Ukrainischer Bischof: Es scheint, als ob der Papst uns nicht versteht
Immer wieder sorgen Äußerungen von Papst Franziskus zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine international für Verstimmungen. Im vergangenen Jahr würdigte er vor russischen Jugendlichen Peter den Großen und Katharina die Große, am Karfreitag beim Kreuzweg am Kolosseum seien durch das gemeinsame Auftreten eines Ukrainers und eines Russen Opfer und Täter gleichgesetzt worden, immer wieder vermissen Kritiker in Aufrufen zur Diplomatie klare Aussagen zur Verantwortung Russlands und seines Präsidenten Wladimir Putin. Jüngst sorgten Teile eines Interviews für Aufsehen, in denen der Papst den Ukrainern "Mut zur weißen Flagge" ans Herz legte – ein internationaler Aufschrei folgte, auch die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) ging auf Distanz zu den Worten. Im Interview mit katholisch.de schildert der Apostolische Exarch für die Ukrainer des byzantinischen Ritus in Deutschland und Skandinavien, Bischof Bohdan Dzyurakh, wie die Äußerungen des Papstes bei seinen Landsleuten ankommen, wie er den Weg zu einem gerechten Frieden sieht – und warum er an die christliche Seele Europas glaubt.
Frage: Bischof Bohdan, wir kennen noch nicht das ganze Interview von Papst Franziskus, aber wir kennen das Zitat, in dem der Papst die Ukraine zum "Mut zur weißen Flagge" auffordert. Was haben Sie gedacht, als Sie dieses Zitat gehört haben?
Bischof Bohdan Dzyurakh: Natürlich sehnen wir uns alle nach Frieden und hoffen auch auf die zukünftige Versöhnung zwischen den Völkern der Ukraine und Russlands. Die Ukrainer zeigen seit über zwei Jahren Entschlossenheit und Mut, über die die ganze Welt staunt. Aber wir müssen uns auch fragen, was die andere Seite mit den "Verhandlungen" meint, und ob es ein Teil von deren gesamter todbringender Strategie ist, weil Propaganda zu einer der wichtigsten Waffen in den Händen des Kreml-Herrschers geworden ist. Wir müssen uns also fragen, ob Putin und seine Komplizen bereit sind, die Ukraine als unabhängigen Staat zu betrachten und anzuerkennen, unser Recht auf eigene Existenz zu respektieren und die schweren Verbrechen gegen unser Volk und gegen die gesamte internationale Friedensordnung, die sie begangen haben, zu bereuen. Wenn das nicht der Fall ist, scheint jede Verhandlung eher zu früh, wenn nicht sinnlos.
In der Ukraine kämpfen wir um unser Leben, unsere Existenz, unsere Zukunft, unsere Freiheit und Würde. Putin will uns vernichten. Das ist das Ziel, das er immer wiederholt. Da frage ich mich dann: Ist es jetzt der richtige Moment, mit Verhandlungen zu beginnen? Wird der Angreifer, der auf seine Pläne bis jetzt gar nicht verzichtet hat, nicht eher jede Pause dazu nutzen, sich noch mehr aufzurüsten und sich auf weitere Angriffe vorzubereiten?
Frage: Wie reagieren die Menschen in der Ukraine auf die jüngste Aussage des Papstes?
Bohdan: Viele fühlen sich durch die Aussagen verletzt und bringen ihre Enttäuschung und Empörung auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Es scheint, als ob der Heilige Vater uns nicht versteht, und es ist schmerzhaft und bedauernswert, wenn solche Gefühle oder ein solcher Verdacht entstehen.
Zur Person
Bischof Bohdan Dzyurakh ist seit Februar 2021 Apostolischer Exarch für die Ukrainer des byzantinischen Ritus in Deutschland und Skandinavien. Er steht damit den mit dem Papst in Gemeinschaft stehenden katholischen Ukrainern des ostkirchlichen Ritus in Deutschland, Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden vor. Er ist beratendes Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und gehört der Ständigen Synode der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche an, dem höchsten Gremium der Kirche zwischen den Sitzungen der Bischofssynode.
Frage: Im vergangenen Jahr hat die Synode der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche in Rom getagt. Dabei hatten Sie auch die Gelegenheit, mit Papst Franziskus direkt zu sprechen. Haben Sie den Eindruck, dass er Ihr Anliegen und Ihre Situation versteht?
Bohdan: Für das gegenseitige Verständnis ist der Dialog von großer Bedeutung. Deshalb haben wir uns sehr über die Möglichkeit gefreut, dem Heiligen Vater begegnen und mit ihm ein offenes und ehrliches Gespräch führen zu dürfen. Wir konnten dem Papst sowohl unsere Dankbarkeit für sein Engagement für den Frieden, für die Befreiung der gefangenen Ukrainer und der zwangsdeportierten Kinder ausdrücken, als auch die Sorge und die Fragen der ukrainischen Gesellschaft nahe bringen und erklären.
Ich bin überzeugt, dass ein solcher Meinungsaustausch wie damals und eine bessere Kommunikation in Zukunft uns allen sehr gut tun könnte. Außerdem wäre es wünschenswert, die geschichtlichen Kenntnisse im Westen mehr zu verbreiten, auch innerhalb der katholischen Kirche. Vielen hier ist zum Beispiel wahrscheinlich nicht bekannt, wie rücksichtslos die russischen Herrscher der Vergangenheit - aber auch heute - die katholische Kirche unterdrückt haben. Peter der "Große" hat etwa vier unserer griechisch-katholischen Basilianermönche eigenhändig am 11. Juli 1705 in der Hl.-Sophia-Kathedrale von Polotsk getötet hat. Aber es gibt auch viele heilige Persönlichkeiten in der russischen Geschichte, die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen als Vorbild dienen könnten.
Frage: Was wünschen Sie sich vom Papst?
Bohdan: Wir schätzen seine Stimme als die des obersten Hirten der katholischen Kirche und eine der größten moralischen Autoritäten der heutigen Welt sehr. Deshalb sind vielleicht auch die Erwartungen an ihn seitens unseres Volkes so hoch. Mir persönlich gefällt seine Einladung, die er an die Bischöfe und an die Priester öfter richtet, mit der Sprache des Evangeliums und nicht mit der Sprache der Politik zu sprechen. Eine solche Sprache verletzt nicht, sie heilt, vereinigt, ermutigt, bringt Hoffnung.
Die Kirche kann nicht und soll nicht der Wirklichkeit entfliehen, sondern sie im Lichte des Evangeliums betrachten und bewerten. Dies, vermute ich, erhoffen sich die Menschen von heute von uns, insbesondere die jüngeren Menschen, in deren Händen die Zukunft der Kirche und der Gesellschaft auf unserem Kontinent in Kürze liegen wird.
Dazu gehört auch der Mut, die Wahrheit zu erkennen und in der Wahrheit zu handeln. Und dies setzt die Bereitschaft voraus, die Fehler und die Verbrechen des eigenen Volkes zu erkennen und zu benennen und die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen, um die lebensspendende Lehre aus der Geschichte zu ziehen und nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Das russische Volk und insbesondere die russische Jugend auf eine solche evangeliumsgemäße Perspektive hinzuweisen, könnte meiner Meinung nach einen wertvollen Dienst darstellen. Es wäre eine prophetische Stimme der katholischen Kirche, die für die gesamte Menschheit sehr hilfreich wäre.
Frage: Auch in Deutschland gibt es orthodoxe Gläubige, die zum Moskauer Patriarchat gehören. Wie sind da die Beziehungen zur ukrainischen Kirche?
Bohdan: Wir haben bis jetzt keine Beziehungen gehabt. Die russische orthodoxe Kirche betrachtet uns sowohl in der Ukraine als auch im Ausland nicht als ein Subjekt des Dialoges und der geschwisterlichen Beziehungen. Deshalb ist ein ökumenischer Dialog mit dieser Kirche derzeit eher schwierig vorstellbar. Andererseits ist jetzt die Zeit der Wahrheit. Und die Wahrheit ist, dass während wir in der Ukraine und im Ausland versuchen, unser Volk zu begleiten und zu verteidigen, die Führung der russisch-orthodoxen Kirche diesen Krieg nicht nur gesegnet hat – was in sich eine Blasphemie darstellt –, sondern auch für die Begründung und Rechtfertigung dieses Krieges eine menschenverachtende und gottlose Ideologie der russischen Welt – "Russkij mir" – geliefert hat.
Ein Dialog in Wahrheit und Liebe ist nur in Ehrlichkeit möglich. Und da sehe ich momentan keine Bereitschaft bei den Vertretern des Moskauer Patriarchats. Solange das nicht geht, würde jeder Dialog nur zusätzliche Schmerzen bringen. Das wollen wir unseren Landsleuten ersparen. Es ist nicht angezeigt, im Namen eines oberflächlichen Ökumenismus die tiefen Verletzungen unseres Volkes zu relativieren. Wir nehmen auch wahr, dass viele, die in der Ukraine zur orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats gehören, jetzt im Ausland diese Kirche verlassen und ihre geistliche Heimat in anderen Gemeinschaften finden, sei es die katholische Kirche, seien es protestantische Gemeinden.
Frage: Welchen Weg zum Frieden sehen Sie?
Bohdan: Während Kriege von Menschen mit verdorbenen Herzen ausgelöst werden, kommt der echte und dauerhafte Frieden von oben, von Gott. Deshalb vereinen sich die gläubigen Menschen sowohl in der Ukraine als auch weltweit jeden Tag im beharrlichen Gebet für den Frieden, das einst sicher segensreiche Früchte bringen wird.
Aus rein menschlicher Sicht gibt es leider keinen einfachen Weg zum Frieden. Das ist kein Hollywood-Film, wo sich durch eine Heldentat plötzlich alles zum Guten wendet. Der Krieg ist eine große Tragödie, und wir werden seine Last noch lange tragen müssen. Die Gabe des Friedens verlangt menschliche Bemühungen und menschliches Engagement. Nicht umsonst sind im Evangelium die Friedensstifter von Jesus selig genannt worden. Deshalb muss jeder und jede einen eigenen Beitrag zum Frieden leisten.
Unsere Landsleute sind weiterhin auf die Hilfe und Solidarität unserer Geschwister im Glauben angewiesen. Die Langmütigkeit der Liebe ist notwendig, von der der heilige Paulus im ersten Korintherbrief spricht. Der Aggressor hofft, dass wir Christen und die Menschen guten Willens müde werden, das Gute zu tun, während er weiter skrupellos und straflos seine Verbrechen begeht. Das dürfen wir nicht zulassen. Wenn wir an unserer Solidarität festhalten, dann können das Gute, die Liebe, die Wahrheit und die Gerechtigkeit das letzte Wort in dieser Tragödie haben. Nur so kommen wir zu dem Frieden, auf den wir alle hoffen.
Frage: In Deutschland sind viele Menschen aus der Ukraine angekommen, die hier Zuflucht suchen. Wie steht es hier um die Solidarität?
Bohdan: Es wird schon sehr viel getan! Die Gastfreundschaft, die Großzügigkeit, die Solidarität der deutschen Katholiken und aller Menschen guten Willens haben uns tief berührt. Ich danke allen, die uns helfen, beistehen und für uns beten. Diese Güte werden wir nie vergessen. Ich erzähle Ihnen nur ein Beispiel: Ein 60-jähriger Mann aus Charkiw wurde in einer kirchlichen Einrichtung in Deutschland aufgenommen und dort sehr freundlich und liebevoll behandelt. Der Leiter der Einrichtung hat sogar zum Geburtstag dieses Mannes ein kleines Fest organisiert. "So eine Liebe habe ich noch nie erfahren", hat der Mann gesagt, und hinzugefügt, dass er schon "halb katholisch" geworden sei, weil die Katholiken so gut zu ihm sind. Es geht natürlich nicht darum, Menschen katholisch zu machen, das bleibt eine ganz persönliche Entscheidung eines jeden einzelnen. Es geht uns allen viel mehr darum, die Liebe Gottes weiterzuschenken und unseren lebendigen Glauben zu teilen und zu bezeugen – in diesem Fall mehr mit Werken als mit Worten. Solche "Verkündigung" sehe ich überall in Deutschland. Das beeindruckt mich, und das weckt in mir und in unseren Landsleuten Hoffnung. Für mich ist das auch der Beweis dafür, dass Europa seine christliche Seele nicht verloren hat.