100-jährige Ordensfrau: "Vom Herrgott kann ich mir nichts wünschen"
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Wir treffen uns an der Klosterpforte in Reute, gleich nebenan im Sprechzimmer. Ein paar Schwestern huschen vorbei. Sie waren eben im Gottesdienst. Schwester Philothea Kopp war dort auch. Weil sie nicht mehr so gut laufen kann, sitzt sie im Rollstuhl. Ihre beiden Mitschwestern Schwester Mirjam Engst und Schwester Consolata Blaser bringen sie in den Raum. Sie kümmern sich rührend um die Jubilarin. Schwester Philothea faltet die Hände. Der goldene Ring auf ihrem Finger leuchtet in der Sonne, die durch das Fenster fällt. Die Ordensfrau trägt seit ihrer Einkleidung, also seit rund 70 Jahren, täglich ihren dunkelgrauen Habit und dazu den schwarzen Schleier. Um ihren Hals hängt ein Kreuz mit dem franziskanischen Tau. "Das gehört zu uns", erklärt Schwester Mirjam. Sie spricht langsam und ruhig, so dass Schwester Philothea sie gut verstehen kann.
"Den 100. Geburtstag erleben nur wenige Leute", sagt Schwester Philothea nicht ohne Stolz. Sie sei dem Herrgott halt dankbar, dass sie noch leben darf. Dann wendet sie sich ihren Mitschwestern zu und fragt erstaunt in die Runde: "Sie werden doch auch froh sein, dass Sie noch leben dürfen?" Dann möchte sie, dass alle zusammen das "Vater unser" beten und danach zum Mittagessen gehen. Ihre Mitschwestern beruhigen sie, das Essen werde warmgehalten. Die drei beten zusammen.
"Philo-Thea" – "Die Gottliebende"
Schwester Mirjam spricht den Vornamen ihrer 100-jährigen Mitschwester schön aus. Sie sagt: "Philo-Thea" mit einer kleinen Pause dazwischen. Der Name bedeutet übersetzt "Die Gottliebende", erklärt die 100-Jährige selbst und fügt hinzu: "Ich kann mich bis heute daran erfreuen". Ihren Ordensnamen hat sie sich nicht selbst ausgesucht. Der wurde ihr bei ihrer Einkleidung vom damaligen Klostergeistlichen, dem Superior, übergeben, erklärt Schwester Mirjam. Das war damals so üblich. Als Rosalie Kopp wurde Schwester Philothea in Aichhalden, einem kleinen Ort im Schwarzwald, der in der Diözese Rottenburg-Stuttgart liegt, geboren. Dort ist sie gemeinsam mit neun Geschwistern aufgewachsen. Weil sie die Älteste war, hat sie auf ihre jüngeren Geschwister aufgepasst. "Wenn die gut zu mir waren, war ich zu ihnen auch gut. Und wenn die böse waren, war ich es auch", erinnert sich die 100-jährige Franziskanerin. Von ihren Geschwistern lebt heute niemand mehr. Ihre letzte leibliche Schwester ist erst kürzlich verstorben.
1954 trat Schwester Philothea in das Kloster der Franziskanerinnen von Reute ein. Sie war damals fast 30 Jahre alt. Den genauen Grund für ihren Eintritt ins Kloster weiß sie nicht mehr so genau. "Gott war bei mir immer an erster Stelle", stellt die Jubilarin fest. "Was ich bin, das bin ich durch die Gnade Gottes“. Als Schwester Mirjam ihre ältere Mitschwester fragt, wie sie sich den Herrgott vorstellt, sagt Philothea in fast belehrendem Ton: "Man tut doch nicht über den Herrgott schwätzen, sondern immer nur mit ihm".
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Die Reuter Franziskanerin Schwester Mirjam Engst zeigt ihrer Mitschwester Philothea Kopp einen Brief. Weil die Jubilarin nicht mehr so gut sehen kann, liest sie ihr diesen vor.
Schwester Mirjam hat einen Brief mitgebracht. Den hat eine ehemalige Schülerin an Schwester Philotea geschrieben. Darin gratuliert sie ihr zum 100. Geburtstag und bedankt sich für ihre Freundlichkeit und ihre Kochkünste. Eine Zeit lang arbeitete Schwester Philothea nämlich in verschiedenen Krankenhäusern des Ordens und betreute sogar ein Ferienhaus der Schwestern in Eglofs. Dort bekochte sie Schwestern und Hausgäste und kümmerte sich um den Garten. 2001 kehrte die heute 100-Jährige dann wieder ins Mutterhaus nach Reute zurück. "Du warst unsere gute Fee in der Küche", meint Schwester Consolata. "Das weiß ich nicht mehr", erwidert Philothea und wischt sich über das Gesicht. "All das habe ich mit Gottes Hilfe geschafft", ergänzt sie.
Am liebsten isst sie Wurst und Schokolade
Schwester Consolata sitzt die ganze Zeit neben der Jubilarin. Die beiden kennen sich schon lange und haben sogar für eine längere Zeit im gleichen Konvent außerhalb des Klosters gelebt. Heute kümmert sie sich um ihre ältere Mitschwester. Seit einigen Jahren ist Schwester Philothea nämlich im Gut-Betha-Haus des Klosters untergebracht, eine Art Pflegeheim, in dem rund 60 ältere und pflegebedürftige Schwestern betreut werden. Sie sei dort zufrieden, fühle sich wohl. "Man sollte immer für alles Danke sagen, für das Brot und die Suppe und alles, was ich bekomme", so die betagte Ordensfrau. Am liebsten isst sie übrigens Wurst und hin und wieder ein Stückchen Schokolade, verrät Schwester Mirjam.
Im Kloster Reute ist Schwester Philothea Kopp momentan die einzige Ordensfrau, die über 100 Jahre alt ist. Viele ihrer ehemaligen Mitschwestern sind längst verstorben und liegen auf dem benachbarten Klosterfriedhof begraben. Dieser wurde erst kürzlich neu gestaltet. Auf einem begehbaren Steinlabyrinth in der Mitte des Friedhofs stehen auf Ziegelsteinen über 3.000 Namen von Ordensfrauen. Schon 1848 wurde die Gemeinschaft gegründet. "Da kommen seither schon einige zusammen", sagt Schwester Mirjam. Heute gehören rund 150 Schwestern zu der franziskanischen Klostergemeinschaft. Es gebe zwar immer wieder Eintritte, doch werde die Gemeinschaft kleiner und älter.
"Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen"
Sie habe sich halt immer darangehalten, was im Katechismus steht, sagt die 100-Jährige. "Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen, damit wir auf Erden selig werden." Ob sie das so jetzt richtig zitiert hat, fragt die Franziskanerin in die Runde. Ihre Mitschwestern schauen erstaunt. "Mittlerweile weiß ich nur noch die Hälfte", gibt Philothea zu. Was sie sich vom Herrgott wünscht, will Schwester Mirjam zum Abschluss wissen. Philothea überlegt ein bisschen, bis sie antwortet: "Vom Herrgott? Gar nichts. Der kann mich bloß beschenken." Dann winkt sie mit den Händen. "Jetzt haben sie aber genug gefragt."
Die beiden Schwestern schieben den Rollstuhl mit der 100-Jährigen in die Kapelle nebenan und bleiben vor einer Statue der Muttergottes stehen. "Da bist du oft zum Beten", erklärt ihr Schwester Mirjam. Wie auf ein Zeichen hin faltet Philothea die Hände und sagt laut: "Dass alle Menschen das Gute suchen und nix Böses tun". Sie schließt die Augen: "Mutter Gottes, du gütige Mutter, hilf den Menschen, die sich schwer tun. Alle hungern doch nach Liebe." Vor der Kapelle wartet eine Besuchergruppe. Stolz stellt der Begleiter ihnen die 100-jährige Ordensfrau vor. Die zieht sich ihre blaue Decke über die Knie und fragt: "Und jetzt gehen wir zum Essen, gell?" Die Gruppe bildet eine Gasse, durch die die Schwestern die zufriedene Jubilarin schieben. Diese wünscht "ein gutes Heimkommen" und zum Schluss: "Bleiben Sie gesund und brav".
Schwester Philothea Kopp (100) ist am 4. Juli 2024 im Kloster Reute verstorben.