Dogmengeschichtlerin sieht Vatikan-Dokument "Dignitas infinita" kritisch

Werner: Kirche ruft nach Menschenrechten und verwirklicht sie nicht

Veröffentlicht am 09.04.2024 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Bochum ‐ Die Erklärung "Dignitas infinita" stellt die UN-Menschenrechtserklärung in die Kontinuität der Gottesebenbildlichkeit. Die Bochumer Dogmatikerin Gunda Werner ist im Interview nicht überzeugt von der Erklärung – sie vermisst eine ehrliche Selbstreflexion der Kirche.

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Mit der Erklärung "Dignitas infinita" will der Vatikan die Menschenwürde ins Zentrum stellen – 75 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Schon immer sei die Menschenwürde der Leitstern für die Kirche gewesen, liest man in dem Dokument. Dass die Kirche aber lange Zeit Menschenrechte verdammte und erst 15 Jahre nach der UN-Erklärung ein positives Verhältnis zu ihnen fand, bleibt außen vor. Die Bochumer Professorin für Dogmatik und Dogmengeschichte Gunda Werner sieht daher keinen Fortschritt in der Erklärung. Im Gegenteil: Immer noch setze die Kirche sich nicht mit ihrer eigenen Schuldgeschichte der Diskriminierung und Verletzung von Menschenrechten bis heute auseinander.

Frage: Frau Professorin Werner, in der Erklärung "Dignitas infinita" wird dargelegt, dass die Kirchen von Anfang an für die Menschenwürde eingestanden ist. Können Sie als Dogmengeschichtlerin das bestätigen? 

Gunda Werner: Das Papier geht hier sehr geschickt vor, indem es die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt und nicht die Menschenrechte. Tatsächlich kann man unter Verweis auf das Buch Genesis gut argumentieren, dass angesichts der Gottesebenbildlichkeit des Menschen das Thema schon immer im Mittelpunkt stand. Genesis 1, 26–27, also die Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes und als männlich und weiblich, wird als argumentativer Dreh- und Angelpunkt gesetzt. Man hat fast den Eindruck, dass das wichtiger als das Evangelium ist. Mit Blick auf die Theologie- und Dogmengeschichte ist es aber Augenwischerei, so zu tun, als habe Würde immer im Zentrum kirchlicher Argumentation gestanden. Wenn die Kirche in ihrer Geschichte über Würde gesprochen hat, dann ging es kaum um die Würde aller Menschen. Stattdessen ging es vor allem um die Würde des Mannes.

Frage: Die Menschenrechte kommen aber doch prominent vor: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird stark gemacht. 

Werner: Völlig ausgeblendet wird aber, dass die Kirche bis 1963 – in der Enzyklika "Pacem in terris" von Johannes XXIII. gab es einen positiven Bezug auf die Menschenrechte – ausdrücklich gegen die Menschenrechte argumentiert hat. Und jetzt tut das Glaubensdikasterium so, als sei man schon immer auf der Seite der Menschenrechte gewesen, und die Welt und die Gesellschaft habe erst 1948 nachgezogen. 

Zur Person

Gunda Werner ist seit 2018 Professorin für Dogmatik, zuerst in Graz, seit 2022 in Bochum. Dort hat sie den Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte inne. Seit 2019 ist sie Vorsitzende des Forums katholischer Theologinnen AGENDA.

Frage: Ihr Münsteraner Kollege Michael Seewald spricht von "Techniken zur Errichtung von Kontinuitätsfassaden", um eine Entwicklung der Lehre der Kirche zu rechtfertigen. Ist das hier auch so ein Fall, wo mit konstruierter Kontinuität etwas Begrüßenswertes erreicht wird? 

Werner: Das Dokument spricht natürlich wichtige und drängende Themen an. Dass die Kirche Gewalt in der digitalen Welt thematisiert und ablehnt etwa, dagegen kann niemand etwas haben. Es ist auch gut, dass Gewalt gegen Frauen und Menschenhandel ausdrücklich angesprochen werden. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier eine Organisation auf die Menschenrechte beruft, die die Menschenrechte selbst bis heute nicht für sich ratifiziert hat. In vielen Punkten ist damit die Erklärung einfach nicht ehrlich. 

Frage: Können Sie einen Punkt herausgreifen? 

Werner: Unter der Nummer 43 geht es um sexuellen Missbrauch. Dieser Abschnitt ist erstaunlich knapp – anderen Themen wie Armut oder Abtreibung werden mehrere Absätze gewidmet, der sexuelle Missbrauch wird in vier Sätzen abgehandelt. Das alleine ist schon eine Unverhältnismäßigkeit, bevor man sich den Text genauer anschaut. Über die Betroffenen wird darin gesagt, dass sie sich zutiefst in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen. An anderen Stellen wird festgestellt, dass Würde verletzt wird, hier wird nur eine subjektive Perspektive anerkannt. Missbrauch wird als Hindernis für die Sendung der Kirche erkannt, aber dass es innerhalb der Kirche vielleicht Strukturen gibt, die Missbrauch begünstigen, kommt nicht vor. Eine Wendung des Blicks nach innen fehlt völlig, das eigene Handeln der Kirche bleibt unreflektiert. Es werden keine Ursachen genannt.

Frage: Zentral sind auch Fragen der Geschlechteranthropologie, die das Dokument eng mit der Würde verknüpft. 

Werner: Der Verweis auf Gen 1, 26–27 kann auch dazu verwendet werden, jede Weiterentwicklung zu stoppen, und zwar in drei Argumentationsschritten: indem erstens aus dem Schöpfungsbericht eine vom Schöpfer vorgegebene Natur des Menschen abgeleitet wird, die zweitens nur in Mann und Frau als Ebenbild Gottes geschaffen interpretiert wird und drittens diese zwei in eine rein binäre Komplementarität gesetzt werden. Alles, was von dieser Natur abweicht, kann dann mit dem Argument, dass der Mensch sich nicht selbst schafft, abgelehnt werden. Die Frage nach Trans-Rechten, nach Frauenrechten, nach Gerechtigkeit im Sinn von Menschenrechten ist dann gar nicht mehr debattierbar, weil sie sich so gegen die Natur und gegen den Schöpfer richten, und die Natur der Ort ist, an dem die Würde sich verwirklicht. 

Ausschnitt aus Michelangelos Fresko "Die Erschaffung Adams" in der Sixtinischen Kapelle.
Bild: ©dpa

"Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie", heißt es im Buch Genesis – der Schöpfungsbericht wird zum Dreh- und Angelpunkt der lehramtlichen Anthropologie.

Frage: Auf welche Theorien bezieht sich das Lehramt, wenn es gegen Gender-Theorien argumentiert? 

Werner: Das würde ich auch gerne wissen. Mir ist keine Gender-Theorie bekannt, die keine Differenzen will. Im Gegenteil: Gender-Theorien beziehen sich auf Differenzen, sie zielen darauf ab, Vielfalt und die Akzeptanz von Vielfalt zu akzeptieren. Man könnte sagen, Gender-Theorien wollen das genaue Gegenteil, nämlich die radikale Diversität, die Menschen prägen, zum Ausdruck bringen und sprach- und lebbar machen. Gender-Theorien wollen keinen neuen Menschen schaffen. Genauso wenig, wie zum Beispiel homosexuelle oder trans Menschen sich neu erschaffen wollen. Im Gegenteil: Es geht darum, dass Menschen für die Art und Weise, wie sie sich verstehen und wie sie sich vorfinden, Worte für sich selbst finden. Es ist ja eher so, dass die römische Interpretation der Geschlechteranthropologie Differenzen negiert, indem von 'der' Frau (und Mutter) und 'dem' Mann gesprochen wird.  

Frage: Als Überschrift wurde dieses Mal "Gender-Theorie", nicht "Gender-Ideologie" gewählt. Gibt es also doch eine Weiterentwicklung im Denken Roms? 

Werner: Ich denke nicht. Es gibt zwar eine gewisse Weiterentwicklung der Sprache – im Abschnitt vorher ist etwa nicht von "Behinderten", sondern von "andersfähigen Menschen" die Rede. Was Gender angeht, gibt es in der Sache aber keine Entwicklung. Es geht ja weiterhin um "Ideologisierung", um "Kolonisierung", die angeblich stattfindet, und man bezieht sich weiterhin auf die gleichen eigenen Aussagen aus der Vergangenheit. 

Frage: Bei der Gender-Frage wird Kolonisierung beklagt. Bei der theoretischen Hinführung wird der Begriff der Würde nur aus lehramtlichen Texten und westlich-abendländischen Denkern hergeleitet. Vermissen Sie noch andere Perspektiven? 

Werner: In so einem Dokument, das den Anspruch hat, differenziert zu argumentieren und einen Gang durch die Ideengeschichte anbietet, hätte ich mir eine Selbstreflexion auf den eigenen Würdebegriff gewünscht, der historisch eben nicht immer nur positiv war. Es gibt auch eine Schuldgeschichte, in der Würde nur Männern zugesprochen wurde, und zwar bestimmten weißen cis Männern, während die Würde von Frauen und nichtweißen Männern (und Frauen) nicht im Blick war. Zu Beginn werden ab und an auch andere Denker als Päpste und Kirchenväter zitiert, aber es ist leider typisch, dass keine anderen Denkmöglichkeiten herangezogen werden: weder feministische Theorien noch postkoloniale oder überhaupt Perspektiven aus dem globalen Süden. Es werden aber eben auch nicht die schwierigen Aussagen der Kirchenväter und Theologen zu Frauen thematisiert und als entwürdigend benannt.  

Frage: Zumindest die Würde von Frauen wird ausführlich thematisiert. 

Werner: Dass zum Beispiel Gewalt gegen Frauen und Femizide explizit angesprochen werden, ist positiv. Wenn man genauer in den Text hineinschaut und was dort über die Würde von Frauen gesagt wird, landet man aber schnell wieder bei der fehlenden Selbstreflexion: Zurecht werden gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Gleichberechtigung und gleiche Aufstiegschancen im Beruf eingefordert. Aber dann steht da kein einziger Satz dazu, dass es vielleicht doch ein bisschen peinlich ist, dass es diese Chancen bei uns in der Kirche nicht gibt, weil wir Frauen kategorisch von den Weiheämtern ausschließen. Da frage ich mich: Wie kann man so etwas schreiben, ohne rot zu werden?

Ein Transgender-Ugander steht vor einer Regenbogenflagge.
Bild: ©picture alliance / AP Photo (Archivbild)

Fragen nach der Geschlechteranthropologie und Menschenrechten von LGBTQI+ Menschen sind nicht nur im Westen präsent. Auch auf anderen Kontinenten wird darum gerungen.

Frage: Der Abschnitt zur Gender-Theorie beginnt mit der klaren Aussage, dass es ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist, wenn Menschen nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert, gefoltert oder getötet werden. Das ist nicht überall, gerade nicht in der Kirche, selbstverständlich. Also doch ein kleiner Fortschritt? 

Werner: Das kann man schon als klare Ermahnung an Bischöfe lesen, die das eben nicht so sehen – ebenso an Regierungen mit Gesetzen, die den Menschenrechten widersprechen. Das so deutlich zu sagen, ist innerkirchlich wichtig. Es bleibt aber der Widerspruch, dass weiterhin im Katechismus homosexuelle Handlungen als "in sich nicht in Ordnung" bezeichnet werden, die "in keinem Fall zu billigen sind", und Homosexualität als "objektiv ungeordnete" Neigung gesehen wird. Das spricht doch dagegen, dass sich die Kirche jetzt für Homosexuelle einsetzt. Dass diese Aussagen verletzen, wird nicht thematisiert. Hier regt sich die Hermeneutik des Verdachts, dass die Argumentation aus dem Anfang des Papieres zieht, dass die ontologische Würde nicht zerstörbar oder verlierbar sei (weil von Gott gegeben), aber es Möglichkeiten gibt, eine so genannte existenzielle Würde zu verlieren durch eigenes Tun. Staaten zu ermahnen, nicht gegen LGBTIQ+ Menschen vorzugehen und nach innen jegliche homosexuelle Handlung zu verurteilen und Transmenschen das Existenzrecht abzusprechen, klafft eklatant auseinander.  

Frage: In der Weltkirche gibt es da große Unterschiede, das hat zuletzt die Diskussion um das Segensdokument "Fiducia supplicans" gezeigt. Auch wenn die Erklärung aus der Perspektive hierzulande unzulänglich ist. Glauben Sie, dass sie doch in der Weltkirche etwas Positives bewirken kann? Trotz aller Defizite, die Sie geschildert haben, macht die Erklärung doch die Menschenwürde stark und verknüpft sie mit den Menschenrechten. 

Werner: Die Menschenrechte macht die Erklärung nicht wirklich stark, wenn sie sie nur nach außen einfordert, aber nicht nach innen. Es ist auch nicht so, dass man einfach die fortschrittliche Kirche hier im Kontrast zur Weltkirche stellen kann. Die Themen, die wir haben, sind auch Themen überall in der Weltkirche: Als würde man in Afrika, in Lateinamerika oder Asien nicht über die Rolle der Frau oder über Homosexualität oder über Menschenrechte ringen und reden. Es ist auch eine Form kolonialen Denkens, wenn man Debatten mit dem Argument abwürgen will, weil angeblich "die Weltkirche" noch nicht so weit sei. Ich kann mir vorstellen, dass diese Erklärung durchaus Aktivistinnen und Aktivisten in Ländern hilft, wo Homosexualität kriminalisiert ist oder wo es um Gleichberechtigung und die Würde der Frau noch schlechter steht, bis hin zu Femiziden. Da kann diese Erklärung immerhin die Möglichkeit eröffnen, darüber zu reden und schwierige Themen zu thematisieren. Das wäre ein Gutes aus dieser Erklärung: Dass sie die Möglichkeit gibt, katholisch die Kontroversen zu diskutieren. Aber die Frage bleibt, ob der Preis dafür nicht zu hoch ist?

Von Felix Neumann