Kirchenrechtler: "Patriarch des Westens" ist Zeichen für Ökumene
Schon in der alten Kirche wurde der Bischof von Rom zu den Patriarchen gezählt. Über Jahrhunderte trug der Papst den Titel eines Patriarchen des Westens – bis Papst Benedikt XVI. den Titel 2006 abschaffte. Vor allem in den Ostkirchen war die Aufregung groß. Nun führt Papst Franziskus den Titel wieder ein – ohne jede Erklärung erscheint "Patriarch des Abendlandes" wieder im Päpstlichen Jahrbuch unter den historischen Titeln des Pontifex. Im Interview mit katholisch.de ordnet der Münchener Kirchenrechtler Martin Rehak ein, warum Benedikt XVI. verzichtete und was es für die Kirchenverfassung des Westens und die Kirchen des Ostens bedeutet, wenn Franziskus den Titel nun wieder führt.
Frage: Professor Rehak, was ist eigentlich ein Patriarch?
Martin Rehak: "Patriarch" ist ein Ehrentitel, der seit dem fünften Jahrhundert langsam aufgekommen ist und den etwas älteren Ehrentitel des "archiepiskopus" abgelöst hat. Im Laufe der Kirchengeschichte wurde der Titel dann mit bestimmten Bischofssitzen fest verbunden. Aus Sicht der heutigen katholischen Ekklesiologie und des Kirchenrechts steht ein Patriarch "gleichsam als Vater und Haupt" den (katholischen) Patriarchatskirchen vor, ist also dort der ranghöchste Bischof (vgl. can. 55 und can. 56 CCEO). Den Status einer Patriarchatskirche haben die katholischen Kopten, Maroniten, Syrer, Melkiten, Chaldäer und Armenier.
Frage: Und Rom war von Anfang an ein Patriarchat?
Rehak: Ein schlichtes "Ja" auf diese Frage würde der geschichtlichen Entwicklung nicht gerecht. Aber bereits das Konzil von Nizäa (325) lässt ansatzweise eine Hierarchie innerhalb des Episkopats und damit die heutige Strukturierung mit Bischöfen, Metropoliten beziehungsweise Erzbischöfen und Patriarchen erkennen. Das Konzil hat nämlich einerseits die Metropolitanstruktur anerkannt, andererseits aber die drei Bischofssitze Rom, Alexandria und Antiochia davon ausgenommen. Zu diesem Kreis kamen bis zum Konzil von Chalzedon (451) noch Jerusalem und Konstantinopel als die patriarchalen Sitze der alten Reichskirche dazu. Später hat sich dann die Frage gestellt, was diese Patriarchate begründet und legitimiert. Dafür gab es zwei konkurrierende Ansätze. Der eine hat einen stärker theologischen Charakter: Rom, Antiochia und Alexandria sind demnach petrinische Gründungen. Durch das Zeugnis des Neuen Testaments und der Tradition galt Petrus als der Apostel, der in Antiochia und Rom das Evangelium verkündet hat. Der Legende nach war es der Apostelschüler und Evangelist Markus, der die Kirche von Alexandria gegründet hat. Dieses "petrinische Prinzip" ist anschlussfähig an die Ekklesiologie des dritten Jahrhunderts, wo man zwischen apostolischen Sitzen, das heißt den von Aposteln gegründeten Ortskirchen, und deren Tochtergründungen, die dann von den Bischöfen als den Nachfolgern der Apostel vorgenommen wurden, unterschieden hat. Die andere Begründungslogik wird – vielleicht etwas polemisch – als "politisches Prinzip" bezeichnet: Welche Städte waren politisch bedeutsam? So kommt dann die neue Reichshauptstadt Konstantinopel, das neue Rom, dazu. Jerusalem als fünfte im Bund hatte keine politische Bedeutung, war aber als Ursprungsort der Kirche hervorgehoben.
Frage: Rom als Patriarchat hat also eine lange Tradition. Warum hat dann ausgerechnet der traditionsbewusste Papst Benedikt XVI. 2006 damit gebrochen und auf den Titel verzichtet?
Rehak: Das hängt mit genau dieser Entstehungsgeschichte der fünf Patriarchensitze in der spätantiken Reichskirche zusammen. Zu dem politischen Prinzip anstelle des älteren apostolischen bzw. petrinischen Prinzips hatte sich Joseph Ratzinger schon vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil kritisch geäußert (vgl. Joseph Ratzinger, Primat, Episkopat und Successio Apostolica, in: Karl Rahner / Joseph Ratzinger, Episkopat und Primat, Freiburg i.Br. u.a. 1961, 37–59, hier 55 f.). Dazu kamen dann seit Mitte der 1980er-Jahren die Arbeiten von Adriano Garuti zur Herkunft und theologischen Bedeutung des Patriarchentitels. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Titel im Bereich der katholischen Kirche ohne Bedeutung sei – jedenfalls in Bezug auf den Bischof von Rom als Patriarch des Westens. Garuti war ein langjähriger Mitarbeiter Ratzingers in der Kongregation für die Glaubenslehre. Seine Argumente waren also dem späteren Papst Benedikt XVI. bekannt. Als Kardinal Walter Kasper als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen die Entscheidung des Papstes erläuterte, auf den Titel zu verzichten, hat er auch ausdrücklich angemerkt, dass Garuti für die derzeit in der Kongregation vorherrschende Sichtweise auf dieses Thema prägend gewesen sei.
Frage: Was spricht aus Garutis Sicht gegen den Patriarchentitel für den Papst?
Rehak: Sein geschichtlicher Haupteinwand war, dass der römische Bischof nie eine typisch patriarchale Jurisdiktion ausgeübt hat und so faktisch nie das gesamte Abendland als Patriarch geleitet hat. Daran ist beispielsweise richtig, dass der Papst tatsächlich nie alle Metropoliten der lateinischen Kirche zu Bischöfen geweiht hat, wie es das Vorrecht eines Patriarchen wäre. Aber stattdessen hat man in der lateinischen Kirche die Verleihung des Palliums durch den Papst an die Erzbischöfe eingeführt. So hat man liturgisch die Verbindung des Bischofs von Rom mit den Metropoliten beziehungsweise Erzbischöfen gezeigt und deutlich gemacht, dass Rom das Zentrum des Abendlandes ist. Zu der geschichtlichen Argumentation kam als systematischer Haupteinwand hinzu, dass nur die Bischöfe und der Papst Amtsträger kraft göttlichen Rechts seien, während das Amt der Patriarchen rein kirchlichen Rechts und somit ohne dogmatische Relevanz sei.
Frage: Aus Sicht des Zweiten Vatikanums sollte die klassische patriarchale Verfassung doch wieder plausibler werden: Die Communio-Ekklesiologie versteht die Kirche auch als Gemeinschaft von Kirchen, die Kirchenkonstitution Lumen Gentium würdigt die alten Patriarchate. Da würde das explizite Verständnis vom Bischof von Rom als Patriarch im Kreis der anderen Patriarchen doch gut dazu passen.
Rehak: Der Patriarch als "primus inter pares" im Kreis der anderen Patriarchen ist das klassische orthodoxe Kirchenverständnis. Das katholische Kirchenverständnis hat aber noch ein weiteres Prinzip, und damit tut sich die orthodoxe Ekklesiologie schwer: den päpstlichen Jurisdiktionsprimat. Die Frage an dieser Stelle ist, ob also die Patriarchen ein Kollegium zur kollektiven Leitung der Gesamtkirche bilden, oder ob auch auf dieser Ebene das in Kanon 34 der Apostolischen Kanones, einer Sammlung kirchenrechtlicher Normen aus dem 4. Jahrhundert., mit Blick auf die Ebene von Kirchenprovinzen beziehungsweise Nationen formulierte Prinzip gilt: Es muss einen Protos, einen Ersten, geben, der von den übrigen Bischöfen einerseits als Haupt anerkannt wird, andererseits aber verpflichtet ist, sich synodal mit diesen seinen Mitbischöfen zu beraten. Meines Erachtens spricht die biblisch bezeugte Strukturierung des Apostelkollegiums, in der Petrus als "Koryphäe" durchaus hervortritt, für die katholische Sichtweise. Umgekehrt ist zu sehen, dass die Idee einer Pentarchie nicht zuletzt im 6. Jahrhundert von Kaiser Justinian gefördert wurde, dem es aber in erster Linie darum ging, die richtigen Ansprechpartner zur Durchsetzung einer konfessionellen Einheit im Reich zu haben; ob dafür alle Patriarchen aus theologischer Sicht den gleichen Rang haben oder es einen Protos gibt, war da egal. Das ist ein ganz entscheidendes Thema im katholisch-orthodoxen Dialog, dessen Diskussion noch nicht abgeschlossen ist.
Frage: Wie wurde der Verzicht von Benedikt XVI. in der Ökumene wahrgenommen?
Rehak: Völliges Erstaunen, Unverständnis, Ratlosigkeit und Empörung – das waren die offiziellen Reaktionen aus der Orthodoxie. In der orthodoxen Theologie konnte man den Schritt aber durchaus einordnen, weil dort die Thesen Garutis bekannt waren.
Frage: Und jetzt geht es in die andere Richtung: Der Titel wird vom Papst wieder geführt. Ist das rein zeremoniell oder hat das auch echte Auswirkungen?
Rehak: Das ordnet sich ein in eine Entwicklung, die lateinische Kirche – also die Kirche des Westens – in wissenschaftlichen Veröffentlichungen dezidierter als eine der Kirchen eigenen Rechts (ecclesiae sui iuris) innerhalb der katholischen Kirche zu sehen. Und dann hat Papst Franziskus mit dem Motu proprio "De concordia inter codices" aus dem Jahr 2016 einige Veränderungen im Kirchenrecht vorgenommen und dabei im neu eingefügten can. 111 § 3 CIC die lateinische Kirche in einem Atemzug mit "anderen Kirchen eigenen Rechts" genannt. Somit geht also auch der Gesetzgeber selbst davon aus, dass die lateinische Kirche eine Kirche eigenen Rechts ist, so wie die einzelnen katholischen Ostkirchen. Da ist der Schritt, den Titel des Patriarchen des Abendlandes wieder aufzugreifen, konsequent: So wird deutlich, dass auch die Kirche des Abendlandes, die lateinische Kirche als solche, einen Protos braucht.
Frage: Verändert sich jetzt das Verhältnis des Papstes zu den katholischen Ostkirchen?
Rehak: Das verändert sich gar nicht. Nach wie vor steht der Papst der ganzen katholischen Kirche als Protos vor. Er ist zwar auch ein Patriarch in der Gemeinschaft der Patriarchen, aber wenn es zu einem Konflikt zwischen einem Patriarchen einer katholischen Ostkirche und dem Papst kommen sollte, hat der Papst weiterhin das letzte Wort.
Frage: Erwarten Sie auch Impulse für eine Weiterentwicklung der Verfassung der lateinischen Kirche?
Rehak: Schon im Umfeld des Zweiten Vatikanums hat man vereinzelt mit dem Gedanken gespielt, ob man das Konzept der Patriarchate nicht ausdehnen sollte und beispielsweise so die Ökumene mit der anglikanischen Kirche verbessern könnte, indem man ein anglikanisches Patriarchat innerhalb der katholischen Kirche anerkennt. Das ist mittlerweile anders gekommen. Es wurde auch die Frage gestellt, ob man nicht die lateinische Kirche in mehrere Patriarchate aufgliedern soll, entlang von kulturellen Großräumen. Das hätte eine Dezentralisierung der Kirche des Abendlandes bedeutet. Aus dieser Perspektive geht die Wiedereinführung des Titels in die Richtung der Zentralisierung, bestätigt also eher die jetzige Kirchenverfassung, als sie zu ändern.
Frage: Welche Entwicklungen erwarten Sie nun mit Blick auf die Orthodoxie?
Rehak: Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Ich hoffe darauf, dass die Wiedereinführung des Titels hilft, der Einheit der Christen näherzukommen.
Frage: Schon innerhalb der orthodoxen Kirche steht es momentan nicht gut um die Einheit. Das Moskauer Patriarchat und das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel stehen in offenem Streit. Welche Auswirkungen hat ein nun wieder betontes Patriarchat des Westens darauf? Will Rom vielleicht sogar Moskau schwächen, indem sich der Patriarch von Rom als Patriarch an die Seite der anderen Patriarchen stellt und so das rechnerische Gewicht des Patriarchen von Moskau schwächt?
Rehak: Es wäre natürlich interessant zu erfahren, wer den Papst hier beraten hat. Ich glaube aber nicht, dass man in Rom ein solches politisches Kalkül im Kopf hatte. Zumal man damit ja der Idee der Pentarchie nähertreten müsste, also der jurisdiktionellen Gleichrangigkeit aller Patriarchen und ihrer kollektiven Kirchenleitung als Instrument und Schlüssel zur Einheit der Kirchen. Handlungsleitend dürften mit Blick auf die Einheit der Kirchen also eher theologische statt politische Fragen gewesen sein. Das Patriarchat von Moskau blockiert seit Jahren die Annäherung von katholischer und orthodoxer Kirche. Ohne Moskau wäre der Dialog schon viel weiter. Gerade mit Blick auf Moskau hoffe ich daher, dass die Rückbesinnung auf den Patriarchentitel in der ganzen Orthodoxie als vertrauensbildende Maßnahme wahrgenommen wird – und nicht als irgendein politisches Kalkül.