Erst unter Bischof Fürst Veränderungen feststellbar

Rottenburger Aufarbeitungskommission sieht jahrelange Vertuschung

Veröffentlicht am 11.04.2024 um 13:21 Uhr – Lesedauer: 

Rottenburg ‐ Die Aufarbeitungskommission des Bistums Rottenburg-Stuttgart hat ihren Tätigkeitsbericht für 2023 vorgelegt: Lange waren Verantwortliche zuvorkommend gegenüber Tätern und empathielos bei Betroffenen. Erst seit gut 20 Jahren sieht das anders aus.

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Der Umgang mit Missbrauch im Bistum Rottenburg-Stuttgart war bis in die 1990er Jahre von "Dilettantismus, Überforderung und Inkompetenz, Verschleierung oder Vertuschung, Sprachlosigkeit, Befangenheit und eigene Betroffenheit durch persönliche, berufliche und vor allem geistliche Verbindungen zu den Tätern" geprägt. Zu diesem Fazit kommt die Aufarbeitungskommission nach Gesprächen mit Zeitzeugen und Aktenauswertungen in ihrem Jahresbericht für 2023, der am Mittwoch veröffentlicht wurde. In der neueren Zeit sei aber eine deutliche Professionalisierung, ernsthafte Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem Thema sexualisierte Gewalt festzustellen.

Die Kommission legt nach zwei Jahren Tätigkeit auch erste Zwischenerkenntnisse und Hypothesen vor. Es habe sich gezeigt, dass Betroffene in früheren Jahren fast keine Rolle spielten. Erst die Einrichtung einer Kommission "Sexueller Missbrauch" durch Bischof Gebhard Fürst im Jahr 2002 habe dazu geführt, dass Betroffenen mit Empathie, Wertschätzung und Anerkennung begegnet wurde. Der Umgang mit Beschuldigten und Tätern dagegen wird vor allem für die 1950er bis 1970er Jahre als "meist sehr fürsorglich bis hin zu Einflussnahmen auf staatliche Strafverfolgungsbehörden" beschrieben. Der Bericht spricht von einer "fast übertriebenen Fürsorge gegenüber Beschuldigten (Tätern)". Unklare Strukturen, uneinheitliche Standards, fehlende Dokumentation und die Behandlung von Missbrauchsfällen unter vier Augen zwischen Bischof und Personalchef begünstigten Vertuschung und Verschleierung. Auch hier habe es erst 2002 durch die Einrichtung der Kommission eine Veränderung gegeben.

In den Gemeinden habe oft ein großes Interesse bestanden, ihren Pfarrer nicht zu verlieren. Mehrere Schreiben von Bürgermeistern und Kirchengemeinderäten sowie Unterschriftenlisten mit der Bitte um Verbleib von Beschuldigten liegen in den Akten vor. "In einem Fall bittet der Bürgermeister, dass die 'Denunzianten' aus der Gemeinde benannt werden sollen", heißt es im Bericht.

Missbrauch als strukturelles Problem lange nicht im Blick

Alle befragten Zeitzeugen konnten sich an Fälle sexuellen Missbrauchs erinnern. "Sexueller Missbrauch in der Diözese ist und war innerhalb der Kirchenstruktur kein Geheimnis, sondern grundsätzlich ein bekanntes Phänomen", stellt die Kommission dazu fest. Auffällig sei, dass einige wenige Täternamen von Intensivtätern sehr häufig genannt wurden. Trotz der Dauer und der Vielzahl von Betroffenen sei auch in diesen Fällen oft zaghaft und wirkungslos gehandelt worden. Die Kenntnis über einzelne Intensivtäter führe in der Aufarbeitung und Erinnerungskultur dazu, "das Problem sexuellen Missbrauchs als Einzeltäter-Problem zu charakterisieren". Damit einher gehe die Gefahr, Missbrauch nicht als strukturelles, sondern als individuell-persönliches Problem zu sehen.

Im vergangenen Jahr hat die unabhängige Kommission neben Zeitzeugengesprächen unter anderem mit dem ehemaligen Diözesanbischof (1989 bis 1999) und heutigen Kardinal Walter Kasper weitere Aktenbestände ausgewertet. Dazu gehört ein Aktenbestand des 1976 verstorbenen Domkapitulars Alfons Hufnagels, der für Fragen der weltlichen Strafrechtspflege zuständig war, sowie die Handakten von Domkapitular Paul Hildebrand, der von 2009 bis 2022 Personalverantwortlicher für Priester war. Der Aktenbestand Hufnagels war laut dem Bericht ein Zufallsfund, Hildebrand hatte seine Handakten anlässlich seines Ruhestands selbst der Kommission sexueller Missbrauch der Diözese übergeben. Außerdem wurden Akten des bischöflichen Geheimarchivs ausgewertet. Insgesamt 207 Akten aus kirchenrechtlichen Vorermittlungen konnten noch nicht systematisch ausgewertet werden. Das plant die Kommission für 2024.

Die Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Diözese Rottenburg-Stuttgart wurde auf der Grundlage der "Gemeinsamen Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland" zwischen dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Deutschen Bischofskonferenz Ende 2021 eingerichtet. Ihr gehören drei von der Landesregierung Baden-Württembergs benannte Vertreter, zwei Betroffenenvertreter sowie zwei von der Diözese benannte Personen an. Für die Landesregierung sind der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Eisele, der ehemalige Amtschef des Kultus- und Sozialministeriums Thomas Halder sowie die Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Renate Schepker Mitglied der Kommission. Die Kommission arbeitet unabhängig. (fxn)