Verpflichtende Ehelosigkeit erzeuge starke Spannung

Priester Rothe: Fast alle Kleriker bis zum Papst leben nicht zölibatär

Veröffentlicht am 18.03.2024 um 10:56 Uhr – Lesedauer: 

München/Zürich ‐ Nach Ansicht des Münchner Priesters Wolfgang F. Rothe lebt "bis zum Papst" kaum ein katholischer Geistlicher vollständig zölibatär. Dies gelte "definitiv" auch für ihn selbst. Zur Begründung verwies Rothe darauf, wie die Kirche den Zölibat verstehe.

  • Teilen:

Der Münchner Priester Wolfgang F. Rothe ist davon überzeugt, dass kaum ein katholischer Geistlicher vollständig zölibatär lebt. Da die katholische Kirche unter dem Zölibat die "vollkomme und immerwährende Enthaltsamkeit" von jedweder Art sexueller Aktivität verstehe, sei damit "genau genommen sogar schon ein verstohlener Seitenblick auf eine Person, die man als sexuell anziehend empfindet, ein Zölibatsverstoß", sagte Rothe am Sonntag in einem Interview mit dem katholischen Schweizer Internetportal kath.ch. In diesem Sinn lebe er definitiv nicht zölibatär – "genauso wenig wie vermutlich nahezu alle anderen katholischen Kleriker vom Kaplan bis zum Papst. In diesem Sinn zölibatär zu leben, ist nämlich so gut wie unmöglich", so der Priester.

Rothe bezeichnete den Zölibat als "Risikofaktor für sexuellen Missbrauch". Wer zum Zölibat verpflichtet sei, obwohl er ganz normale sexuelle Empfindungen habe und diese eigentlich auch gerne ausleben würde, erlebe eine starke Spannung. "Auf der einen Seite soll er leben wie ein Engel. Auf der anderen Seite hat er ganz normale sexuelle Bedürfnisse." Weil Zölibatsverstöße nicht nur sündhaft, sondern unter Umständen auch kirchenrechtlich strafbar seien, müssten sie zwangsläufig im Geheimen erfolgen. "Und wen kann man am leichtesten zum Schweigen bringen? Richtig: Kinder, Jugendliche und andere mehr oder weniger schutzlose Personen", sagte der Priester. Die Glaubwürdigkeit der Missbrauchsaufarbeitung müsse sich daran messen lassen, ob und inwieweit die Kirche bereit sei, die Zölibatspflicht abzuschaffen. "Anders ausgedrückt: Wer an der Zölibatspflicht festhalten will, muss sich meines Erachtens vorwerfen lassen, nicht genug gegen sexuellen Missbrauch zu tun."

Angesprochen auf seine eigene Rolle sagte Rothe, dass er sich, gerade weil er Priester sei, verpflichtet fühle, das Versagen und die Mängel der Kirche offen beim Namen zu nennen. "Die Kirche ist in der Tat eine Täterorganisation. Denn viele Missbrauchstäter haben ihre Taten nur begangen, weil sie sie begehen konnten. Weil ihnen die Kirche ein Umfeld geboten hat, in dem sie sicher sein konnten, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden." Manches habe sich mittlerweile zum Besseren verändert, aber längst nicht alles. "Die Spannung, einer Täterorganisation nicht nur anzugehören, sondern auch für sie zu arbeiten, muss ich, so schwer mir das mitunter auch fällt, aushalten. Ich tue das, weil man von innen heraus weit besser zur Veränderung einer Organisation wie der katholischen Kirche beitragen kann als von außen." Er sei nach wie vor gerne Priester. "Wenn ich hinschmeißen würde, täte ich nämlich denjenigen den allergrößten Gefallen, die der Grund für mein Hinschmeißen wären." (stz)