über ein stabiles Religionswissen verfügen. Wie kommt es, dass dieses Programm diese beiden so unterschiedlichen Gruppen anspricht?
Schlag: Für die, die vorher keiner kirchlichen Gemeinschaft angehört haben, ist das niederschwellig. Es ist ein elementarer Zugang, Begriffe bekommen eine Klarheit, auch für jemanden, der davon noch nie etwas gehört hat. Da werden etwa Gleichnisse oder ein Wort Jesu so attraktiv präsentiert, das hat auch etwas mit dem rhetorischen Stil zu tun. Zu den bereits kirchlich Sprachfähigen brachte die schon genannte ICF-Studie wiederum spannende Erkenntnisse: Demnach engagiert sich dort ein hoher Anteil von Hochqualifizierten. Das sind also Leute, die wissen, wie kompliziert die Welt ist. Aber die schätzen, dass in den Predigten gut und schnell fassbare, weil anschauliche Inhalte vermittelt werden. Dieser Gedanke gilt also für beide Gruppen. Es gibt da immer einen oder zwei kleine Gedanken, die man mit in den Alltag nehmen kann. Das hat also auch eine große Praxisrelevanz. Dazu kommt dann natürlich noch das soziale Netz, in dem persönliche Kontakte und Anerkennung warten. Dagegen haben viele volkskirchlichen Institutionen noch nicht begriffen, dass man Gemeinschaft nicht einfach nur als Angebot deklarieren kann, sondern sie gezielt gestalten muss. Diese Mischung aus einfachen Botschaften und dem Weg aus der Singularität der anonymen Großstadt macht den Reiz aus.
Frage: Das heißt, auch Höhergebildete wollen einmal in der Woche was zum spirituellen Abschalten haben, ohne darüber nachdenken zu müssen?
Schlag: Ja, mit allen Ambivalenzen, die das auch theologisch auslöst. Denn auch den Besuchern dort ist klar: Wenn die Welt wirklich so einfach wäre, würden sich manche Fragen nicht stellen. Es geht eher um diese Erfahrung der Klarheit und der Praxisrelevanz. Es war immer wieder eine Kritik der Evangelikalen an den etablierten Kirchen, dass zwar diese Verknüpfung von Glaube und Intellektualität spannend ist, aber ihre emotionalen Bedürfnisse nicht erfüllt.
Frage: Hat das auch mit der manchmal fast beamtenartigen Verfasstheit der etablierten Kirchenhierarchie zu tun?
Schlag: Ich glaube, es ist eher eine selbstgewählte Attitüde: Je komplizierter das Leben, desto komplizierter auch die Theologie. Es ist ein Problem, dass die etablierten Kirchen es nicht mehr schaffen, diese komplizierte Wirklichkeit herunterzubrechen und in einfache Worte zu fassen, worum es eigentlich geht. Das muss durchdacht und reflektiert sein – unter dieses Niveau würde ich nicht gehen. Aber es muss allgemeinverständlich sein. Auf die Veränderungen in der Gesellschaft haben sich die traditionellen Gemeinschaften noch nicht eingestellt. Da gibt es noch das Bild der Dienstleistungskirche, die zur Verfügung steht und darauf wartet, dass man sie braucht. Aber viele Menschen wählen heute, welche Form von Gemeinschaft und Bildung sie möchten - unabhängig von dem, was ihre Eltern- und Großelterngeneration macht. Da gibt es weltweit einen Trend hin zu kleineren, überschaubaren Gemeinschaftsstrukturen, wo sich die Leute willkommen geheißen fühlen. Das gilt nicht nur für die Kirche. Auch die moderne Stadtplanung hat festgestellt, dass Quartiere in urbanen Räumen wichtiger werden und die Leute einen Weg aus der urbanen Anonymität heraus suchen. Da müssen sich die etablierten Kirchen dringend überlegen, welche Kultur sie anzubieten haben.
Frage: Die USA scheinen da schon einen Schritt weiter zu sein: Die zentristischen Episkopalkirchen haben dort Mitte des vergangenen Jahrhunderts erheblich an Mitgliedern verloren, sie sind heute eine winzige Minderheit. Auf ihre Kosten sind evangelikale Freikirchen gewachsen. Das hat auch gesellschaftliche Folgen, etwa mit Blick auf die Polarisierung der Gesellschaft. Wird das weltweit ein Problem?
Schlag: Im Evangelikalismus gibt es momentan weltweit sehr schlechte Rollenvorbilder. Denn obwohl es auch einen Links- und Postevangelikalismus gibt, stechen doch diejenigen hervor, die ihre Rolle zweifelhaft nutzen. So haben die Evangelikalen in Südafrika die korrupte Zuma-Regierung unterstützt, jene in den USA sind das Rückgrat von Donald Trump. Doch auch abseits dessen ist die gesellschaftliche Polarisierung sichtbar, von der nicht wenige dieser Freikirchen ein Teil sind. Sie zeichnen sich durch ein jeweils sehr bestimmtes Profil aus und das lebt von Abgrenzungen. Sie streben nicht wie die etablierten Kirchen die Integration unterschiedlicher Gruppen an, sondern gerieren sich als recht exklusiv. Das trägt zur Polarisierung bei.
Frage: Haben sie damit denn einen ebenso großen Erfolg wie die etablierten Kirchen ihn einst hatten?
Schlag: Aus den Gründen, die ich gerade nannte, ist die Reputation dieser Freikirchen zumindest in westlichen Ländern nicht immer die allerbeste. Für die säkulare Welt sind diese Ansätze irritierend. Wenn einige Freikirchen wieder mit Exorzismen anfangen oder bestimmten Heilungsveranstaltungen, dann ist das natürlich sehr dubios. Dazu zählt auch die Bewegung des sogenannten "prosperity gospel", das einen seiner Ursprünge in Südamerika hat: Wem es wirtschaftlich gut geht, der hat das von Gott aus verdient – und umgekehrt. Theologisch kaum haltbar.
„Wenn einige Freikirchen wieder mit Exorzismen anfangen oder bestimmten Heilungsveranstaltungen, dann ist das natürlich sehr dubios.“
Frage: Sie haben es bereits erwähnt, neben den reaktionären Kirchen gibt es auch die progressiven. Könnte sich da mittelfristig ein Gleichgewicht entwickeln?
Schlag: Das lässt sich kaum vorhersagen. Klar ist lediglich, dass sich auch unsere Gesellschaft an diese Vielfalt von Strömungen gewöhnen muss. Momentan haben wir aber nicht so wirklich herausragende Repräsentantinnen und Repräsentanten eines solchen klaren, aber liberalen Christentums. Vielleicht noch Papst Franziskus, allerdings mit Einschränkungen. Einen Martin Luther King oder jemand ähnliches kann ich momentan nicht entdecken. Also öffentliche Personen, die aus ihrem Glauben heraus konstruktiv in die Gesellschaft hineinwirken. Wir haben gerade viele Radikale: Das gilt auch für die nationalistischen Strömungen in der orthodoxen Kirche wie auch für die Unterstützung der katholischen Kirche in Polen für die PiS, beides extrem problematisch. Dagegen stehen nur sehr wenige Vertreter eines überzeugt profilierten liberalen Christentums.
Frage: Schauen wir noch auf die Basis. Wie werden sich Gemeinden verändern?
Schlag: Diese Relokalisierung, über die wir gesprochen haben, zeigt sich auch hier: Sie sind attraktiv durch ihre Solidarität. Da wird nach denen geschaut, denen es nicht so gut geht, es gibt ein Hilfe-Netzwerk. Diese Rolle ist für die Kirchen enorm wichtig – auch für die etablierten. In Schottland zum Beispiel besuchen die Leute kaum den Gottesdienst, aber der soziale Beitrag der Kirche zur sozialen Gemeinschaft ist nicht wegzudenken – und das ist den Menschen dort auch sehr bewusst. Angesichts der gesellschaftlichen Risse wird diese Funktion wichtiger werden. Die großen Verlautbarungen, sei es von der EKD oder der DBK, werden vielleicht noch ein leises öffentliches Echo finden. Wirklich relevant wird aber der gesellschaftliche Nahraum sein. Auf diese Ebene haben die Entscheidungen der großen Kirchenführenden praktisch keinen Einfluss – zwischen den Ebenen gibt es viel zu wenig wechselseitigen Austausch.
Frage: Mit all diesen Entwicklungen im Hinterkopf ein Blick auf die etablierten Kirchen: Was sollten sie sich von den neuen charismatischen Freikirchen abschauen – und was nicht?
Schlag: Die klassischen Kirchen müssten erst einmal lernen, dass es keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt, in institutioneller wie in inhaltlicher Hinsicht. Wenn man immer noch meint, es gebe irgendeine Form von Konsens unter den eigenen Mitgliedern, dann täuscht man sich. Das gilt mit Blick auf Glaubenswissen wie auf politische oder ethische Überzeugungen. Da kommt es nun auf die Kommunikation an. Unsere Forschung zeigt, wie es bei den Freikirchen funktioniert: Eine Elementarisierung, der Bebilderung, der Veranschaulichung – ohne den Glauben zu platt zu transportieren. Sie nutzen die Kommunikationsformate, die die Menschen auch ansprechen. Für die etablierten Kirchen stellt sich also die Frage der Ressourcenallokation. Da müsste mal kritisch drauf geschaut werden, wie viel Geld man eigentlich für welche Formate ausgibt und wie erfolgreich die dann sind. Was geht nur nach innen und wo gehen wir auch wirklich nach außen?
Frage: Dagegen würde sprechen, dass in der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung etwa auf katholischer Seite 94 Prozent der Kirchenmitglieder gesagt haben, dass sie sich interne Reformen wünschen, Stichwort nicht-heterosexuelle Menschen und die Rolle von Frauen. Schließt sich das mit dem, was sie mit dem Blick nach außen gesagt haben, nicht aus?
Schlag: Es geht darum, worüber am Ende diskutiert wird. Die Frage nach Frauen und Minderheiten ist eine Debatte, die Menschen innerhalb, aber auch außerhalb der Gemeinschaften beschäftigt. Das ergibt Sinn, das auszudiskutieren. Was ich mit internen Diskussionen meinte, war eher die Beschäftigung der internen Bürokratie, der Hierarchie, der "Verrechtlichung" von Kirche ganz allgemein. Die sind unproduktiv und machen Kirchen schwerfällig. Das gilt übrigens für Geweihte wie Laien gleichermaßen. Ich sitze selbst in der Synode hier in Zürich. So eine parlamentarische Kultur ist extrem wichtig, aber was wir da besprechen, ist in den Augen der meisten Menschen nicht das entscheidende Merkmal einer Kirche, der sie sich zuwenden könnten.
Frage: Das heißt aber auch: Das Christentum hat eine Zukunft.
Schlag: Unbedingt. Dass der Glaube mit zunehmender Modernität abnimmt, hat sich nicht bewahrheitet. Theologisch ist mir nicht bange, dass wir eine Zukunft des Christentums haben werden, da dürfen wir uns nicht zu sehr von den europäischen Entwicklungen blenden lassen, die den Eindruck erwecken, das Christentum strebe sicher seinem Untergang zu. Schwierig wird es mit der Verortung dieses Christentums: Wie wird es politisch agieren, wie geht es mit Minderheiten um? Gerade die Lage von religiösen Minderheiten weltweit hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich verschlechtert. Das hat sich zuletzt auch mit bestimmten Zuspitzungen der Mehrheitsgemeinschaften zu tun. Gleichzeitig versuchen politische Kräfte, diese religiösen Eindeutigkeiten für sich zu nutzen. Da kann man nur hoffen, dass es unter den christlichen Gemeinschaften auch klare Signale gibt, die positiv in die Gesellschaft hineinwirken, die Verantwortung übernehmen über ihre eigene Blase hinaus. Momentan versuchen viele Freikirchen, aus ihren Ansichten Politik zu machen, man sehe sich nur Gesetzesinitiativen zu Frauenrechten und Minderheitenrechten an. Da geht es nicht darum, was für die Gesellschaft zu machen, sondern eigene Positionen durchzudrücken, im Zweifel auch gegen eine freiheitliche und vielfältige Gesellschaft.
Frage: Gibt es diese gesellschaftsübergreifenden Positionen?
Schlag: Das Protestantismus war von Beginn seiner Geschichte an in kleineren Gemeinschaften organisiert. Dagegen setzte die katholische Kirche bis heute auf die Zentrale im Vatikan – und das tut sie nicht ohne Erfolg. Dazu finde ich solche zentralen Amtsstrukturen oft transparenter als in einer Freikirche, wo offiziell oft alle gleich sind, aber doch am Ende alles bei einem Guru zusammenläuft und die Entscheidungsfindung der Spitze völlig undurchsichtig ist. Dagegen schafft es die katholische Kirche zumindest in einigen Regionen der Erde, stabile Strukturen aufrechtzuerhalten. Meines Erachtens hängt es ganz entscheidend vom nächsten Papst ab, in welche Richtung sich die katholische Kirche entwickelt. Ob sie sich weiter für die Welt interessiert oder sich in sich selbst zurückzieht. Man darf also gespannt sein – die Zeit der großen Kirchen ist vermutlich noch nicht überall und nicht für immer vorbei.