Analyse zur neuen Vatikan-Erklärung zur Menschenwürde

Dignitas infinita: Zwischen Floskeln und ideologischen Scheuklappen

Veröffentlicht am 08.04.2024 um 13:00 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Das vatikanische Papier zur Menschenwürde ist lange erwartet worden – und überrascht durch handzahme Sprache und argumentative Engführung. In der Analyse lässt aber doch der Vorwurf an die Gender-Theorie aufhorchen, sich selbst zu Gott machen zu wollen.

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Über dieses Papier wurde schon diskutiert, da stand noch nicht einmal ein Veröffentlichungsdatum fest: Nach dem vielfach kritisierten vatikanischen Gender-Papier aus dem Juni 2019 wollte sich Rom des Themas noch einmal annehmen. Glaubenspräfekt Víctor Manuel Fernández kündigte immer wieder an, dies in einem größeren Rahmen tun zu wollen: in einer offiziellen Erklärung zur Menschenwürde. So ist es nun gekommen – aber auch irgendwie nicht. Denn die Erklärung über die menschliche Würde "Dignitas infinita" behandelt zwar auch das Gender-Thema, jedoch nur als einen von mehreren Aspekten als Teil eines Rundumschlags, für den sich der Vatikan laut eigenen Angaben mehrere Jahre und Korrekturschleifen genommen hat. Das ist erhellend und ärgerlich gleichermaßen, wie ein Blick in den Text zeigt.

Ein Bezugspunkt der Erklärung ist die Veröffentlichung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948, also vor mehr als 75 Jahren. Der Text unterstreicht, wie wichtig die Wahrung der Würde des Menschen für die Kirche ist: "Dieser Grundsatz, der auch von der Vernunft allein voll erkannt werden kann, ist die Grundlage für den Vorrang der menschlichen Person und den Schutz ihrer Rechte." (DI 1) Ausführlich wird das mit Zitaten der Päpste Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und dem aktuellen Pontifex Franziskus untermauert (3-6). Anschließend werden unterschiedliche Dimensionen der Würde erklärt: die ontologische Würde etwa, die der Mensch aufgrund seines Menschseins hat, die sittliche Würde, die er durch seine Taten verlieren kann, ohne seine ontologische einzubüßen. Dazu die soziale und existenzielle Würde, die mit Lebensbedingungen zusammenhängen (7-8).

Das Fresko "die Schule von Athen" von Raffael zeigt die Philosophen der griechischen Antike.
Bild: ©picture-alliance / akg-images

Die Erklärung leitet ihre Argumentation aus der griechisch-römischen Philosophietradition her.

Der Vatikan begründet seine Position durch die griechisch-römische Philosophietradition, die Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments sowie die Denkgeschichte der Kirche (10-16). "Die klassische christliche Anthropologie, die sich auf die große Tradition der Kirchenväter stützt, betonte die Lehre vom Menschen, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, sowie dessen einzigartige Rolle in der Schöpfung." Dass sich das im konkreten Handeln der Kirche gerade im historischen Gesamtblick so nicht unbedingt immer wiederfindet, fällt unter den Tisch.

Vielmehr wird auf weitere Aspekte der Würde eingegangen: dass sie nicht nur auf die Seele, sondern auch auf den Leib bezogen ist (18), durch Christus mit Verweis auf das Reich Gottes offenbart wurde (19) und sie mit der Gottesbeziehung zusammenhängt (20). Der Mensch habe die Freiheit, diese Würde auszudrücken, wobei die Sünde sie verdunkeln könne (22). Mit Individualismus habe die Würde dagegen nichts zu tun (25), vielmehr gingen aus ihr auch Verpflichtungen hervor (26). Mit Statements dazu, dass auch andere Wesen außer Menschen Würde genießen (ein Verweis auf das Thema Umwelt- bzw. Tierschutz), es Freiheit nicht in der Gottesferne gibt (30) und sie von Lebensbedingungen abhängig ist (31) und somit auch der Kampf etwa gegen Sklaverei, Rassismus oder Ausgrenzung zu ihrer Verteidigung gehört (32), schließt der eher theoretische Einleitungsteil, der etwa die Hälfte des Textes einnimmt.

Fixierung auf globalen Westen

Hier werden bereits einige Aspekte deutlich, die den Text weiter begleiten werden. Zum einen ist da eine Fixierung auf den globalen Westen. Mit der Herleitung aus der Philosophie der griechisch-römischen Tradition wird hier nur eine einzige Denktradition aufgeführt. Das passt nicht zu den vielen Perspektiven auf Würde, die der Text nennt. Ebenso konterkariert der Ausschluss historischer Vielfalt etwa im Handeln der Kirche durch die Jahrhunderte einen von Diversität geprägten Ansatz des Dokuments.

Im zweiten und brisanteren Teil widmet sich der Text "einigen schweren Verstößen gegen die Menschenwürde". Hier ist – so schreibt es Fernández in seiner Einleitung – nicht eine erschöpfende Aufzählung das Ziel, sondern lediglich einige Schlaglichter zu werfen. Die Auswahl ist erhellend:

Einerseits geht es um die Armut als Gefahr für die Menschenwürde, verbunden mit der ungleichen Verteilung des Reichtums in der Welt. "Absolut gesehen, nimmt der weltweite Reichtum zu, doch die Ungleichheiten vergrößern sich", zitiert das Papier Papst Benedikt XVI. (36) Ebenso allgemein äußert sich der Text zum Thema Krieg: "Mit seiner Spur der Zerstörung und des Schmerzes greift der Krieg kurz- und langfristig die Menschenwürde an" (38). Dazu werden lange Zitate der Päpste Franziskus, Benedikt XVI. und Paul VI. angeführt. Beide Abschnitte sind recht unkonkret. Welche wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten genau sind eine Bedrohung für die Menschenwürde? Was wird von Menschen verlangt, um daran etwas zu ändern? Um solche Detailfragen kümmert sich das Papier nicht. Der Text bleibt – auch durch die vielen Zitate – schablonenhaft. Lediglich erwähnenswert ist die Betonung, dass es schwerfalle, von einen "gerechten Krieg" zu sprechen. Das ist schon eine Verschärfung zu früheren Papieren.

Unterkomplexe Argumentation

Ähnlich allgemein sind die Äußerungen zum "Leid der Migranten" (40), die in ihren Heimat- und in ihren Ankunftsländern "als nicht würdig genug angesehen [werden], um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen". Eine ähnliche Tonalität hat der Abschnitt zum Menschenhandel, unter dem so äußerst unterschiedliche Dinge wie Organhandel, Prostitution und Terrorismus subsumiert werden. Das kommt recht unterkomplex daher – nicht zuletzt, weil etwa beim Stichwort Prostitution die umfangreiche und differenzierte Stimmenlage keine Rolle spielt.

Merklich kurz (43, sieben Zeilen) ist der Abschnitt zum sexuellen Missbrauch. Hier werden lediglich Allgemeinplätze aufgeführt, endend mit dem Bekenntnis, dass sich die Kirche "unermüdlich" dafür einsetze, "allen Arten von Missbrauch ein Ende zu setzen, und zwar beginnend im Inneren der Kirche". Eine kritische Selbstreflexion zum doch äußerst durchwachsenen Erfolg des vatikanischen wie weltkirchlichen Engagements gegen Missbrauch hält man in Rom an dieser Stelle anscheinend nicht für angebracht.

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Dem Thema Missbrauch widmet sich der Text merklich kurz.

Spannend wird es nun bei mehreren Themen, bei denen Frauen im Mittelpunkt stehen: Da ist zunächst Gewalt gegen Frauen, "ein weltweiter Skandal, der zunehmend anerkannt wird". (44) Selbst "in den am weitesten entwickelten und demokratischen Ländern zeugt die konkrete soziale Realität davon, dass Frauen oft nicht die gleiche Würde zuerkannt wird wie Männern", hält der Text fest. Genannt werden als Stichworte unter anderem rechtliche Gleichberechtigung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sexuelle Gewalt. Dazu kommt aber auch der "Zwang der Abtreibung" (45) und die "Praxis der Polygamie", die im Widerspruch zur gleichen Würde der Frauen ständen. Auffällig ist die Erwähnung von Frauenmorden, denen ein ganzer Abschnitt gewidmet wird, denn sie könnten "nicht genug verurteilt werden". (46) Unerwähnt bleibt dagegen die Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen in der Kirche, selbstkritische Worte sucht man auch hier vergebens.

Umso länger sind die Ausführungen, die nun folgen, zunächst noch einmal ausführlich zum Schwangerschaftsabbruch (47). Wortreich wird noch einmal unterstrichen, dass sich "das kirchliche Lehramt stets gegen die Abtreibung ausgesprochen" habe. Mit zahlreichen Papstzitaten werden die hinlänglich bekannten Lehramtspositionen floskelreich aufgelistet. Dass es dazu auch unter Katholikinnen kontroverse Diskussionen gibt, fällt unter den Tisch. Außer einer würdigenden Erwähnung für die mittlerweile zum Teil in Misskredit geratene Mutter Teresa werden auch keine konkreten Frauen erwähnt, geschweige denn zitiert.

Intervention in italienische Politik

Aufschlussreich ist auch der nun folgende Abschnitt zur Leihmutterschaft – unter anderem deswegen, weil er unmittelbar auf eine Diskussion in Italien antwortet. Dort ist laut einem Gesetzentwurf der rechtsextremen Regierungspartei Fratelli d'Italia eine Verschärfung der bislang gültigen Regeln geplant, die Abgeordnetenkammer hat ihn bereits gebilligt. In den vergangenen Tagen gab es in Italien Demonstrationen von Befürwortern und Gegnern des Entwurfs.

Die Kirche wende sich gegen die Praxis der Leihmutterschaft, durch die das unermesslich wertvolle Kind zu einem bloßen Objekt wird", hält die vatikanische Erklärung dazu programmatisch fest. (48) Der legitime Wunsch, ein Kind zu bekommen, könne nicht in ein "Recht auf ein Kind" umgewandelt werden. Ein solches Recht würde "die Würde des Kindes selbst als Empfänger der freien Gabe des Lebens" nicht respektieren. (49) Gleichzeitig verletze die Leihmutterschaft "die Würde der Frau selbst". "Durch eine solche Praxis wird die Frau von dem Kind, das in ihr heranwächst, losgelöst und zu einem bloßen Mittel, das dem Profit oder dem willkürlichen Wunsch anderer unterworfen ist." (49) Auch hier sucht der aufmerksam Lesende Zwischentöne oder Multiperspektivität vergebens – oder dass Frauen selbst zu Wort kommen, anstatt dass über sie gesprochen wird.

Viele Tabletten liegen neben einem Wasserglas auf einem Holztisch
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

In Sachen Sterbehilfe bleibt die Erklärung bei bekannten Kirchen-Positionen.

Bekannt sind ebenso die nun folgenden Ausführungen zu Sterbehilfe und assistiertem Suizid. Auch ein kranker Körper habe seine Würde, heißt es da. Dagegen verstoße es, jemandem beim Suizid zu helfen. Die Würde des Kranken verlange, "dass jeder die angemessenen und notwendigen Anstrengungen unternimmt, um sein Leiden durch eine angemessene palliative Pflege zu lindern und jeden therapeutischen Übereifer oder unverhältnismäßige Maßnahme zu vermeiden". (52) Besonders mit dem darauffolgenden Verweis auf die Bedürfnisse des Patienten lässt sich das durchaus in der Hinsicht interpretieren, dass die jahrelange Am-Leben-Erhaltung Hirntoter nicht im Sinne dieser Ausführungen liegt. Christlich geprägten Hardlinern gibt der Vatikan hier keine Argumente in die Hand.

Direkt danach widmet sich das Papier Menschen, "die sich in einer Situation körperlicher oder psychischer Defizite befinden". (53) Schon die Sprache zeigt hier, wie wichtig den Autoren es ist, auf die Lebensumstände von Menschen mit Einschränkungen hinzuweisen. Beklagt wird mehrmals eine "Wegwerf-Kultur". Vielmehr sollten jedoch alle Menschen in das gesellschaftliche und kirchliche Leben eingegliedert werden und aktiven Anteil daran haben.

Wortwahl lässt aufhorchen

Nun folgen die Anschnitte, auf die nicht wenige Beobachter besonders gewartet haben – und die schon durch ihre Überschrift auffallen: Denn dort steht "Gender-Theorie", nicht "Gender-Ideologie". Das ist zumindest gegenüber jüngeren Äußerungen von Papst Franziskus zu diesem Thema eine verbale Abrüstung. Tatsächlich taucht der Terminus "Ideologie" lediglich zwei Mal auf und auch jeweils nur in direktem Zusammenhang mit einem Franziskus-Zitat. Aufhorchen lässt dagegen bereits eine Wendung recht am Anfang dieses Themenkomplexes. Es müsse "als Verstoß gegen die Menschenwürde angeprangert werden, dass mancherorts nicht wenige Menschen allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert, gefoltert und sogar des Lebens beraubt werden". (55) Ein solch eindeutiges Plädoyer für die Rechte von Homosexuellen hat man vom Vatikan noch nicht gehört. Ein Fingerzeig nicht zuletzt für Katholiken in afrikanischen Ländern, die sich – bis hinauf zu Bischofskonferenzen –  abwertend äußern und sich zum Teil für die Kriminalisierung homosexueller Menschen einsetzen.

Nun folgt dann aber doch die erwartbar aufgeladene Rede vom Gender-Diskurs als "ideologischer Kolonisierung" in Wiederholung des bekannten Papst-Ausspruchs. "Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gender-Theorie vorschreibt, bedeutet ungeachtet dieser grundlegenden Wahrheit des menschlichen Lebens als Gabe nichts anderes, als der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen." (57) Ähnlich wie im vielfach kritisierten vatikanischen Gender-Papier von 2019 wird hier eine einheitliche Gender-Theorie konstruiert, die einem ebenso einheitlichen Glaubensverständnis gegenüberstehe. Wieder ist kein Raum für eine differenzierte Diskussion, vielmehr versteigt man sich in Formulierungen wie jener, das Geschlecht als "größtmöglichen Unterschied zwischen Lebewesen" zu deuten. Hier scheint eine große Angst durch, sich anderslautende Argumente auch nur anzuhören. "Nur wenn jede menschliche Person diesen Unterschied in Wechselseitigkeit erkennen und akzeptieren kann, wird sie fähig, sich selbst, ihre Würde und ihre Identität voll zu entdecken." (59) In dieser Passage gibt es die meisten kulturkämpferischen Töne im gesamten Text. Wie auch die Abschnitte etwa zur Abtreibung fallen diese Formulierungen aus dem salbungsvollen Vokabular des restlichen Textes heraus, sie wirken wie Fremdkörper.

Aufhorchen lassen die Ausführungen zu geschlechtsangleichenden Operationen, die im Dokument mit der Bezeichnung "Geschlechtsumwandlung" die Perspektive Betroffener ausblenden. Doch passt das zum Denken des Vatikan, der an einem binären Geschlechterbild festhält und weder den Bedarf noch die Möglichkeit zu einer Angleichung des Geschlechts anerkennt. "Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person mit bereits bei der Geburt vorhandenen oder sich später entwickelnden genitalen Anomalien sich für eine medizinische Behandlung zur Behebung dieser Anomalien entscheiden kann. In diesem Fall würde die Operation keine Geschlechtsumwandlung in dem hier beabsichtigten Sinne darstellen." Eine Operation ist für den Vatikan also da legitim, wo es intersexuelle Menschen in das eigene binäre Geschlechterbild presst und alles dazwischen als Anomalie pathologisiert.

Deutlich handzahmer als gedacht

Insgesamt gestaltet sich der Abschnitt zum Gender-Thema allerdings deutlich handzahmer als frühere Äußerungen aus Rom. Zwar bleibt die Haltung die gleiche wie 2019. Es wird jedoch deutlich weniger mit verbalen Säbeln gerasselt als noch vor fünf Jahren. Dazu kommt die ausdrückliche Wertschätzung für homosexuelle Menschen. Es ist also nicht zu weit gegriffen, hier von einer Akzentverschiebung und Abrüstung zu sprechen. Noch einmal interessant ist zudem der letzte Punkt vor dem Schlussakkord: "Gewalt in der digitalen Welt". Zwar biete der technische Fortschritt auch Möglichkeiten, die menschliche Würde zu fördern, doch er tendiere zunehmend dazu, eine Welt zu schaffen, in der Ausbeutung, Ausgrenzung und Gewalt zunehmen, was so weit gehen kann, dass die Würde der menschlichen Person verletzt wird. Verleumdung, Vereinsamung, Abhängigkeit und Cybermobbing sind die erwähnten Stichpunkte. Hier wird vor allem die Objektivierung von Menschen angeprangert (61).

In den Schlussbemerkungen wird noch einmal auf die Erklärung der Menschenrechte abgehoben und gefordert, dass "die Achtung der Würde der menschlichen Person unabhängig von allen Umständen in den Mittelpunkt des Einsatzes für das Gemeinwohl und jeder Rechtsordnung gestellt wird". (64) Damit ist der Text in einer zyklischen Struktur wieder bei seinem Anfang angekommen.

Erzbischof Victor Manuel Fernandez
Bild: ©picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Natacha Pisarenko

Unterzeichnet hat die Erklärung Glaubenspräfekt Víctor Manuel Fernández .

In der Erklärung fallen einige Aspekte auf: Während die Einleitung eigentlich die Grundlage für eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenwürde setzt, wird dies in der Argumentation nicht umgesetzt. Die einzelnen Aspekte werden lediglich angerissen und stichwortartig abgehandelt. Dadurch bleibt der Text mit den zahlreichen angesprochenen Themen wenig greifbar. Darunter leiden die sozialen Anliegen des Textes, denen so nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bei den gesellschaftspolitischen Anliegen fällt der Vatikan dafür in altbekannte Muster zurück: Die ideologischen Scheuklappen sind weiter fest geschnürt und lassen nur wenig Raum für neue Impulse. Das zeigen nicht zuletzt die Zitate, die mit einzelnen Ausnahmen selbstreferenziell Päpste oder Lehramtliches aufführen. Positiv herausgehoben werden können hier zwar die Äußerungen zu den Rechten Homosexueller. Die hängen den gesellschaftlichen Entwicklungen der westlichen Welt allerdings weit hinterher.

Diese Fokussierung auf eben jenen Westen ist ein weiterer Punkt, der auffällt: Die Herleitung der Menschenrechte erfolgt ausschließlich aufgrund einer (!) westlichen Denktradition, auch bei der Beschreibung der Probleme beschränkt sich das Papier auf westliche Phänomene – mit Ausnahme der Armut, die jedoch durch die westliche Brille gesehen wird. Das Denken des Ostens, des Globalen Südens, Probleme etwa repressiver Familienstrukturen in den gemeinschaftsorientierten Gesellschaften der Welt – all das kommt nicht vor. Dagegen steht eine direkte Intervention in einen italienischen Gesetzgebungsprozess. Die von Papst Franziskus viel zitierten Ränder der Welt scheinen beim Thema Menschenwürde kaum eine Rolle zu spielen.

Am Ende steht ein Kompendium mit zahlreichen Themen – darunter die allermeisten extrem relevant und medial sicher im Westen zu wenig beleuchtet. Wegen fehlender Tiefe und Diversität lässt der Text die Lesenden dennoch etwas ratlos mit der Frage zurück, was der Vatikan außer der eigenen Selbstversicherung mit dieser Erklärung eigentlich sagen wollte.

Von Christoph Paul Hartmann