Verkündigungs-Forscherin: Übliches Predigt-Muster funktioniert nicht
2024 wird Jubiläum gefeiert: 100 Jahre Verkündigung im Radio. 1924 liefen auf den frisch gegründeten deutschen Radiosendern die ersten kirchlichen Sendungen. Die Germanistin Anna-Maria Balbach leitet an der Universität Münster das Projekt "Sprache und Konfession im Radio" und hat etwa 3.000 Ausgaben des Verkündigungsformats "Kirche in 1Live" beim Jugendsender des WDR analysiert. Im Interview spricht sie über ihre Ergebnisse.
Frage: Frau Balbach, Sie haben etwa 3.000 Folgen von "Kirche in 1Live" analysiert. Wie wird dort über Glauben gesprochen?
Balbach: Die erste Erkenntnis ist: Es wird über den Glauben gesprochen. Das ist allein schon bemerkenswert, denn 1Live ist ein Jugendsender mit einer Zielgruppe von Menschen zwischen 14 und 32 Jahren. Aus soziologischen Studien wissen wir, dass in dieser Altersgruppe ganz andere Dinge interessant sind als Religion. Dennoch wird in den Verkündigungssendungen über Gott gesprochen. Wir haben die Manuskripte der etwa 3.000 Sendungen computergestützt analysiert und dabei festgestellt: Das häufigste Nomen ist "Gott". Er ist das Hauptthema, über das gesprochen wird.
Frage: Nun wird die Gesellschaft immer säkularer. Zeigt sich diese Entwicklung auch in der Radioverkündigung?
Balbach: Wir feiern in diesem Jahr hundert Jahre Radiopredigten, deshalb haben wir uns auch historische Radiopredigten angeschaut. Das war nicht einfach, weil man das Radioprogramm erst seit einigen Jahrzehnten mitschneidet. Im Archiv des Bistums Münster haben wir dann aber allerhand Radiopredigten aus den 1920er, 1930er und 1940er Jahren gefunden und konnten kleine Analysen damit machen. Dabei fiel als erstes auf, dass diese alten Texte für den heutigen Menschen eher befremdlich klingen, weil ihre Sprache für uns pathetisch und überladen erscheint. Das gilt für die Zeit vor 90 oder 100 Jahren aber generell, also auch etwa für alte Zeitungsartikel. Denn Sprache ändert sich. Was trotz dieser Veränderungen aber spannend war: Dass "Gott" das häufigste Nomen war, gilt für die Radiopredigten aus den 1930er Jahren wie für die heutigen, ebenso die Plätze zwei und drei: Mensch und Leben. Die Inhalte sind also gleich geblieben, aber der Sprachstil ist anders. So gibt es in den alten Texten viel mehr lateinische Ausdrücke und theologisches Fachvokabular. Denn früher wurden meist normale Sonntagspredigten gesendet, heute gibt es ja eigene Texte für das Radio. Das Publikum dort ist schlicht ein anderes als in der Kirche. Das hat man aber erst sehr spät erkannt und umgesetzt. Erst ab den 1980er Jahren, als der private Rundfunk entstand und es Konkurrenz unter den Radiosendern gab, sehen wir, dass die Kirchen ihre Radiopredigten mehr auf das Publikum zuschneiden und nicht in erster Linie absenderorientiert formulieren. Denn dann kam es auf einmal darauf an, dass auch Leute einschalten und nicht zu einem anderen Sender wechseln. Allerdings waren das langsame Veränderungen. Bis in die 1990er Jahre haben die Texte immer noch starke Ähnlichkeiten mit klassischen Predigten. Erst dann etablieren sich eigene Rundfunkformate. Seitdem spricht man auch nicht mehr von Radiopredigt, sondern von Radioverkündigung.
Frage: Konnten Sie im Verlauf dieser 3.000 Folgen auch Veränderungen feststellen? 3.000 Folgen bei einem täglichen Format sind immerhin zehn Jahre.
Balbach: Da sind vor allem Unterschiede zwischen den Konfessionen aufgefallen, oder besser gesagt, dass sich diese Unterschiede auflösen. Vor zehn Jahren hatten die Katholiken noch einen viel religiöseren Wortschatz als die Protestanten. In beiden Konfessionen wurde am meisten über Gott gesprochen. Darüber hinaus ging es bei den Katholiken aber noch um viele andere Dinge: Heilige oder Festtage zum Beispiel. Das hat sich über die Jahre angeglichen, sodass wir in beiden Konfessionen heute einen in etwa gleich großen religiösen Wortschatz haben.
Frage: Das heißt, die Sendungen sind niedrigschwelliger geworden?
Balbach: Zwar geht der religiöse Wortschatz zahlenmäßig zurück. Aber man kann religiöse Themen auch anders vermitteln. Das lässt sich aber schwerer nachweisen.
Frage: Sie haben die Unterschiede zwischen den Konfessionen schon angesprochen. Was lässt sich darüber noch sagen?
Balbach: Wenn man sich die fünf häufigsten religiösen Wörter in den Texten anschaut, sieht man, dass "Gott" bei beiden gleich war, ebenso das Verb "glauben" auf dem zweiten Platz. Aber dann kam an dritter Stelle "Bibel" bei den Evangelischen und "Kirche" bei den Katholiken. Da sieht man die typischen konfessionellen Schwerpunkte, dass also die Katholiken eher Wert auf die kirchlichen Traditionen legen und die Protestanten eher auf das Wort schauen. Wir haben uns auch mit einer Kookkurrenzanalyse beschäftigt, also geschaut, welche Wörter gemeinsam oder in der Nähe voneinander auftreten. Bei den Katholiken war beispielsweise ganz oft von "mein Gott", „mein Glaube“ oder "meine Kirche" die Rede, es ging also um eine persönliche Gottes- und Glaubensbeziehung. Diese Wortverbindungen waren auf evangelischer Seite nicht so ausgeprägt. Da traten eher Wortverbindungen wie "mein Freund" oder „meine Familie“ auf, also persönliche Beziehungen zu anderen Menschen, aber auch „Jesus sagt“ oder „In der Bibel steht“. Hier wurde also entweder über zwischenmenschliche Erlebnisse oder Bibelgeschichten von Gott und dem Glauben erzählt. Das liegt auch daran, wie das Format produziert wird. Bei den Katholiken gibt es ein festes kleines AutorInnenteam, das die eigenen Beiträge selbst einspricht. Hierzu passt es, wenn man in der Ich-Perspektive spricht und "mein Glaube", "mein Gott" oder "meine Kirche" formuliert. Bei den Evangelischen gibt es ein größeres Team und die Texte werden von professionellen Sprechern eingelesen. Zu dieser Diskrepanz von AutorInnen und SprecherInnen passt die Ich-Perspektive nicht. Es ist also nur logisch, stattdessen über Erlebnisse mit Freunden und Familie zu sprechen oder Bibelgeschichten heranzuziehen. Es sind also auch unterschiedliche Produktionsbedingungen, die zu unterschiedlichem Sprachgebrauch führen, um in beiden Fällen authentisch zu sein.
Frage: Sie haben auch untersucht, wie diese Verkündigungssendungen bei jungen Menschen ankommen. Was waren da die Ergebnisse?
Balbach: Wir haben eine kleine Umfrage mit 100 Studierenden gemacht. Wir haben ihnen Radiopredigten gegeben ohne die Konfession dabei zu nennen und haben ihnen Fragen dazu gestellt. Zunächst sollten sie die Konfession raten, das hat erstaunlich gut geklappt. Dann sollten sie die Botschaft erkennen und ob sie denken, dass das relevant für ihr Leben ist oder sie die Hinweise darin sogar umsetzen würden. Dabei kam heraus: Je positiver die Sprache, desto eher kam die Botschaft an und wurde auch angenommen oder sogar umgesetzt. Wenn es aber negativ anfing, um dann später positiv zu enden, hat das nicht funktioniert und die Botschaft ist nicht so gut hängen geblieben.
Frage: Aber so sind ja viele Predigten aufgebaut: Zuerst wird etwas Negatives geschildert, zu dem dann der Glaube die Lösung geben soll. Dieses Muster funktioniert also nicht?
Balbach: Genau. Wenn erst viel Negatives gesagt wird, kann das kaum mehr aufgewogen werden. Dazu haben wir uns auch Studien aus anderen Bereichen angeguckt und festgestellt, dass sich diese Forschungsergebnisse mit unseren decken. Erkenntnisse aus der Neurolinguistik und Psychologie über die Auswirkungen positiver und negativer Wörter werden zum Beispiel schon lange in der Werbung oder für die Ehe- und Paartherapie genutzt. Eine Studie aus Kalifornien konnte nachweisen, dass negative Wörter eine sehr viel stärkere und länger anhaltende Wirkung in unserem Gehirn hervorrufen als positive Wörter. Dieser Effekt konnte nicht nur im MRT sichtbar gemacht, sondern auch biochemisch nachgewiesen werden, da sowohl das Lesen als auch das Hören negativer Wörter die Produktion des Stresshormons Kortisol bei den Probanden ansteigen ließ. Positive Wörter hingegen, so fanden die Forscher heraus, animierten den Körper, Dopamin und Oxytocin auszuschütten. Beide Stoffe sind auch als Glückshormone bekannt und können neben einem Gefühl des Wohlbefindens auch für eine erhöhte kognitive Leistungsfähigkeit sorgen. Das Experiment zeigte darüber hinaus, dass die Wirkung der negativen Wörter auf die Probanden drei Mal so stark war, wie die Wirkung der positiven Wörter. Anschlussexperimente bestätigten dies, da die Probanden mindestens drei positive Gefühle lesen, hören oder denken mussten, um die Wirkung eines negativen Gefühls aufzuheben. In der Werbung nutzt man dieses Wissen dazu, negative Wörter grundsätzlich zu vermeiden, da man nur positive Gefühle auslösen möchte. In der Paartherapie führt diese Erkenntnis dazu, dass nach einem Streit viel positive Sprache nötig ist, um das vorher Gesagte wieder vergessen zu machen. Das gleiche gilt natürlich auch für die Verkündigungstexte. Deswegen ist es ganz schwierig, diese Zweiteilung bei Verkündigungstexten einzusetzen – denn hängen bleibt oft das Negative.
Frage: Nun heißt es, Menschen heute haben weniger religiöses Wissen als früher. Konnten Sie das im Umgang mit den Texten auch feststellen?
Balbach: Zum religiösen Wissen allgemein kann ich aus unserer Umfrage nichts sagen. Aber die Studierenden hatten unter anderem die Aufgabe, religiöses Vokabular in den Texten zu erkennen. Das wurde überall erkannt. Das heißt also, dass etwa bei 1Live nur Wortschatz verwendet wird, der auch allgemein verstanden wird. Also von kirchennahen wie kirchenfernen Menschen.
Frage: Man kann also in diesem Fall von einem erfolgreichen Verkündigungsformat sprechen?
Balbach: Das würde ich aus sprachlicher Sicht tatsächlich so sagen. Die Menschen konnten mit dem Vokabular umgehen, haben die Botschaften erkannt und hielten sie bei positiven Beiträgen sogar für relevant. Die Autorinnen und Autoren da machen also einen guten Job.
Frage: Nach Ihren Forschungen: Wie kann man erfolgreich von Gott sprechen?
Balbach: In unseren Sprachanalysen der Radiopredigten aus verschiedenen Sendern sehen wir, dass diese Frage auch für jeden Sender beziehungsweise für jedes Zielpublikum unterschiedlich beantwortet werden muss. Im Jugendsender 1LIVE zum Beispiel führen andere Dinge zum Erfolg als im Sender WDR4 für die Generation 55+. In beiden Fällen muss man die Mediennutzergruppen genau vor Augen haben und seine Botschaft daraufhin überprüfen, was inhaltlich relevant für genau diese Hörergruppe ist. Wie man das Relevante dann sprachlich ansprechend, verständlich und authentisch rüberbringt, ist der nächste Schritt.
In unseren Analysen haben wir gesehen, dass es dafür auch konfessionell unterschiedliche Wege geben kann, die zum Ziel führen. Das ist ja das Schöne an Sprache, sie ist so vielfältig. Aber es gibt natürlich auch ein paar Aspekte, die man generell beachten sollte. Durch unsere kleine Umfrage zur Sprache der Radiopredigten konnten wir herausstellen, dass das Vokabular, vor allem das religiöse Vokabular, verständlich sein muss. Ein jugendliches Publikum wie bei 1LIVE braucht kein theologisches Fachvokabular. Darüber hinaus konnten wir feststellen, dass Radiobeiträge mit emotionaler und bildreicher Sprache, die positive Gefühle und Assoziationen weckt, besonders gut ihre Botschaft übermitteln konnten. Die Frohe Botschaft lässt sich anscheinend auch sprachlich am besten als frohe Botschaft verkündigen.